Unser Standort auf der Sternenbühne
Gut, dass es sie allen Rechenschiebern zum Trotz immer noch gibt und geben wird: die Herzensbücher von Verlegerinnen und Verlegern, findet Alf Mayer, der sich ein solches Projekt näher angesehen hat, nämlich James Lovelocks „Die Erde und ich“. Benedikt Taschens älteste Tochter Marlene ist dessen Schutzpatronin.
Ein altmodisches Wort, gewiss. So wie auch die Schutzinstinkte, die Marlene Taschen als junge Mutter empfand, ihrem Kind ebenso gegenüber wie der Welt, mitartikuliert damals in der Lektüre eines Buches von James Lovelock: „Gaias Rache“. In ihrem Vorwort zu „Die Erde und ich“ schreibt Marlene Taschen dazu: „Mir wurde eindringlich bewusst, wie zerbrechlich unser Leben ist … welche Verantwortung wir alle dafür tragen, den nächsten Generationen einen bewohnbaren Planeten zu hinterlassen.“
James Lovelock also hatte bei ihr etwas gut. Entstanden ist daraus ein kompaktes, sehr lesbares und angenehm anschaulich illustriertes Buch, das nichts weniger unternimmt, als die Komplexität der Welt und unseres Daseins auf so verständliche Weise wie nur möglich darzustellen. „Die Erde und ich“ ist so etwas wie Lovelocks Vermächtnis geworden, das Ergebnis eines lebenslangen Bemühens, unsere Welt zu verstehen. Der Chemiker, Mediziner, Biophysiker und Erfinder befindet sich in seinem 97. Lebensjahr. Für das Buch hat er sich zwölf renommierte Wissenschaftler und Autoren zur Seite geholt, illustriert wurde das Werk von Jack Hudson, der auch für die „New York Times“, den „Guardian“, für „Google Chrome“ und „Transport for London“ arbeitet und Makro- und Mikroebenen sinnfällig darzustellen weiß. Die Anmutung des Buches mit seinen schönen, frischen Zeichnungen und Klapptafeln hat mir Erinnerungen an die faszinierenden Kosmos-Naturbücher meiner Jugend zurückgebracht.
Zwei Zeitbomben: Bevölkerung und Konsum
Das Buch ist wissenschaftlich anspruchsvoll und auf der Höhe der Zeit, dabei weithin so klar und nachvollziehbar geschrieben, wie man sich immer gewünscht hat, dass doch bitte die Bücher in Schule und Studium das sein sollten. Immer wieder freute ich mich bei der Lektüre darauf, diese und jene Frage – etwa die Passagen über die Entwicklung und das Aussterben der Dinosaurier, aber auch viele andere Themen – mit meinem wissbegierigen zwölfjährigen Patenkind zu erörtern. Ich habe mich vergewissert: Dieses wegweisende Buch zur wissenschaftlichen Bildung ist auch für wissbegierige Kinder und für den Unterricht geeignet – und für alle, die mehr über die Zusammenhänge unseres Planeten wissen wollen.
Lisa Randall, eine führende Expertin für Teilchenphysik und Kosmologie, schreibt zum Beispiel über die „Maßstäbe der Realität. Drinnen im Atom, draußen im Weltall“. Edward O. Wilson, der als „Vater der Biodiversität“ gilt und ausgehend von seinen Kenntnissen über kleinere Lebewesen die komplizierten verknüpften Systeme der Natur erforscht hat, erklärt „Das Geflecht des Lebens auf der Erde“. Die britische Wetterexepertin Vicki Pope beschäftigt sich mit unserem Klima und seinem Wandel, Oliver Morton steigt in die „Gesellschaft der Zellen“ und die Molekularbiologie. Fred Pearce sieht „Zwei Zeitbomben: Bevölkerung und Konsum“, Tomás Sedlácek die „Antriebsfeder Gier“.
