Geschrieben am 20. März 2008 von für Bücher, Litmag

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. Eine Bilanz.

Die Schlachtfeste der ergrauten Unschuld

Wolfgang Kraushaar zieht zum 40. Jahrestag der Revolte von 1968 eine kritische Bilanz und transferiert die Geschichte ins Reich der Pathologie. Von Jörg Auberg

Vor zwanzig Jahren trat ein ehemaliger Aktivist der „Achtundsechzigerbewegung“ auf die Bühne und hob zu einer schwülstigen Lobhudelei auf seinesgleichen an. „Es scheint mir zu früh“, raunzte er ins Publikum, „um größere Klarheit darüber gewinnen zu können, was um 1968 geschah; was damals in die Wege geleitet und freigesetzt und was da dem Ende näher gebracht und behindert wurde.“ Während der einstige Proto-Autonome von der Grandiosität der Revolte von „68“ schier überwältigt wurde und mittlerweile sein Credo „Rebellion ist gerechtfertigt“ als Chefredakteur der Springer-Zeitung Die Welt verbreitet, tritt Wolfgang Kraushaar zum vierzigjährigen Jubiläum der Revolte mit dem Anspruch an, eine kritische Bilanz dessen zu ziehen, „was um 1968 geschah“, und legt mit seinem Buch Achtundsechzig einen marktgängigen Remix aus früheren Werken vor. Kraushaar selbst bezeichnet sich als „Tangential-Achtundsechziger“, der nicht als Akteur in die Ereignisse jener Zeit verstrickt sei, sondern lediglich den „Ereigniszusammenhang“ als Zeitzeuge wahrgenommen habe. Aus diesem Umstand leitet er seine besondere Tauglichkeit für dieses Unternehmen ab, die „Revolte“ zu entzaubern und die negativen Facetten der Neuen Linken (Gewalt, Nationalismus und Antisemitismus) zu beleuchten. In seinem Aufsatz „Die Schlachtfeste der neuen Unschuld“ aus dem Jahre 1984 beschrieb Lothar Baier das „befriedigende Gefühl, nichts gemacht zu haben, wofür man sich schämen müßte“ als wesentliches Merkmal der neuen Unschuld, die nicht nur die Irrtümer der anderen aufspüre, sondern auch über sie richte. In diesem Sinne agiert der ergraute Tangential-Achtundsechziger, der alles durchschaut hat und dem nichts verborgen bleibt.

Oberflächenstenografie

„Wer die 68er Bewegung in ihrer historischen Bedeutung wirklich verstehen will, kommt um dieses Buch nicht herum“, verkündet der Verlag marktschreierisch, ohne dass Kraushaar tatsächlich zu neuen Erkenntnissen beiträgt. In einem Prolog versucht er die Beat-und Hippie-Bewegungen als Vorläufer der „Achtundsechzigerbewegung“ darzustellen, wobei er freilich im bloßen Stenografieren von Oberflächlichkeiten stecken bleibt und zudem Namen von Autoren wie Gary Snyder und Marty Jezer falsch schreibt. Jack Kerouac, Allen Ginsberg und William Burroughs seien die „Ikonen“ der Beat-Generation gewesen, weiß er zu berichten. „Entstanden war die Kerngruppe ursprünglich in New York, genauer an der Columbia University, wo sich die drei 1943, also mitten im Zweiten Weltkrieg, kennenlernten.“ Der Harvard-Absolvent Burroughs war jedoch nie an der Columbia-Universität immatrikuliert, sondern führte die jüngeren Autoren Ginsberg und Kerouac abseits des Campus in die moderne Literatur wie in die New Yorker Unterwelt ein. Von persönlichen Beziehungen abgesehen, hat sich Burroughs stets von der Beat-Generation – sowohl von ihren Zielen als auch ihrem literarischen Stil – distanziert, sodass seine Subsumtion als Beat-Literat an der Realität vorbei geht. Darüber hinaus reduziert Kraushaar die Beat-Generation auf den Begriff der „Beaten Generation“ als Nachfolgerin der „verlorenen Generation“, ohne die „Beatitude“ zu erwähnen, die im Denken der Beatniks eine zentrale Rolle spielte. Zusammengebastelte Versatzstücke werden in ein rigides Framework gezwängt, in dem jedes Attribut und jede Methode ihre eindeutigen, zuweilen fehlerhaften Zuordnungen haben.

„Das Vorspiel hatte also Tausende von Kilometern entfernt an einem anderen Ende der Welt stattgefunden“, leitet Kraushaar schließlich den deutschen Hauptteil von „1968“ ein, ohne dass er Aufschluss darüber gibt, warum die USA „an einem anderen Ende der Welt“ liegen. Während bereits 1987 George Katsiaficas die Neue Linke einer globalen Analyse unterzog, beschränkt sich Kraushaar darauf, „1968“ als isoliertes deutsches Konstrukt darzustellen. „Die Gewalt war das insgeheime Magnetfeld der Achtundsechzigerbewegung“, weiß er zu berichten und sieht das Faible für Gewalt als Erbe der Romantik, in der sich das Rauschhafte und Unmittelbare, die spontane Eruption direkter Aktion im Sinne eines bakunistischen Anarchismus artikulierten. Unbestreitbar bewegte sich die Neue Linke 1968 generell in Richtung einer spektakulären Militanz, doch war diese Entwicklung in eine internationale Kultur der Gewalt eingebettet. „Zwischen Medien und Militanten existierte so etwas wie ein insgeheimes Bündnis“, schreibt Kraushaar. „Jede Seite wusste von der anderen, was sie und was eine möglichst effektvolle Nachricht war.“ Auch hier verharrt der Historiker an der Oberfläche, ohne das Zusammenspiel von Medien und Protestbewegung in der „Gesellschaft des Spektakels“ zu analysieren, wie es beispielsweise Todd Gitlin in seiner wegweisenden Studie The Whole World is Watching aus dem Jahre 1980 untersuchte.

