Noch ein letzter, lukrativer Drecksjob und dann aussteigen
– Sind es plumpe Lebenslügen, konkrete Karrierepläne oder ein zockerhaftes Driften in gefährliche Risikozonen, was Außenseitern suggeriert, sich mit dem letzten großen Ding aus dem Milieu befreien und in eine schöne heile Biedermeier-Welt abtauchen zu können? Darum geht es eigentlich – neben Drogenschmuggel, brutalen Verfolgungsjagden mit einem Auftragskiller und dem Identitätskonflikt eines vom Vater enttäuschten Cops – in Urban Waites mitreißendem Thriller „Schreckensbleich“. Von Peter Münder
Zwei Reiter stolpern mit ihren Gäulen durch die Berge an der amerikanisch-kanadischen Grenze, warten nachts auf die heiße Fracht, die aus einem Kleinflugzeug abgeworfen wird und verstauen die mächtigen Kokspakete in den Satteltaschen der Pferde. Damit wäre für Phil Hunt, den Ex-Knacki, der jetzt Pferde züchtet und sich als Hobby-Schmuggler ein hübsches Zubrot verdienen will und für den 22-jährigen angeheuerten Helfer, der auch schon zwei Jahre abgesessen hat, eigentlich alles im schneeweißen Paletti-Bereich. Doch das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als Deputy Drake das geparkte Auto des Duos in dieser Wildnis entdeckt und Unheil wittert: Es kommt zum Showdown, der zur spannenden Verfolgungsjagd und zum Verlust der Drogenpakete eskaliert. Den Stoff soll dann der blutrünstige, halbirre Auftragskiller Grady zurückholen, ein echter Sensenmann mit einem Koffer voller scharfer Seziermesser. Doch Urban Waite liefert noch viel mehr als aufregende Action. Trapper-Ambiente und Motel-Tristesse. Und das macht diesen über Genre-Grenzen herausragenden Thriller so grandios.
Gutmenschen, böse …
Waite sondiert nämlich das Innenleben seiner Figuren, ihm geht es um ihren Werdegang, um ihre Entscheidungsprozesse und den alltäglichen „Terror of Living“ (so der englische Originaltitel). Seinen naiven „Lifestyle of the Rich and Famous“-Traum umschreibt der eher unbedarfte Junge beim Verstauen der Kokspakete mit den naiven Reklame-Versatzstücken vom „Rennboot und Palmen“, während Hunt nur seinen letzten Job vor dem Aussteigen machen will und Deputy Drake versucht, seinen Vaterkomplex mit korrekten Beamtenreaktionen zu kompensieren. Schließlich hatte sein jetzt hinter Gittern hockender Daddy nebenher auch noch Drogen geschmuggelt. Man sieht also: Jeder hat hier sein Drogenpäckchen zu tragen, in dieser ethisch-moralischen Grauzone gibt es keine eindeutigen Verhaltensnormen mehr. Die Schwarz-Weiß-Schablonen der frühen Westernjahre sind verwischt: Gut und Böse sind nicht mehr auf Anhieb zu unterscheiden; auch ein Gutmensch ist hier zu illegalen, bösen Taten fähig.
Kafka plus Action
Urban Waite, 32, wuchs in Seattle auf, studierte Mathematik und Naturwissenschaften und absolvierte etliche Creative Writing-Kurse. Mit diesem fulminanten Thriller, seinem ersten Roman, gelang ihm gleich ein großer Wurf: Er kombiniert knallharte Actionszenen mit grüblerisch-introspektiver, kafkaesker Nabelschau, er liefert anrührende Psychogramme seiner Figuren und er entwickelt nebenher noch einen analytischen Tiefgang, der absolut lässig und plausibel daherkommt.
Urban White – diesen Namen muss man sich auf jeden Fall merken. Es gibt doch noch Lichtblicke in diesem Genre!
Urban Waite: Schreckensbleich. (The Terror of Living, 2011) Roman. Deutsch von Marie-Louise Bezzenberger. München: Knaur 2011. 364 Seiten. 9,99 Euro. Zur Homepage von Urban Waite.