Geschrieben am 7. Juni 2008 von für Bücher, Crimemag

Thierry Jonquet: Die Haut, in der ich wohne

Nackt, ohne Wasser

Thierry Jonquet webt ein bedrohliches, alptraumhaftes Netz, in dem sich die präzise gezeichneten Figuren nach und nach verfangen. Von Claus Kerkhoff

Thierry Jonquet ist hierzulande beinahe unbekannt. In Frankreich gehört er zu den großen Kriminalautoren. Seit 1982 veröffentlichte er über 15 Kriminalromane, von denen mehrere ausgezeichnet wurden. So hat er bereits zweimal (1994 für Les Orpailleurs, dt. Die Goldgräber – und 1999 für Moloch) den renommierten Prix Mystère de la critique erhalten.
Jetzt ist gerade der 1984 entstandene Roman Mygale unter dem deutschen Titel Die Haut, in der ich wohne erschienen, weil die Verfilmung von Pedro Almodóvar mit Penelope Cruz und Antonio Banderas unter dem Titel „Los abrazos rotos“ 2009 in die Kinos kommen wird.

Thierry Jonquet erzählt in diesem fast kammerspielartigen kleinen Stück Prosa die Geschichte zweier abscheulicher Verbrechen, deren Zusammenhang sich erst nach und nach erschließt. Zwei Menschen werden gefangen halten: zum einen die junge, schöne Evè, die in einem Schlafzimmer eines Châteaus von dem berühmten plastischen Chirurgen Richard Lafargue festgehalten wird, und zum anderen der Abiturient Vincent, der von einem mysteriösen Mann verschleppt und in einem Keller mehrere Jahre lang mit grausamen Psychospielen gefoltert wird.

Evè darf ihr Gefängnis einmal im Monat verlassen, wenn das Paar eine junge Frau in der Nervenheilanstalt besucht. Nach diesen Ausflügen zwingt Lafargue Ève dazu, sich zu prostituieren, während er den sexuellen Akt durch einen Einwegspiegel beobachtet. Vincent darf hingegen seine Kammer nie verlassen. Nackt, ohne Wasser und ohne Toilette, wird sein Wille mit immer neuen Erniedrigungen gebrochen. Die Frage, welche Wirkung die Pillen haben, die er gezwungenermaßen einnehmen muss, wagt er erst gar nicht mehr zu stellen.

Und dann ist da noch Alex Barney, der bei einem Banküberfall einen Polizisten erschossen hat und sich jetzt in einem Wochenendhaus vor der Polizei versteckt hält. Barney ist kein heller Kopf, aber er vermisst seinen Freund Vincent, der vor vier Jahren spurlos verschwunden ist. Denn dieser wüsste einen Ausweg aus Alex´ misslichen Lage. Sein Plan, Evè zu entführen, um Richard Lafargue zu erpressen, ihm ein neues Gesicht zu geben, ist der Auslöser, der die Dinge ins Rollen bringt und das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen den Protagonisten enthüllt.

Komplexer Plot = Spannung

Thierry Jonquet webt ein bedrohliches, alptraumhaftes Netz, in dem sich die Figuren verfangen. Die Haut, in der ich wohne basiert auf einem komplexen Plot, dessen Spannung sich von der ersten Seite an steigert. Präzise Charakterzeichnungen der Figuren und Perspektivwechsel brechen immer wieder die Linearität des Handlung.

Die Story ist psychologisch fein gesponnen und eindringlich erzählt. Jonquet schreibt eine klare, scheinbar einfache Prosa. Er verzichtet auf essayistische Erklärungen und auf leere Virtuosität und erzielt so eine dem Sujet angemessene Eindringlichkeit und Intensität. Die subtilen, unaufdringlichen Charakterstudien sind tiefenscharf, voller stimmiger Details.
Hinter jedem Twist der noir-Geschichte tun sich neue Abgründe auf. Konsequent verzichtet Jonquet auf Nebenhandlungen und Nebenfiguren und konzentriert sich ganz auf seine vier Hauptpersonen. Umso plastischer konkretisiert sich so das Unausgesprochene in den Köpfen der Leser.

Im Grunde geht es um Identität, sowohl um persönliche als auch sexuelle Identität. Jonquet stellt unbequeme Fragen, die den Horror des Textes ausmachen. Was kann Folter? Die Stabilität eines Individuums zerstören oder dessen sexuelle Orientierung ändern? Kann Folter eine Persönlichkeit neu erschaffen? Müssen wir Mitleid mit einem Täter haben, der zum Opfer wird? Sollen wir Mitleid haben mit einem Opfer, das zum Täter wird? Wann schlägt Hass in Liebe um? Jonquet treibt diese Fragen bis an die äußersten Schmerzgrenzen. Darum muss auch die Sprache hart, einfach und eindringlich sein. Kein Roman, der Moral transportiert, aber ein moralischer Roman.
Claus Kerhhoff

Thierry Jonquet: Die Haut, in der ich wohne (Mygale, 1984) Roman. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hoffmann und Campe 2008. 144 Seiten. 16,95 Euro.