Pathische Projektionen

Anstatt Prozesse und Strukturen einzubeziehen, betreibt Kraushaar eine trivialisierende Personalisierung der Geschichte. Die Entwicklung wird an zentralen Personen festgemacht, die für das gesamte Konstrukt namens „Achtundsechzigerbewegung“ stehen. K-Gruppen und Terrororganisationen wie die RAF oder Bewegung 2. Juni sieht er als konsequentes Resultat eines größenwahnsinnigen Aktionismus, der von Figuren wie Dieter Kunzelmann oder Andreas Baader vorangetrieben wurde, womit der außerparlamentarische Protest zwangsläufig in pathischen Projektionen des Totalitarismus endete. Für Kraushaar stellen sich keine Fragen; die Rätsel sind gelöst, und er weiß gründlich Bescheid. „Das Rätsel, wie aus antiautoritären Bewegungsaktivisten stockautoritäre Organisationsfetischisten werden konnten verliert viel von seinem vermeintlichen Geheimnis“, vermeldet er triumphierend, „wenn man sich daran erinnert, dass mit der Kommune I die Herzkammer der antiautoritären Bewegung bereits eine maoistische Formation war.“ Ohne die tatsächliche historische Realität zu analysieren, ebnet der Historiker mit dem Durchschauerblick die Komplexität der Entwicklung ein, indem er alle „Antiautoritären“ zu Gefolgsleuten eines diffusen Maoismus deklariert und eine kleine Gruppe von Kommunarden als universale Avantgarde der „Achtundsechzigerbewegung“ herausstellt, wobei er dem Spuk der Medienphantome von einst aufsitzt. Entgegen der vorgeblichen Intention der „Entmythologisierung“ betreibt der Historiker das Geschäft der Antiaufklärung, indem er nicht (wie Harold Rosenberg einmal postulierte) Antworten in Fragen verwandelt, sondern in der Pose des Bescheid wissenden Durchschauers lediglich die Unausweichlichkeit der Geschichte festschreibt.

Die Entwicklung von einer demokratischen Basisbewegung zu einem Konglomerat autoritärer, konkurrierender Rackets, die um die Beute, „den größtmöglichen Anteil am Mehrwert“ (wie Max Horkheimer schrieb) streiten, ist keineswegs auf die deutsche „Achtundsechzigerbewegung“ beschränkt. In ihrer selbstkritischen Autobiografie Flying Close to the Sun (2007) versucht Cathy Wilkerson, eine ehemalige Angehörige der amerikanischen Stadtguerilla-Gruppe Weather Underground, den eigenen Weg von einer gewaltfreien Bürgerrechtsaktivistin zu einer militanten Maoistin und Terroristin nachzuzeichnen, wobei diese Transformation in vieler Hinsicht unerklärlich bleibt. Aufgabe eines zukünftigen Historikers wird es bleiben, Geschichte nicht als ein ideologisches Framework gehärteter Tatsachen zu verkaufen, sondern Entwicklungen und Optionen aufzuzeigen. Ungeduld mit demokratischen Entscheidungsprozessen, der Drang, mit der eigenen Existenz für eine bessere Gesellschaft einzustehen und die Affinität für elitäres Denken und Handeln befördern die Gefahr einer autoritären Organisationsform, doch war die Entwicklung von der Hoffnung zum Zorn (wie Todd Gitlin die „Sixties“ beschreibt) nicht zwangsläufig.

Mittelmaß und Wahn

Als „einer der besten Kenner der 68er Bewegung“ (wie ihn der Verlag anpreist) depolitisiert Kraushaar die Geschichte der Neuen Linken und führt sie ins Reich der Pathologie. Kapitalismus und Liberalismus sind für Kraushaar kein Ziel der Kritik. Er ortet lediglich „Schwachstellen der Wohlstandsgesellschaft“, während die Gefahr eines aus dem kapitalistischen System sich entwickelnden Faschismus den „Alpträumen einiger zur Paranoia neigender Intellektueller“ zugeschrieben wird. Der Historiker ist mit griffigen Urteilen schnell zur Hand und teilt dem Publikum per Klassifikation mit, was einer ist, um ihn besser ins Framework einordnen zu können. Redundant, fast schon reflexartig wird Ulrike Meinhof als „die spätere RAF-Mitbegründerin“ klassifiziert, auf eine Rolle im Wahngebilde der „Achtundsechzigerbewegung“ reduziert, von der offenbar bereits ihre journalistische Arbeit in den 1960er Jahren überschattet zu sein scheint. Kraushaar benutzt – mit Horkheimer gesprochen – die Sprache wie eine „Rechenmaschine der Verwaltung“, um die Delinquenten wie ihre intellektuellen Sympathisanten abzustempeln. Allein die ergraute Unschuld des Tangential-Achtundsechzigers wähnt sich frei vom romantizistischen Wahn, der Intellektuelle wie Militante umwölkte. Am Ende jedoch denunziert die Sprache den Historiker selbst.

Jörg Auberg

Wolfgang Kraushaar: Achtundsechzig. Eine Bilanz.
Propyläen, Berlin 2008.
Gebunden, 334 Seiten, 19,90 Euro.
ISBN: 978-3-549-07334-6