Mitleid und Mit-Leiden
– Zweigs „Ungeduld des Herzens“: Es gäbe doch nun wirklich eine ganze Reihe neuerer und aufregenderer Bücher, die es zu lesen lohnt, als gerade diesen 1938 zum ersten Mal erschienenen Roman über die Gewissensskrupel eines K.U.K.-Leutnants gegenüber einem körperlich behinderten jungen Mädchen ‚aus den besseren Kreisen’ zur Zeiten der alten ‚Habsburger Monarchie’. Oder? Von Carl Wilhelm Macke
Gut, Zweig ist ein glänzender Schriftsteller mit Sinn für Umgangsformen und für den ‚Suspense of a story’. Sein Verhalten in der Epoche des Nationalsozialismus war vorbildlich. Wes Anderson, der Regisseur des mitreißend perfekt gedrehten „The Grand Budapest Hotel“, nennt immer Stefan Zweig als ersten Inspirator seiner Filme. Und die wunderbar gestaltete Neu-Edition der „Ungeduld des Herzens“ in der klassisch-edlen „Manesse-Bibliothek“ – die inzwischen auch zur ‚Random-House’ Gruppe gehört – reizt ja auch zur Lektüre. Trotzdem bleibt die Frage, ob man sich die Zeit nehmen sollte, diesen einzigen umfangreicheren Roman von Stefan Zweig zu lesen. Ist das nicht eine Nachtischlektüre älterer Damen?
Ein Soldat ‚alter Schule’ und mit bester Habsburger Militärausbildung, möchte eine junge Frau zum Tanz auffordern. Erschüttert und wie vom Blitz getroffen bemerkt er dabei, dass diese Dame behindert ist oder, im alltäglichen Sprachgebrauch der Zeit, ein ‚Krüppel’. Der Leutnant wird von schweren Gewissensbissen gequält, warum er sich diesen Fauxpas erlaubt hat. Um diesen Fehler wieder gut zu machen, vor allem aber aus Mitleid, mit ihr und ihrem vermögenden Vater, besucht er Vater, Tochter und deren Schwester immer wieder in ihrer großen Villa. Er, der auf Etikette bedachte Leutnant, ist berührt von diesem durch eine Behinderung so reduzierten Leben der jungen Edith. Aber mehr als ein tief empfundenes Mitleid ist es bei ihm nie. Sie jedoch will sich nicht immer bemitleiden lassen und empfindet nach und nach immer mehr Liebe zu dem galanten und mitfühlenden Soldaten. Schließlich spitzt sich nach vielen hundert Seiten dieser Gefühlskonflikt zwischen Mitleid und Liebe immer weiter zu. Es kommt zu einem von Zweig äußerst spannend inszenierten dramatischen Ende, in dem sich private Tragik mit der Tragödie eines ganzen Zeitalters, des Beginns des 1. Weltkriegs, kreuzt.
Soweit eine sehr verkürzte ‚Inhaltsangabe’ dieses Romans, der die Leser in eine Zeit und in ein Milieu entführt, das einem heute so fremd erscheint, wie eine Familiengeschichte auf einer entfernt liegenden Südseeinsel. Trotzdem erkennt man bei der Lektüre dieses Romans aus einer anderen Zeit auch einen ganz aktuellen Subtext. An einer zentralen Stelle des Romans schreibt Zweig:
„Es gibt eben zweierlei Mitleid. Das eine, das schwachmütige und sentimentale, das eigentlich nur Ungeduld des Herzens ist, sich möglichst schnell frei zu machen von der peinlichen Ergriffenheit vor einem fremden Unglück, jenes Mitleid, das gar nicht Mit-Leiden ist, sondern nur instinktive Abwehr des fremden Leidens von der eigenen Seele. Und das andere, das einzig zählt – das unsentimentale, aber schöpferische Mitleid, das weiß, was es will, und entschlossen ist, geduldig und mitduldend alles durchzustehen bis zum Letzten seiner Kraft und noch über das Letzte hinaus“.
Wischt man einmal die für Zweig typische, für uns heutige Leser leicht parfümierte Sprache beiseite, dann entdeckt man auch eine unerwartete Aktualität in diesen Gedanken über das Mitleid. Gibt es nicht auch in unseren Tagen immer wieder und jetzt sogar vermehrt diese Konfrontation von „zweierlei Mitleid“? Sehen wir die erschütternden Bilder von großen Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer, in Zentral- und Ostafrika, dann werden wir instinktiv von einer ‚schwachmütigen, sentimentalen Ungeduld des Herzens’ erfasst, um so mit gutem Gewissen einer wirklichen Konfrontation mit dem Leid Anderer zu entgehen. Unsentimentales, geduldiges Mitleid aber mit dem Leid Anderer wäre viel schwerer zu praktizieren. Man müsste bereit sein, vielleicht auch seinen eigenen Lebensstil zu ändern, auf Privilegien, vielleicht auch gewohnten Lebensraum zu verzichten. Man müsste die Strukturen der Gesellschaft, auch die Spielregeln der Globalwirtschaft verändern, Oligarchen, Finanzmanager und korrupte Regime bloßstellen, um nicht immer nur an die Gefühle und das Mitleid des Einzelnen zu appellieren.
Vielleicht ist diese ‚politische Lektüre’ dem Roman von Stefan Zweig ja nicht angemessen und überinterpretiert. Aber macht es nicht die Qualität eines ‚Klassikers’ aus, wenn man ihn immer wieder und immer wieder neu im Kontext veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse lesen kann?
Carl Wilhelm Macke
Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens. Roman. Mit einem Nachwort von Andreas Isenschmid. Manesse Bibliothek der Weltliteratur, Zürich, 2015. 699 Seiten. 29,95 Euro.