Geschrieben am 9. Mai 2009 von für Bücher, Crimemag

Stefan Slupetzky: Lemmings Zorn

Von Ruhekillern und Krachmachern

Wenn es um Babys und Lärm geht, kennt Stefan Slupetzky keinen Spaß. Das kann man ja verstehen. Nicht nur in Wien. Kleinkinder sind ja – akustisch gesehen – gefährlich. JÖörg von Bilavsky leidet mit.

Stefan Slupetzky lebt „in einer beinahe dörflichen Gegend von Wien“. Umgeben von einem „malerisch begrünten Kirchenplatz, verkehrsberuhigt und voller Kaffeehäuser, Bars und Restaurants“. Geradezu ein Idyll, von dem der Wiener Krimiautor in einem Interview schwärmte. Kennt der ruhebedürftige Schriftsteller also den unerträglichen Krach von Bohrhämmern, Schneefräsen und Stereoanlagen aus eigener Anhörung? Wenn nicht er selbst, so doch sein sympathischer Antiheld. Nicht zufällig wohnt auch der Lemming „in einem Haus am Rande des trauten, von Bäumen umgebenen Kirchenplatzes“, von wo aus er seinen Feldzug gegen Ruhekiller und Krachmacher jeglicher Tonlage antritt. Für das eigene Wohlergehen, das Wohl der Menschheit und zum Wohle seines kleinen, wenige Monate alten Wonneproppens Ben.

Der „lonesome“ Lemming wird nämlich glücklicher Vater. An diesem wahrlich wunderlichen Prozess dürfen wir von der ersten Seite an ausgiebig teilhaben. Unglaublich, wie der Lemming angesichts der bevorstehenden Niederkunft in Panik gerät und tonnenweise Glückshormone ausschüttet, als der Kleine endlich in seinen Armen liegt, Brei ausspuckt oder in die Windeln pullert. Der Lemming der ersten drei Fälle ist im vierten als „Schnullerkombattant“ und „Windeldesperado“ kaum wiederzuerkennen, so blumig nimmt Slupetzky an dessen Gefühlsaufwallungen teil. Vielleicht haben ihn noch die hormonellen Nachwirkungen seiner eigenen Vaterschaft inspiriert. Schließlich hat vor zwei Jahren sein eigener „Burli“ das Licht der Wiener Welt erblickt. Drum sehen wir ihm rührselige Ergüsse wie: „Von der stetigen Entfaltung des zerknitterten Gesichts bis hin zum ersten Lächeln des zahnlosen Mundes bot Ben eine endlose Folge verblüffender Attraktionen“ gerne nach. Zumal es sich hier wohl bei aller Sentimentalität um echte Empfindungen handelt.

Schrei – kreisch

Freilich erfüllt dieses Eitel-Sonnenschein-Präludium auch seinen dramaturgischen Zweck und leitet dann langsam aber sicher vom andante amoroso zum vivace con fuoco. Schließlich muss sich „Lemmings Zorn“ vor der zunächst fröhlichen Folie so richtig entfalten können. Zunächst sind es ja nur die „Aufreißer“ vor seinem Haus, die das stille und besinnliche Weihnachtsfest stören und seine Kleinfamilie ihn die alte Junggesellenwohnung flüchten lassen. Allerdings wartet dort natürlich schon die nächste Ruhestörung. Doch das Hämmern und Bohren in und vor seinen eigenen vier Wänden sind nichts gegen die traumatischen Erlebnisse von Angela Lehner. Der Geburtshelferin, Namensgeberin und Babysitterin seines Sohnes, die auf tragische Weise ums Leben kommt.

Die Suche nach ihrem Mörder und den Ruhekillern wird neben der steten Kleinkindbetreuung zu Lemmings Herzensangelegenheit und zu einer tour de force durch den lautstarken Großstadtdschungel. Alle Facetten denkbarer und tatsächlicher Lärmbelästigungen dringen so in unser inneres Ohr vor. Vom trampelnd-trainierenden Boxer über uns bis zum Schickimicki-Restaurant mit Endlosbeschallung neben uns. Es ist fast schon physisch spürbar, was es heißt, rund um die Uhr von Dezibelschleudern aller Art traktiert zu werden. Slupetzky geht das nervenaufreibende Alltagsphänomen satirisch und mit einer gehörigen Portion Hass an. Obgleich man seinem Alter Ego bei jedem Wort und bei jeder Tat anmerkt, wie ernst er es mit der Lärmbekämpfung meint, verliert der Autor nie den Humor. Wie gewohnt und geschätzt dürfen wir uns auch weiterhin an den Missgeschicken und Weisheiten des Lemmings erfreuen. Und bekommen von Slupetzky überdies eine ganze Reihe etwas überdrehter, aber keinesfalls übermotivierter Täter geliefert, die in einem stimmig konstruierten Plot ihr letztlich gut gemeintes, aber illegales Unwesen treiben. So lautet denn die ambivalente Botschaft des Buches: Dem Lärm kann man nicht, dem Lemming darf man nicht entfliehen.

Jörg von Bilavsky

Stefan Slupetzky: Lemmings Zorn. Lemmings vierter Fall. Roman.
Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2009. 304 Seiten. 8,95 Euro.