Geschrieben am 17. November 2008 von für Bücher, Litmag

Susan Choi: Reue

Der falsche Mann

In ihrem Roman Reue erzählt Susan Choi mit beklemmender Intensität die Geschichte eines zu Unrecht beschuldigten Mathematik-Professors, der in die Schuld seiner Vergangenheit verstrickt ist. Von Jörg Auberg

Vor Jahren charakterisierte die New Yorker Zeitschrift „Village Voice“ die Autorin Susan Choi als „poetische Archäologin“. Obwohl sie zweifelsohne in der literarischen Aufarbeitung der jüngeren amerikanischen Geschichte verborgene Schichten freilegt, betrachtet sie sich selbst doch eher, wie sie dem Magazin „Poets & Writers“ offenbarte, als „Voyeurin“, die hinter den Vorhang lugt, um dem Verborgenen auf die Schliche zu kommen. Geschichte wird in ihren Romanen nicht nacherzählt, sondern ist Material für eine schöpferische Kraft, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwebt und einen zweiten Blick auf die Geschichte öffnet, indem sich der Fokus auf die Perspektive von „Nebenfiguren“ in historischen Szenarien richtet.

Revolte und Desillusion

In ihrem für den Pulitzer-Preis nominierten Roman American Woman (2003) ist die Entführung der Millionenerbin Patty Hearst durch die bizarre Guerillaorganisation Symbionese Liberation Army (SLA) in den Jahren 1974 und 1975 die Folie, vor der die Geschichte der japano-amerikanischen Protagonistin Jenny Shimada (die der historischen Figur Wendy Yoshimura nachempfunden ist) projiziert wird. Nach Bombenattentaten auf Regierungseinrichtungen und der Verhaftung ihres Liebhabers gibt sie den Entführern und ihrer Geisel Pauline (alias Hearst) Unterschlupf, ehe sie mit Pauline nach einer Flucht-Odyssee durch den nordamerikanischen Kontinent verhaftet wird und sich am Ende mit ihrem konservativen Vater versöhnt, der während des Zweiten Weltkriegs aufgrund seiner japanischen Herkunft interniert war. Trotz des politischen Hintergrunds blieb Choi mit der Zeichnung ihrer zentralen Figur und deren politischer Motivation in dem von Philip Rahv bemängelten antiintellektuellen „Kult der Erfahrung“ stecken, indem sie das Abtauchen in den Untergrund als magischen Akt zeichnete, der in eine unterirdische Welt der Geheimgesellschaften und schließlich der Rackets führte. Die Politik der „Outlaws“ reduziert sich auf individuelle Akte der Gewalt, die in der Sackgasse enden, aus der es kein Entkommen gibt. Shimada ist eine Verkörperung des populärkulturellen Typus der desillusionierten Geächteten, die erkennen muss, dass sie dem falschen Weg gefolgt und ihre Zeit (als gegen das System Auf-begehrende) abgelaufen ist.

Unter Verdacht

Während American Woman stellenweise über popkulturelle und politische Klischees nicht hinauskommt, gelingt es Choi in ihrem Roman Reue, dem politisch-historischen Szenario eine Aura beklemmender Intensität zu verleihen. Verschwommener Hintergrund des Romans ist der heimische Terrorismus von Einzeltätern wie des mutmaßlichen „Unabombers“ Ted Kaczynski, eines hochbegabten Mathematikers, der in den Jahren zwischen 1978 und 1995 sechzehn Briefbomben an Universitätsprofessoren und Vorstandsmitglieder von Fluggesellschaften verschickte, um gegen die Auswüchse des technischen Fortschritts in der industriellen Gesellschaft zu protestieren. Zu Beginn des Romans zerreißt eine Paketbombe Professor Hendley, Leiter der mathematischen Fakultät an einer Provinz-Universität im amerikanischen Mittelwesten, während sein Kollege, der 65-jährige, von der Zeit überholte Professor Lee den Anschlag mit dem Schrecken und einem flüchtigen, an klammheimliche Freude grenzenden Stoßseufzer „Ah, wie gut“ zunächst unbeschadet übersteht.

