Referenzbauwerke
— Architektur, das ist das Blühen der Geometrie, meinte der amerikanische Philosoph Ralph Waldo Emerson. Seit dem Jahr 2001 wird die ganze Vielfalt dieser sehr besonderen Blütenwelt von einem Pflanzenführer begleitet, dessen Titel Bestandsaufnahme, Aufforderung und Programm zugleich ist: „Architecture Now!“ Her mit der guten, beispielhaften und avancierten Architektur! Von Alf Mayer
Gerade nun ist Band Zehn dieser außergewöhnlichen Reihe erschienen. Zehn Bände, zehn Mal Bestandsaufnahme der modernen Architektur. Pflanzenführer eben, in Sachen Architektur. (Einem Botanikbuch würde man niemals Nachlässigkeit unterstellen, deshalb bewusst dieser Vergleich.) Architekturbücher können ein Vermögen kosten, beim Verlag Benedikt Taschen tun sie das nicht. Vorzug also Nummer eins. Ebenso gewichtig: die autorenschaftliche Kontinuität, größtmögliche Sachkunde ohne Abdriften ins schwärmerische Walhalla. „Architecture Now!“ wird seit Band 1 von Philip Jodidio verantwortet, einem der weltweit besten und bekanntesten Autoren zum Thema Architektur. Die Bandbreite seiner Veröffentlichungen ist beeindruckend – alleine bei Taschen füllen seine Bücher eine Galerie.
Auch für Laien absolut verständlich
Zu Jodidios Werken zählen Monografien über Zaha Hadid, Norman Foster, Richard Meier, Jean Nouvel, Alvaro Siza oder Tadao Ando, Bestandsaufnahmen des Bauens mit Holz, mit Beton, Baumhäuser, Cabins, Kleine Bauten, Einkaufsarchitektur, Grüne Architektur (bereits zwei Bände) – und immer wieder all deren Verzahnung mit Kunst und Kultur. Jodidio (Jahrgang 1954), längst zum Ehrenritter der französischen Ehrenlegion geschlagen, hat Kunstgeschichte und Wirtschaftswissenschaft studiert, war mehr als 20 Jahre lang Chefredakteur der französischen Kunstzeitschrift Connaissance des Arts. Außer Fachkenntnis besitzt er auch Geschmack, beherrscht zudem die Kunst der Vermittlung. Seine Architekturbücher kann man als Laie lesen, verstehen und genießen, zugleich werden Experten nicht unterfordert. Man braucht kein Architekturstudium, um aus seinen Büchern Gewinn zu ziehen.
„Architektur entsteht heute nach ökonomischen, konstruktiven und funktionellen Gesetzmäßigkeiten. Wir stehen im harten Kampf mit der Wirklichkeit. Und wenn dann noch etwas Ähnliches dazukommt wie das, was man mit dem Attribut Kunst bezeichnet, dann kann man in seinem Leben von einem unwahrscheinlichen Glück sprechen“, sprach einst der als Zweckbauten-Papst bekannt gewordene große Architekt Egon Eiermann (1904 bis 1970).
Architektur heute ist längst eines der lebendigsten, ja aufregendsten Felder der zeitgenössischen Kultur geworden. Stärker als Bildende Kunst, Musik, Literatur, Film oder Theater ragt sie unübersehbar in den Alltag, ins Stadt- und Landschaftsbild, in die Berufswelt oder gibt den anderen Künsten moderne Gehäuse. Vom Gestus her ist sie die Kunst, die den Geist einer Epoche am Deutlichsten ausdrückt, ihm Gestalt und Form gibt.
Über 70 aufregende Projekte
Wenn man sehen will, auf welchem ästhetischen Stand das Bauen in der modernen Welt sich befindet, wie weit über die Welt gestreut das architektonische Talent heute ist – welche Zeigequalität avancierte Architektur heute hat – dann gibt es kaum ein besseres Kompendium als die Bände von „Architecture Now!“; Band 10 ist – der Internationalität und wohl auch dem etwas überschaubaren deutschen Markt geschuldet – auf Englisch erschienen. (In Wirklichkeit sind es sogar mindestens sechs Sprachen, in denen die Reihe erscheint, nur ist eben jetzt dieses Mal Deutsch nicht mehr dabei.)
