Könige, Präsidenten, Militärs, Politiker, Waffenschieber, Drogendealer, Terroristen: Ein Kompendium zu Verbrechern des 20. Jahrhundert
„Gesichter des Bösen“ heißt das Lexikon, das in 168 Porträts die Greueltaten von König Leopold II., Pinochet, Stalin, Hitler, Himmler, Hindenburg, Eichmann, Osama bin Laden, Slobodan Milosevic, Robert Mugabe, US-Präsident McKinley, Mohammed Atta und vielen anderen erfasst. Wie bringt man diese Verbrechen von so unterschiedlichen Figuren auf einen Nenner? Von Peter Münder.
Beim ersten Durchblättern des Namensregisters überwiegt die Skepsis: Gehört ein Mann wie der ehemalige US-Präsident William McKinley (1843-1901, Präsident von 1897-1901) überhaupt in diese Verbrecher-Datei ? War er nicht eher eine harmlose graue Maus? Dann zeigt sich schnell, dass die von den beiden Autoren Till Zimmermann (Jurist) und Nikolas Dörr (Politologe und Konfliktforscher) präsentierten erschreckenden Fakten die Aktionen eines grausamen Folterers und KZ-Erbauers umschreiben, der im Krieg gegen die Philippinen eine Taktik der verbrannten Erde anwendete, Kinder erschießen und in KZs Zivilisten verhungern ließ. Für die Kriegführung seiner Generäle mit ca. einer Million Todesopfern war der penibel informierte McKinley voll verantwortlich. Vergleiche zur jüngeren Geschichte, zum Vietnamkrieg, in dem die USA Napalmbomben und Agent Orange einsetzten oder zum Irak-und Afghanistan-Einsatz, drängen sich auf: Der hier vermittelte Blick zurück – auch auf einige fast unbekannte – historische Ereignisse schärft den Blick und hat einen aufklärerischen Effekt. Begeisternd und mustergültig ist der editorische Umgang mit dem historischen Material: Ausführliche Sach-, Orts- und Personenregister, Literaturhinweise und Illustrationen zu jedem Eintrag sind extrem informativ und eindringlich. Ohne Frage ist dies eins der wichtigsten Sachbücher der jüngsten Zeit.
Beiträge über George W. Bush (wegen des vorgeschobenen Kriegsgrunds angeblicher Giftgaslabore im Irak, praktizierter Folter in Guantanamo und ca.100.000 Toten im 3. Golfkrieg), Nixon und LB Johnson (Intensivierung von Flächenbombardements in Vietnam, Einsatz von Napalm und Agent Orange, Geheimoperation Phoenix zur gezielten Tötung Zehntausender verdächtiger Vietnamesen) zeigen auch, dass die begangenen Kriegsverbrechen keineswegs Relikte einer längst vergangenen Epoche sind. Wenn der Nixon-Eintrag hier als Fußnoten-Ergänzung zu den Verbrechen des chilenischen Diktators Pinochet fungiert, fragt man sich aber auch, weshalb ein vollständiger Eintrag zu Henry Kissinger fehlt: Hat Christopher Hitchens nicht schon 2001 ein ausführliches Plädoyer für ein Kriegsverbrecher-Tribunal gegen den quirligen Vortragsredner mit den markanten Dollarzeichen in den Augen gehalten und einen überzeugenden Band („The Trial of Henry Kissinger“, Verso) veröffentlicht? War Kissinger nicht bestens informiert über US-Kriegsverbrechen in Vietnam und neben seinen intensiv betriebenen Ausweitungen der Kampfzonen nach Kambodscha und Laos nicht auch an Vorbereitungen diverser südamerikanischer Putschversuche, Folterungen usw. beteiligt? Während einer geheimen Besprechung im Weißen Haus konstatierte er 1970: „Ich sehe nicht ein, weshalb wir tatenlos zusehen sollen, wie ein Land wegen der Verantwortungslosigkeit seiner eigenen Bürger kommunistisch wird. Die Probleme sind viel zu wichtig, als dass die chilenischen Wähler allein darüber entscheiden dürfen“. (hier im Band zitiert zum Pinochet-Eintrag).
Eine „Smoking Gun“ mit detaillierten Schuld-Indizien könne aber niemand liefern, betonen die wie im Akkord schreibenden Kissinger-Biographen immer wieder (zuletzt Niall Ferguson: Kisssinger 1923-1968, Ullstein 2016), doch nach der Festnahme des chilenischen Diktators Pinochet und nach der Verurteilung des peruanischen Präsidenten Fujimori (wegen des Einsatzes von Todesschwadronen, Waffenhandel, Korruption, Verbrechen gegen Menschlichkeit) aufgrund dieses „Pinochet“-Effekts, der auf der Hartnäckigkeit des liberaldemokratischen ermittelnden spanischen Staatsanwalts Baltasar Garzon Real beruht, besteht vielleicht noch Hoffnung, dass auch der ehemalige Nixon-Berater Kissinger vor ein Kriegsgericht gebracht wird.