Während Hendley mit seiner geschäftsmäßigen Umtriebigkeit des Universitätsmanagers eine neue Generation repräsentierte, wirkt Lee, ein aus einem unbestimmten asiatischen Land immigrierter Mathematiker, wie ein Relikt aus einer untergegangenen akademischen Welt, das sein ganzes Leben in einer totalen Entfremdung verbrachte und unfähig war, sich in seiner Umwelt einzuleben oder Beziehungen zu anderen Menschen aufrechtzuerhalten. In der Vergangenheit war er mit dem jovialen und bei den Studenten beliebten Hendley aneinandergeraten, sodass er bald in den Verdacht gerät, hinter dem Attentat zu stecken. Für den ermittelnden FBI-Agenten Jim Morrison ist Lee zunächst ein „wichtiger Zeuge“ (eine „person of interest“, wie der Roman im Original heißt), doch mehr und mehr scheint sich der Verdächtige in Widersprüche zu verwickeln, woraufhin er schließlich in einem Lügendetektortest versucht, die Ermittlungsbehörden von seiner Unschuld zu überzeugen. Doch selbst als er den Test bestanden zu haben scheint, wird das Ergebnis nicht anerkannt: Mit unterschwelligem Rassismus erklärt ihm Morrison, dass Asiaten dem Verfahren gegenüber immun seien und das Ergebnis somit hinfällig sei. Trotz der erfolgreich vollzogenen Assimilation bleibt Lee doch immer noch der Fremde. Wie im Fall des 1999 zu Unrecht des Geheimnisverrats beschuldigten Atomwissenschaftlers Wen Ho Lee gerät Professor Lee in einen immer stärkeren Sog der Feindseligkeit, als wollte man es ihm nun für sein jahrelanges Abseitsstehen in der kleinstädtischen, provinziellen Gemeinschaft heimzahlen: Er wird von der Universität suspendiert; sensationsgierige Fernsehteams belagern sein Haus, und Nachbarn stillen ihr Rachebedürfnis.

Schuldlos schuldig

Auch wenn Lee im Fall Hendley schuldlos ist, hat er doch in seiner Vergangenheit Schuld auf sich geladen, die nun in die Gegenwart rollt. Als junger Doktorand spannte er seinem evangelikalen Kommilitonen Lewis Gaither die Frau aus und heiratete sie. Im Sinn Lees, der aus egoistischen Motiven die Spuren ihres „Vorlebens“ tilgen wollte, wurde ihr kleiner Sohn in die Obhut des Vaters gegeben, woran schließlich die Ehe scheiterte. Kurz nach dem Attentat erhält Lee einen mysteriösen Brief, als deren Urheber er Gaither vermutet, dem er späte Rachegelüste unterstellt. Schließlich stellt sich jedoch heraus, dass sich hinter dem für das Attentat verantwortlichen technik- und wissenschaftsfeindlichen „Elite-Killer“ Lees ehemaliger Kommilitone Donald Whitehead verbirgt, der seine mathematische Genialität gegen die instrumentelle Wissenschaft einsetzt, die sich in den Dienst der Massenextermination gestellt hat.

Auf hohem sprachlichen und stilistischen Niveau erzählt Choi Lees Geschichte alternierend zwischen Gegenwart und Vergangenheit, wobei es ihr vor allem im zweiten Teil gelingt, eine atemberaubende Spannung in der mehrschichtigen Umzingelung des Beschuldigten zu erzeugen. Auch wenn sie diese Intensität im dritten Teil nicht aufrechtzuerhalten vermag, zeichnet ihr grandioser Roman ein beeindruckendes Bild von der Trostlosigkeit einer mittelmäßigen akademischen Existenz, die irgendwann stecken geblieben und selbst von der Entfremdung entfremdet ist. Im falschen Leben ist der falsche Mann beschuldigt, aber ohnehin stehen hier alle unter Generalverdacht.

Jörg Auberg

Susan Choi: Reue (A Person of Interest). Roman. Aus dem Amerikanischen von Annette Hahn. Aufbau Verlag 2008. 480 Seiten. 19,95 Euro.