Stalins sadistische Söhne
Tom Rob Smith beobachtet sowjetische Schergen und andere seelenlose Schufte bei ihrem brutalen Geschäft. Einer von ihnen wird geläutert und rettet damit zahlreichen Kindern das Leben.
Kaum ein Sonntag vergeht, an dem im „Tatort“ oder „Polizeiruf“ nicht Jagd auf Kinderschänder und Pädophile gemacht wird. Ein Modethema. Fürwahr. Doch eins, dem man erstaunlicherweise noch neue Perspektiven abgewinnen kann. Wie der knapp dreißigjährige Newcomer Tom Rob Smith in seinem ersten Thriller anhand eines authentischen Falles aus der Stalinzeit beweist. Auf über 500 spannungsgeladenen Seiten fallen sage und schreibe 44 Kinder einem bestialischen Mörder zum Opfer. Doch weder die erschreckend hohe Zahl der Toten noch die grausame Art und Weise, wie der sadistische Täter die Minderjährigen verführt und vergewaltigt, machen den „Thrill“ dieses Romans aus.
Dass diese Gräueltaten in Stalins Reich geschehen und von seinen willfährigen Schergen im sowjetischen Geheimdienst unter den Tisch gekehrt werden, ist das eigentlich Brisante. Schließlich meinte man ja mit Einführung des Kommunismus dem Verbrechen den Nährboden entzogen zu haben. Insofern darf man von der ersten Zeile an gespannt sein, wie der einstige Kriegsheld und erfolgreiche Geheimdienstoffizier Leo Demidow den verzweifelten Eltern den Mord ihres Kindes als Unfall verkauft. Und wie er nach und nach an dieser ungeprüften Version und an seiner Mission als Spion im Dienste des „Generalissimus“ zu zerbrechen scheint.
Diesen Wandel vom kommunistischen Saulus zum humanistischen Paulus verpackt der englische Drehbuchautor aber nicht allein in einem dramaturgisch perfekten Plot. Nein, er zeichnet hierbei auch ein ebenso beklemmendes wie beeindruckendes Porträt des stalinistischen Terrors im Jahre 1953. Smith lässt seine Figuren die perfiden Mechanismen der Macht zu jedem Zeitpunkt spüren und zeigt haarklein, wie die Angst vor Denunziation und Verfolgung das gesamte Denken und Handeln der Sowjetbürger beherrscht. In dieser düsteren und realitätsnahen Atmosphäre lässt er seinen Protagonisten einen atemberaubenden Kampf um Gerechtigkeit und seine eigene Identität ausfechten. Wir schauen gefesselt dabei zu, wie er sich seinen Kollegen Wassili bei einer gefährlichen Geheimdienstoperation zum tödlichen Feind macht, wie er trotz haltloser, aber amtlicher Verdächtigungen seine eigene Frau bis in die intimsten Bereiche hinein ausspioniert. Und wie in ihm schließlich das Gerechtigkeitsgefühl über das Pflichtgefühl siegt.
Er nimmt nämlich Degradierung und Demütigungen in Kauf, um seine Liebe und um weitere Kinderleben zu retten. Was hier verknappt so heroisch und uneigennützig klingt, beschreibt Smith viel differenzierter und detaillierter. Auch an welch seidenem Faden Leos Partnerschaft hängt und mit welchen Schwierigkeiten er zu kämpfen hat, als er an seinem neuen Einsatzort auf weitere Kinderleichen stößt und jetzt die sich durchs ganze Land ziehende Spuren verfolgt, versteht er in drastischen Momentaufnahmen und subtilen Dialogen zu schildern. Dass Leo die unter Lebensgefahr entdeckten Spuren nicht nur zum Täter, sondern schließlich auch in seine eigene Vergangenheit führen, gibt dem ganzen Fall eine ebenso überraschende wie überzeugende Wendung.
Obgleich bei Smith gelegentlich der Creative Writer durchscheint, pflegt er dennoch keinen glattgebügelten und vorhersehbaren Stil. Er hat seinen eigenen bereits gefunden. Dass er den historisch durchaus komplexen Stoff so spannend und detailgetreu dramatisiert hat, verdient großes Lob. Tom Rob Smith braucht den Vergleich mit seinem Namensvetter Martin Cruz Smith nicht zu scheuen. Und hat damit gute Chancen in die Champions League der Krimiautoren aufzusteigen.
Jörg von Bilavsky
Tom Rob Smith: Kind 44 (Child 44, 2008). Roman. Ins Deutsche von Armin Gontermann. DuMont Buchverlag. 507 Seiten. 19,90 Euro.