Notiz

Ehrlich gesagt

Ehrlich gesagt, ich verstehe diese ganze Debatte nicht, so sinnvoll sie sein mag. Joana Orleanu hat Recht. Lyrik hat keine gesellschaftliche Bedeutung. Das liegt aber nicht an der Lyrikkritik, sondern an der Lyrik, die heute geschrieben wird. Wenn sie sich selbst genügt! Wenn sie dieser Gesellschaft nichts mitzuteilen hat! Das Raunen in der Badewanne reicht eben nicht, das Tönen im Garten auch nicht. Wen interessiert schon das Rascheln der Blätter im hauseigenen Blätterwald? Das Widerkäuen des wieder Gekauten? Das postromantische Getue, das oft genug damit einhergeht?

Für Joana Orleanu steht der Dichter zwischen dem Macher und dem Moralapostel seiner Zeit „mit seinem Bedürfnis in Wahrhaftigkeit zu leben“. Schön gesagt. Und richtig. Das Problem ist nur, dass für viele Dichter diese Wahrhaftigkeit darin besteht, den eigenen Schrebergarten zu pflegen (was auch immer sie jeweils darunter verstehen). Was ist daran für unsere Gesellschaft mitteilenswert? Was hat sie davon, wenn die Dichter ihre Blümchen gießen? Was könnte sie daran interessieren? Diese Wortdeckchenhäkelei führt doch niemanden weiter, sondern beschreibt in der Tat wahrhaftig die Situation der betreffenden Dichter. Das ist aber auch alles. Ansonsten hat sie mit Wahrhaftigkeit nichts zu tun. So gut, so schlecht. Das ist die eine Seite.

Schon immer bewegt sich die Lyrikkritik (wie die Literaturkritik insgesamt) zwischen „Inzest, Ignoranz und Oberflächlichkeit“. Auch das so gut, so schlecht und auch nicht neu. Und oftmals spiegelt die Kritik damit gerade das, was sich in der Lyrikszene tut. Ein Lyrikkritiker steht doch tatsächlich genauso wie ein Lyriker zwischen dem Macher und dem Moralapostel der eigenen Zeit mit dem Bedürfnis, „in Wahrhaftigkeit zu leben“. Oder etwa nicht? Und deshalb hat er im Umgang mit seinen Kriterien auch die gleichen Probleme wie er. „Inzest, Ignoranz und Oberflächlichkeit“ gibt es wahrhaftig in der Lyrikkritik, auch wenn dies mit Wahrhaftigkeit nichts zu tun hat. Darin ist die Lyrikkritik authentisch. Jedenfalls oft. Und sonst? Ob es sich bei einer Kritik um bloße Wortdeckchenhäkelei handelt, entscheidet sich doch jeden Tag neu am Schreibtisch. Das weiß jeder. Und zwar bei jeder neuen Kritik. Bisher hat sie zwischen Wahrhaftigkeit und Wahrhaftigkeit nur allzu oft ihre (möglichen) Leser wahrhaftig nicht im Blick. Und das ist nicht nur eine Frage des Mediums. Das ist für mich die andere Seite.

Gleichwohl: es gibt eine dritte und das ist die unserer Gesellschaft. Unsere Gesellschaft ist, wie sie ist, und nicht an Lyrik interessiert (und somit auch nicht an Lyrikkritik). So gut, so schlecht. Dies wird sich aber auch nicht ändern. Es sei denn, die Lyriker und die Lyrikkritiker holen ihre Leser ab. Mit ihren Möglichkeiten und ihren Wegen, die sie zur Verfügung haben. Sie müssen es versuchen. Wieder und wieder. Wahrhaftig. In der Tat. Um „die“ Gesellschaft – ihre Leser - davon zu überzeugen, dass das, was sie vermitteln, für sie wichtig ist. Nicht mehr und nicht weniger. Diese Grundkonstanten sind es doch, die nicht stimmen. Zum Beispiel gerade jetzt bei Mario Osterland auf Fixpoetry (es ist, mit Verlaub, tatsächlich nur ein Beispiel), wenn er zu den „Fermaten“ von Dominik Dombrowski schreibt, dass für den Literaturbetrieb „die Lyrik ohnehin eine exotische Kolonie am anderen Ende der Welt“ ist. Ist das jetzt ein wahrhaftiges Faktum, dem er sich stellt, oder doch viel eher ein resignierendes Eingeständnis, das den Leser im Folgenden sich selbst überlässt? Warum schreibt er diese Rezension? Warum schreibt er sie tatsächlich, wenn er den Leser, nach eigenem Eingeständnis, sowieso nicht erreicht? Was ist in ihr wirklich im strengen Sinne von Joana Orleanu das Wahrhaftige? Und das betrifft ja erst einmal nur die Textebene!

Mir ist das alles viel zu einfach. Was also tun? Ich meine, es geht doch in Wirklichkeit in erster Linie darum, besser zu werden. Wahrhaftiger. Ehrlicher. Sich selbst und den Lesern gegenüber. Und das gilt für Lyriker wie Lyrikkritiker gleichermaßen. Ohne Wenn und Aber. Und zwar auf allen Seiten und auf allen Ebenen.

Fixpoetry 2016
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