Milch und Blut
Silke Andrea Schuemmers Roman „Remas Haus“ hat nach acht Jahren endlich einen Verlag gefunden – zu Recht. Der Roman überzeugt mit seiner elementaren sprachlichen Kraft und Schönheit und zieht den Leser in ein sinnliches Reich des Phantastischen.
Selten fiel mir die Wahl der besten Neuerscheinung so leicht wie im vergangenen Jahr. Und das heißt nicht etwa, dass das literarische Jahr 2004 nichts zu bieten gehabt hätte – Georg Klein ließ uns die Sonne scheinen und Marcus Jensen setzte wortgewaltig Deutschlands einziger Hochseeinsel ein literarisches Denkmal. Die wahre Entdeckung des Jahres ist jedoch nicht in einem der großen Publikumsverlage zu finden, streng genommen noch nicht einmal in einer Hardcover-Ausgabe. Kookbooks nennt sich der noch recht junge Verlag (gegründet 2003) von Daniela Seel, der mit einem ambitionierten Programm einen sehr erfolgreichen Start auf dem Markt geschafft hat. Liebevoll gestaltete Broschuren mit Schmuckblättern auf Transparentpapier prägen das Erscheinungsbild, das sich von so manch anderem Kleinverlag erfreulich abhebt. Vor allem aber beschränkt sich der sorgfältige Umgang mit Literatur nicht nur auf die Gestaltung, sondern vor allem auf den Inhalt der Bücher – und so verwundert es letztlich nicht, dass der vielleicht virtuoseste und poetischste, zugleich sperrigste und verstörendste deutschsprachige Roman der letzten Jahre nach einer über achtjährigen Irrfahrt über die Lektoratstische hier endlich eine Heimat gefunden hat.
Literarisches Kleinod, kein Quickie
1996 erhielt Silke Andrea Schuemmer den foglio-Preis für junge Literatur. Die Jury war von der Sprachmacht und Bildkraft des eingereichten Textes überzeugt. Die gleichnishafte Geschichte eines namenlosen Ich-Erzählers, der der Stadt entflieht und auf ein geheimnisvolles Zwillingspaar trifft, beschwört die zerstörerische Macht von Sprache in surrealen Bildern: Das Geschwisterpaar führt ein harmonisches, wortloses Leben im Einklang mit sich und der Natur. Erst als der Erzähler versucht, ihnen mit Hilfe von Kohlezeichen Buchstaben und Worte beizubringen, dringen Angst und Unverständnis in die Harmonie, naht die unausweichliche Katastrophe. Bei dem preisgekrönten Text handelt es sich um eine Passage aus dem Roman Remas Haus – doch trotz der Preisauszeichnung (und trotz weiterer Literaturpreise, vor allem für die Lyrik Schuemmers) dauerte es acht Jahre, bis endlich eine Verlegerin es wagte, entgegen schnelllebiger Trends diesen Roman ins Programm aufzunehmen. Mit Sicherheit wird der Verkaufserfolg von Remas Haus keine ungeahnten Höhen erreichen, und wer schnelle Unterhaltung, den literarischen Quickie sucht, sollte besser die Hände von diesem Kleinod lassen – doch wer Literatur und den Klang von Sprache liebt, wird diesen Roman zwangsläufig ins Herz schließen.