Ob die ethisch-moralische Kategorie des „Bösen“ allerdings auch politische Dimensionen damals gängiger „Realpolitik“ erfassen kann, wäre zu diskutieren. Wenn Kant in seiner Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) diesen moralischen Aspekt anspricht, bezieht er sich auch auf ein Dilemma: „Der Satz: Der Mensch ist böse, kann … nichts anderes sagen wollen, als: er ist sich des moralischen Gesetzes bewusst und hat doch die (gelegenheitliche) Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen“. Im Klartext bedeutet dies: Die bewusste Entscheidung für moralisch verwerfliches Handeln kennzeichnet das Böse.
Neben all den hier aufgelisteten und in Kurzbiographien beschriebenen afrikanischen und asiatischen Militärdiktatoren, Kriegsverbrechern und wegen Völkermords Verurteilten ist hier auch das für den Völkermord an den Armeniern verantwortliche Triumvirat Mehmet Talat „Pascha“, Ismail Enver „Pascha“ und Ahmet Cemal aufgeführt: Sie waren im Osmanischen Reich für die systematische Ausrottung der armenischen Minderheit und für den Tod von bis zu 1,5 Millionen Menschen verantwortlich. Laut Zimmermann/Dörr wurde die Thematisierung dieses Armenier-Genozids noch bis 2008 wegen „Beleidigung des Türkentums“ mit Gefängnis bestraft und wird bis heute noch von Ministerpräsident Erdogan geleugnet und verfolgt.
Während der deutschen Kolonialzeit wurde der Herero-Aufstand in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) besonders brutal niedergeschlagen: Der deutsche Kommandant der Kaiserlichen Schutztruppe, Adrian Dietrich Lothar von Trotha (1848-1920), wurde im Mai 1904 von Kaiser Wilhelm II. zum Gouverneur ernannt und war verantwortlich für die mit extremer Härte durchgeführte Niederschlagung dieses Aufstands gegen die deutsche Kolonialherrschaft: Nach der Niederlage in der Schlacht am Waterberg wurden die Herero von Wasserstellen vertrieben und in Konzentrationslagern interniert, was nur jeder zweite Insasse überlebte. Insgesamt kamen aufgrund dieser Praxis ca. 50 000 Herero ums Leben.
Banalität des Bösen?
Hannah Arendt initiierte anlässlich des Jerusalemer Eichmann-Prozesses 1961 und dann in ihrem veröffentlichten Bericht „Eichmann in Jerusalem“ eine Debatte über die „Banalität des Bösen“. Der ehemalige Handelsvertreter Eichmann organisierte die Deportation der Juden in Ghettos und KZs, er war im Referat IVD4 des Reichssicherheitshauptamts unter der Leitung von Reinhard Heydrich und dann auch unter Gestapo-Chef Müller tätig. Eichmann gerierte sich beim Jerusalemer Prozeß als unschuldiger Befehlsempfänger, was die Prozeßbeobachterin Hannah Ahrendt extrem verstörte und überraschte: War dieser technokratische Verwaltungsmassenmörder, der für den Tod von ca. sechs Millionen Juden verantwortlich war, tatsächlich so eine imbezile Kreatur, so ein ahnungsloses, harmloses Rädchen im großen Vernichtungsgetriebe? Andererseits wollte sie in ihrem Buch auch den Eindruck korrigieren, dass hinter dem Ultra-Bösen immer etwas Dämonisches stecken müsste: „Eichmann war nicht Iago und nicht MacBeth, und nichts hätte ihm ferner gelegen, als mit Richard III. zu beschließen, „ein Bösewicht zu werden“. Sie mußte erkennen, dass es sich bei Eichmann um eine völlig neuartige Erscheinung des Bösen handelt, „vor der das Wort versagt und das Denken scheitert“. Da dies auch auf die hier beschriebenen „Gesichter des Bösen“ zutrifft und Adolf Eichmann als Inkarnation des Bösen schlechthin gilt, muss Arendts Reflexion über das versagende Wort und das scheiternde Denken in diesem Kontext natürlich auch berücksichtigt werden.
Wie Heribert Prantl in seinem Geleitwort feststellt, mögen die Biographien von Kriegsverbrechern und wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Verurteilten auf den Leser deprimierend wirken – andererseits sind die gleichzeitig gelieferten Hinweise auf den „Pinochet-Effekt“ nebst der Verurteilung von Fujimori u.a., sowie auf mutige Juristen wie den für die großen NS-Verfahren zuständigen Staatsanwalt Fritz Bauer auch ermutigend: Als Repräsentant der „Gesichter des Guten“ setzte Bauer trotz aller skeptischen Zweifel auf das Prinzip Hoffnung: „Selbst wenn die Hoffnung tatsächlich eine Lebenslüge ist – ohne sie wäre die Unmenschlichkeit der Welt ja nicht zu überwinden“.
Till Zimmermann, Nikolas Dörr: Gesichter des Bösen. Verbrechen und Verbrecher des 20. Jahrhunderts. Mit einem Geleitwort von Heribert Prantl. Donat Verlag, Bremen 2015. 288 S., illustr., 19,80 Euro