Lenin, Gorki und ich
– Die große Gelassenheit des „grand old man“ Stanley Moss ist in jedem seiner „Gedichte“ spürbar – sie sind, in der Übersetzung von Hans Magnus Enzensberger, ein wunderbares literarisches Geschenk. Von Carl Wilhelm Macke
Zum Ende des Jahres hin, vornehmlich vor den Weihnachtstagen, werden jetzt wieder die üblichen Fragen an alle (noch) Bücher lesenden Menschen gestellt: Was war für Sie das Buch des Jahres, was war Ihre größte literarische Entdeckung, was war die wichtigste neue Stimme auf dem Literaturmarkt usw. usw. Obwohl man einige Vorbehalte gegen diese Art des bibliophilen Rankings hat, beteiligt man sich dann doch an den Umfragen. Wenn es denn der Verbreitung des guten, schönen und intelligenten Buches dient … Also: Mein Buch des Jahres 2010 ist der Band 17 der (nicht genug zu lobenden) Edition des Münchner Lyrik Kabinetts. Auf dem Einband ist ein Detail eines Gemäldes von Antonio da Crevalcore abgebildet. Und unter diesem kleinformatigen Titelbild steht in denkbar schlichter Form der Name des Autors und was er dem Leser zu bieten hat. Wer das Buch übersetzt hat und wo es erschienen ist. Allein diese nüchterne Präsentation des Buches hat schon einen Preis verdient in einer Zeit, in der Buchtitel immer mehr zu schrillen oder kitschigen Waschmittelwerbungen verkommen.
Der Autor heißt Stanley Moss. Der Buchtitel schlicht und ergreifend „Gedichte“ und als deutscher Übersetzer ist Hans Magnus Enzensberger angezeigt. Es handelt sich bei Moss und Enzensberger um zwei ältere Herren, beide bereits souverän im achten Jahrzehnt ihres Lebens stehend. Aber was die beiden „Oldies“ da literarisch „aufs Parkett legen“ lässt viele um Jahrzehnte jüngere Autoren alt und schlaff aussehen.
Weltoffener Ostküstenintellektueller
Stanley Moss gehört zu jenen amerikanischen Ostküstenintellektuellen, die wir immer vergessen haben, wenn während der Bush-Ära auf die Amis geschimpft wurde. Von ihrer Gelassenheit und ihrem liberalen politischen Selbstbewusstsein kann man nur lernen. Studiert an den besten Universitäten im Umkreis von New York hat Moss viele Jahre seines Lebens als Literaturagent, in späteren Jahren als Galerist verbracht. Und immer hat er auch Gedichte geschrieben, von deren Existenz wir erst jetzt durch die Übersetzungen seines Freundes Hans Magnus Enzensberger erfahren haben. In dem (von Raoul Schrott übersetzten) autobiografischen „Tagebuch eines Satyrs“, das dem Gedichtband als Nachwort beigegeben ist, erfahren wir mehr aus dem Leben eines alten Mannes, der von den Göttern mit beneidenswert viel Glück und Liebe zum Hedonismus beschenkt wurde. „Ich verbrachte Jahre in Rom, glücklich damit, zu essen, was die Götter übrig ließen, lesend und schreibend, mir mein Geld verdienend, indem ich vier verschiedenen Jobs gleichzeitig nachzugehen versuchte. Mehr als einmal, betrunken vom Frascati, badete ich in Berninis Brunnen der vier Ströme …“
Und von diesem Leben eines urbanen, weltoffenen, allem Schönen – nicht zu vergessen vielen Frauen – zugeneigten Gentleman erzählt Moss auch in seinen Gedichten. Die Welt wollte der Dichter wohl auch einmal verbessern, und zwar richtig und konsequent als Kommunist. Für einen Ostküstenintellektuellen aus besseren Kreisen kommend ist das vielleicht nicht die angemessene politische Orientierung, aber „chic“ ist es allemal. In dem Gedicht „Lenin, Gorki und ich“ beschreibt Moss dann augenzwinkernd, was ihn zum Bruch mit der Weltrevolution bewegte: „Damals habe ich Schluß gemacht mit der Partei./ Gorki hieß eine alte Flamme aus Krakau willkommen./ Lenin schaffte sich weiße Leinenhosen an,/ aber ‚wegen ein bißchen italienischer Marmelade’,/ sagte er, setze er nicht die Revolution aufs Spiel./ Natürlich war ich es, der sich zum Narren machte,/ wie ein Geranientopf hing ich auf der Piazza herum,/ weil ich sie unbedingt anfassen, schmecken,/ riechen mußte, die Frauen von den Inseln am Golf von Neapel.“
Wunderbar lebendig, mit vollen Händen aus dem Leben gegriffen
Aber nicht nur den Frauen, den Farben und Wolken widmet Moss seine Verehrung, sondern auch in einer herrlichen Eloge dem „Rotz“: „Den kleinen Sumpf,/ der in meinem Kopf wächst,/ kann ich nicht vergessen./ Rotz, niedriger Vetter der Träne,/ keines Kummers wert,/ einziges unsrer Sekrete,/ das mit Sex nichts gemein hat./ Keiner von meinen Lieben/ hält viel von ihm und seinen Anstalten:/ von Grippe, Asthma, gemeinem Schnupfen … Es ist etwas Schönes an ihm,/ etwas Vertrautes wie am Gesicht/ eines Freundes, Hunde fressen ihn. Von ihm ist noch keiner reich geworden.“
Wer wissen will, wie wunderbar lebendig, mit vollen Händen aus dem Leben gegriffen, zupackend, manchmal auch schmutzig und „rotzig“ Gedichte sein können, der sollte sich diesen Band von Stanley Moss besorgen. Und da die Edition zweisprachig ist, kann man auch noch lernen, wie Enzensberger, ein Kenner der deutschen Sprache, Gedichte aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übersetzt. Solche Bücher gehören in den Englischunterricht an deutschen Schulen! Ein dickes Lob den zwei „grand old men“ und dem Lyrik Kabinett, die uns dieses wunderbare literarische Geschenk gemacht haben. My book of the year 2010.
Carl Wilhelm Macke
Stanley Moss: Gedichte. Deutsch von Hans Magnus Enzensberger. München: Edition Lyrik Kabinett bei Hanser 2010. 128 Seiten. 14,90 Euro. Foto: Anvil Press Poetry
Stanley Moss in der Poetry Foundation.