Bizarre Enthüllungen
Wie ein Fiebertraum überwältigt die elementare Kraft von Schuemmers Sprache den Leser, reißt ihn in einen Strudel des Phantastischen. Der Ich-Erzähler hat sich im oberen Stockwerk eines Hauses eingenistet, die unteren verlassenen Etagen in Brand gesetzt, bis nur noch eine halb verrottete, halb verbrannte Treppe zu seinem Zimmer führt. Ihn selbst trägt diese Treppe nicht mehr, verlassen will er das Zimmer nicht. Einzig das Fenster ist ihm wichtig, ein Fenster, das ihm den Blick gewährt auf Remas Haus. In Briefen an einen unbekannten Adressaten, mit deren Übermittlung er ausgehungerte – im doppelten Wortsinn leichte – Mädchen betraut, erzählt er von seiner zwanghaften Liebe zu Rema. Seine eigene Lebensgeschichte enthüllt er dabei in bizarren Puzzlestücken. Da sind die Episoden seiner Lehrzeit bei einer heiligen Korbflechterin, deren vollkommenste Körbe keinerlei praktischen Sinn mehr erfüllen. Da ist die Geschichte seiner Mutter, die mit geschriebenen Worten Schmerzen und Wunden zu heilen vermochte. Da ist selbstverständlich auch die Episode mit dem sprach-losen Zwillingspaar. Und da ist immer wieder Rema, das Ziel seines ungezügelten Verlangens.
Sinnliche Bildkraft
In kursiven Einschüben wird eine andere Perspektive eingenommen. Hier hat ein Dichter Remas Haus erreicht, das aus Herrenhaus, Gesindehaus und Milchküche besteht. Dieser Dichter, von dem man annehmen kann, dass er mit dem Erzähler identisch ist, versucht, in Remas Nähe zu gelangen, scheitert jedoch am Milchkoch. Insbesondere die Atmosphäre, die Schuemmer in den Passagen innerhalb von Remas Haus beschwört, quellen über von einer dampfenden, von Milch und Schweiß vollgesogenen Sinnlichkeit. Bilder von nahezu rauschhaft aufgeladener unterschwelliger Erotik (ohne dass explizit von Sexualität die Rede wäre) kippen unvermittelt in morbide Metaphern des Verfalls oder brechen sich gar in schockierender Gewalt Bahn.
Die manische Fixierung des Erzählers auf Rema ist durchzogen von unkontrollierbaren Gewaltphantasien. Die Erfüllung seiner Liebe sieht er darin, seinem geliebten Engel den dritten Flügel aus dem Kreuz zu reißen. Flügel, das ist eines der Hauptmotive dieses Romans, neben Milch und neben der Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes. Worte können heilen und zerstören, können Brücken bilden und einreißen. Remas Haus wird dabei zu einem Gleichnis über die Sprache und das Schreiben selbst: „Sie wegen dieses dritten Flügels zu töten, wird sein, wie ein Buch zu schreiben. Und ihr den Rücken zu spalten, wird sich anhören wie das knackende Geräusch, mit dem man einen Leineneinband bricht. Denn ein Buch ist das Öhr einer unsagbar spitzen Nadel, wenn man es schreibt, fädelt man die Welt hinein, formt sie mit den Lippen zu einem Strang, zieht sie hindurch, und auf der anderen Seite ist es genau die gleiche Welt, nur zwischen zwei Buchdeckeln ist sie etwas anderes, und dafür lohnt es sich schon.“
Der perfekte Soundtrack zu Remas Haus käme von Nick Cave: Das Grauen und der Wahnsinn verstecken sich in den verführerischsten Melodien, lullen den Leser ein, bis sich die Besessenheit in orgiastischen Kakophonien entlädt. Jeder einzelne Satz, jedes wohl gesetzte Wort schreien geradezu danach, laut über die Zunge zu gleiten, so klangvoll und lyrisch ist Schuemmers Prosa. Der Roman gleicht in diesem vollkommenen Klang den Korbflechtereien der Heiligen. So wie diese sich sträuben, die Funktion eines Korbes zu übernehmen, sperrt sich Remas Haus dem Zugriff des rationalen Lesers – doch die überirdische Schönheit der Sprache lässt nüchterne Interpretationsversuche vergessen.
So hätte Kafka geschrieben, wenn er nicht Versicherungsangestellter gewesen wäre.
Frank Schorneck
Silke Andrea Schuemmer: Remas Haus. Kookbooks 2004. Kartoniert. 162 Seiten. 17,90 Euro. ISBN 3-937445-10-2