Band 10 stellt über 70 aufregende aktuelle Architekturprojekte vor, kommt in einem kompakten neuen Format, ist thematisch gegliedert. Das Kompendium erschließt sich über ein so genanntes Daumenregister, das dem Buch einen ungemein handlichen Zugriff gibt und zu Kapiteln über Wohnhäuser, Bürobauten, öffentliches Bauen und Bauten für Kultur und Religion, Bildung, Forschung und Freizeit führt.
Auf knapp 500 Seiten blättert und fächert sich hier auf, was die heutige Architektur an Bemerkenswertem, an Innovation und Eklektizismus vorzuweisen hat. Nicht nur Stararchitekten wie Frank O. Gehry mit seiner glanzvollen Fondation Louis Vuitton in Paris, Zaha Hadid mit ihrem geschwungenen Heydar Aliyev Center in Baku oder Renzo Pianos Kimbell Art Museum Expansion in Fort Worth werden vorgestellt, ihnen gleichwertig haben auch Talente wie Sou Fujimoto (Japan) mit seiner gläsernen „Public Toilet“ oder das junge chilenische Team Pezo von Ellrichshausen mit dem Solo House in Cretas, Spanien, ihren Auftritt. In die meisten der Wohnhäuser würde man am liebsten sofort einziehen, etwa in das Künstlerhaus für Ugo Rondinone im Schweizerischen Würenlos (von Andreas Fuhrimann und Gabrielle Hächler), die Casa Ventura von Tatjana Bilbao in Monterrey, Mexiko, oder das Hamaca House von Javier Carvalán in Luque, Paraguay.
… bis hin zur antarktischen Forschungsstation
Zur Liga der exzeptionellen Forschungsbauten gehören zum Beispiel das Zell- und Genetikzentrum von Héctor Fernández Elorza in Madrid, das Musil- und Tanzkonservatorium von Kengo Kuma in Aux-en-Provence oder die auch einem Laien Lust auf den Polarwinter machende britische Halley VI Antartic Research Station von Hugh Broughton auf Breitengrad 75°35’0″S, Längengrad 26°39’36″W.
Für die neue Bibliothek von Mecanoo lohnte sich eine Fahrt nach Birmingham, für das Aquarium „The Blue Planet“ von 3XN nach Kastrup, Dänemark. Gerne wäre man alleine wegen der Gästehausanlage „Tiles Hill“ (von Wung Sha) eingeladen an die China Academy of Art in Hangzhou. Näher noch liegt Augsburg, wo John Pawson, der 2004 bis 2009 das tschechische Trappistenkloster Nový Dvur phänomenal renovierte und dessen Buch „Minimum“ über schlicht mehr als „nur“ Architektur geht, nun das Innere der 1000 Jahre alten St. Moritz-Kirche in Augsburg neu gestaltet hat.
Hinzu kommen ein informatives, ausführliches Vorwort, ein vernünftiges Register und ein lexikalisches Verzeichnis, das von 3 XN in Kopenhagen bis Wang Shu im chinesischen Hangzhou wichtige und interessante Architekten porträtiert, mit je einem Überblick über laufende und jüngste Projekte, Kontaktdaten und Websites. Wenn Sie immer schon eineE-Mail an Zaha Hadid oder Frank Gehry schreiben wollten, hier finden Sie die Kontaktadressen.
Besonders beeindruckt hat mich in „Architecture Now! Vol. 10″ die Makako Floating School in Lagos, Nigeria (S. 431 f.), der Prototyp einer schwimmenden Lehranstalt für rund 100 Grundschulkinder, über Wasser gehalten von 250 Plastikfässern, mit Spielplatz und Regenwassersammler. Entworfen wurde die traumschöne, hochvariable Holzkonstruktion vom Nigerianer Kunlè Adeyemi, der bei Ram Koolhaas in Rotterdam lernte und sich anstelle einer Karriere in Europa für eine moderne und ökologische Weiterentwicklung der Wasserbaukultur seiner Heimat entschieden hat. Lagos ist mit 21 Millionen Einwohnern die größte Stadt des afrikanischen Kontinents.
Architektur hat mit unserer Gegenwart und gehörig auch mit unserer Zukunft zu tun. Darauf stößt man in diesem Band immer wieder. Es ist eine Reise, die Lust auf die Welt macht – und Hoffnung.
Alf Mayer
Philip Jodidio: Architecture Now!. Vol. 10. Hardcover mit Daumenregister. Ausgabe: Englisch. Taschen Verlag 2015. 496 Seiten, viele Abbildungen. 29,99 Euro.
Verlagsinformationen zum Buch und zur Arbeit des Autors hier und hier.