Der Gehirnforscher Eric Kandel, der im Jahr 2000 den Nobelpreis für die Erforschung der molekularen und zellulären Grundlagen von Lernen und Gedächtnis erhielt, schreibt in „Ein denkendes Tier“ darüber, wo Handlungen und Entscheidungen beginnen. Der britische Philosoph John Gray sieht die Aufklärung als Feind der Erde, als eine letztlich gegen die Erde gerichtete, menschenzentrierte Weltanschauung, geht mit Kapitalismus wie auch dem Marxismus hart ins Gericht, plädiert für einen „nachhaltigen Rückzug“ des Menschen aus dessen Einmischungen in die Geschicke des Planeten. Seine Haltung ist die radikalste in dem Buch: „An die Stelle der Menschen tritt vielleicht ein besseres Evolutionsexperiment … Das Leben geht weiter – in welcher Form auch immer.“
Die Zukunft unseres Planeten, zieht der königliche britische Astronom im Kapitel „Ein blasser blauer Punkt. Unser Standort auf der Sternenbühne“ ein Fazit, „bemisst sich nach Jahrmilliarden, sein Schicksal aber hängt davon ab, was wir gemeinsam in den nächsten 100 Jahren unternehmen.“
Alf Mayer
James Lovelock et al: Die Erde und ich (The Earth and I). Illustriert von Jack Hudson, mit Beiträgen von Martin Rees, Lisa Randall, Lee Kump, Tim Radford, Vicky Pope, Edward O. Wilson, Oliver Morton, Eric Kandel, John Gray, Fred Pearce, Brian Appleyard, Tomás Sedlácek. Verlag Taschen, Köln 2016. Hardcover, mit Drehscheibe und Ausklappseiten, Format 21 x 27,4 cm, 168 Seiten, durchgängig illustriert, 29,99 Euro. Verlagsinformationen.
PS. Die „Gaia-Hypothese“ wurde Mitte der 1960er Jahre von der Mikrobiologin Lynn Margulis und von James Lovelock entwickelt. Sie begriffen und definierten die Erde und ihre Biosphäre (die Gesamtheit aller Organismen) wie ein Lebewesen, weil sie Bedingungen schafft und erhält, die nicht nur Leben, sondern auch eine Evolution komplexerer Organismen ermöglichen. Die Erdoberfläche begriffen sie demnach als ein dynamisches System, das auf menschliche Einflüsse reagiert und sie zu stabilisieren sucht, soweit das nur möglich ist. Diese Hypothese setzt eine bestimmte Definition von Leben voraus, wonach Lebewesen über die Fähigkeit zur Selbstorganisation verfügen. Lovelock entwickelte daraus eine „Systemwissenschaft der Erde“. Sein Standardwerk „Das Gaia-Prinzip. Die Biographie unseres Planeten“ erschien 1991 (GB 1988), 1992 folgte „Gaia: Die Erde ist ein Lebewesen. Was wir heute über Anatomie und Physiologie des Organismus Erde wissen und wie wir ihn vor der Gefährdung durch den Menschen bewahren können“, 2007 dann „Gaias Rache: Warum die Erde sich wehrt“.
Der Name leitet sich von Gaia ab, der „Großen Mutter“ der griechischen Mythologie. Auf Vorwürfe, dass seine Theorien allzu gefühlig aufgefasst werden könnten, antwortete er: „Wenn ich von einem lebendigen Planeten spreche, soll das keinen animistischen Beiklang haben; ich denke nicht an eine empfindungsfähige Erde oder an Steine, die sich nach eigenem Willen und eigener Zielsetzung bewegen. Ich denke mir alles, was die Erde tun mag, etwa die Klimasteuerung, als automatisch, nicht als Willensakt; vor allem denke ich mir nichts davon als außerhalb der strengen Grenzen der Naturwissenschaften ablaufend. Ich achte die Haltung derer, die Trost in der Kirche finden und ihre Gebete sprechen, zugleich aber einräumen, dass die Logik allein keine überzeugenden Gründe für den Glauben an Gott liefert. In gleicher Weise achte ich die Haltung jener, die Trost in der Natur finden und ihre Gebete vielleicht zu Gaia sprechen möchten.“