Wo der „Gutmensch“ herkommt
27.11.2012 | Die Zahl der Diskutierer in den Foren deutscher Zeitungen schnellt in die Höhe, wenn es um die Zeit des Nationalsozialismus in Filmen und Büchern geht. „Gähn“ kann man da wiederholt lesen oder „wie lange wollt ihr uns Jungen den Nazistempel aufdrücken“. Es sind die 30- bis 40- jährigen, die sich hier wehren und finden, es sei „langsam genug“. Eine Gruppe der älteren Diskutierer weist demütig auf die deutsche Schuld hin, eine andere ...
Scheinriese mit Asphyxie — Impromptu über Grünbeins „Koloss im Nebel“
26.11.2012 | In einer scharfzüngigen Besprechung, deren Absicht im Thronsturz durch freches Gelächter bestand, hatte Fritz J. Raddatz im August dieses Jahres die Aura Durs Grünbeins als Dichter von Rang und markante Stimme der Gegenwart demontiert. Dabei hat er viele richtige Beobachtungen mit zum Teil unzureichenden oder falschen Argumenten untermauert. Raddatz’ obsolete Position hinsichtlich des Zwecks der Dichtung lautet, grob ...
Mit Hendrix, Joplin, Jagger und Co in die Arche
25.11.2012 | Lily Brett, 1946 in Deutschland in einem Lager für Displaced Persons geboren, will nicht Lola Bensky sein. Verständlich, denn welcher seriöse Autor möchte schon die Etiketten „Autobiographie“ und „Roman“ verwechselt haben. Und tatsächlich hat die Autorin für Unterschiede im Detail gesorgt. Andererseits: Wie unpassend in Bezug auf Lily Bretts neues Buch Lola Bensky ein Ausspruch wie der von John Irving über seine Romane, ...
Zufrieden dahingemurmelt — Wisława Szymborskas letzte Gedichte.
24.11.2012 | Es gibt Gedichte, vor denen man sich verneigen möchte. Nicht aus rührseligem Respekt, sondern aus fassungslosem Staunen über das Zusammentreffen von aphoristischer Pointiertheit und stilistischer Brillanz bei gleichzeitigem Verzicht auf Attitüden und aufdringliche Aperçus. Man liest diese Gedichte als würde man einer geistreichen Konversation unter alten Freunden lauschen, die sich nichts mehr beweisen müssen und nur daran ...
Parcour der letzten Dinge
23.11.2012 | Wie lange wollen wir noch leben, wie lange sind wir noch wach, wie könnte es anders sein, wie besser, wie wahr, wer hat darüber nachgedacht, bis zuletzt, wo ist das Letzte, wer schleicht durchs Haus? Es ist dunkel, und ich denke an Andenken, ich schwenke von Furcht zu Tadel, ich senke, gäbe es kein A in der Reihe der sich beugenden Verben, ich sinke, wie so manches in Caroline Hartges Gedichten: in den Schlaf, auf den Boden, auf den Grund ...
Knappes Psychogramm
22.11.2012 | Alle lieben Berlin. Alle finden Berlin wahnsinnig spannend. Alle wollen wissen, was in Berlin los ist. Oder los war. Zumindest jedoch geben Bücher über Berlin ein tolles Geschenk ab, sie sind so schön unpersönlich einerseits und könnten doch den Geschmack der beschenkten Person treffen. Denn schließlich gibt es von so vielen Autorinnen und Autoren so viele Bücher mit Berliner Anekdoten, literarischen Stadtspaziergängen ...
Literarischer Netzwerker – Die Tagebücher von Hans Werner Richter zeigen den Grenzgänger zwischen Literatur und Politik
22.11.2012 | Eigentlich wollte Hans Werner Richter ja nie Tagebuch schreiben. Zumindest hatte er das 1965 in einem Essay mit dem unmissverständlichen Titel „Warum ich kein Tagebuch schreibe“ angekündigt. Dass er sich daran nicht gehalten hat, kann man jetzt in den von Dominik Geppert herausgegebenen Tagebüchern Richters aus den Jahren 1966 bis 1972 nachlesen. Das Buch ist mit einem exzellenten Anmerkungsapparat ausgestattet, ...
Nach der Science Fiction
21.11.2012 | Meine Generation und auch die davor und die danach, ist mit Science Fiction aufgewachsen, aber auch mit Momenten ihrer Realisierung. Allein das Design orientierte sich nicht selten an der Zukunftsvorstellung von Filmen der Sechziger und Siebziger, in den Klapphandys zum Beispiel kann man getrost einen Nachbau der Kommunikatoren der ersten Raumschiff-Enterprise-Folgen sehen. Diese Fernsehserie ist nur wenig älter als Tracy K. Smith ...
Das Handwerk der Kooperation
20.11.2012 | Welche Fähigkeiten benötigen wir, um unser tägliches Leben zu bewältigen? Diese Frage steht im Mittelpunkt eines Projektes, das Richard Sennett vor einigen Jahren begonnen hat, und dessen zweiter Teil jetzt mit dem Band „Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält“ vorliegt. Kooperation wird in diesem Buch als handwerkliche Kunst betrachtet, somit schließt das Buch an den Vorgänger an, in dem es um das Handwerk ging. ...
Ein Kessel Buntes
19.11.2012 | Die Tage werden kürzer, und da macht es sich der Bildungsbürger doch gerne mit einem Buch vor dem Kamin gemütlich: So etwa funktioniert die von Dirk von Petersdorff herausgegebene, pünktlich zum Weihnachtsgeschäft erscheinende und alles in allem etwas betuliche Anthologie Ein Gedicht von mir. Lyrikerinnen und Lyriker der Gegenwart stellen sich vor. ...
Wetterkapriolen, Nacktwanderer, harte Fakten und der Gipfelschnaps – Matthias Kehle und Mario Ludwig auf der Spur von Ötzi und Rübezahl
16.11.2012 | "Alles hat seine Zeit" – ob dieses geflügelte Wort, dieser vermutlich bekannteste Abschnitt des biblischen Predigerbuches mehr Menschen über ihre Beschäftigung mit der Religion oder aus dem wunderbaren "In weiter Ferne, so nah!" ein Begriff ist, das vermag ich nicht zu sagen, aber: Es gilt für mich in besonderem Maße. Mein Kalenderjahr unterliegt zu großen Teilen festen Zeitfenstern, sich seit vielen Jahren wiederholenden Arbeits- und Ruhephasen, die ...
roughbooks lässt Nicolas Pesquès am Mont Juliau wieder auf die Gipfel der Sprache klettern
14.11.2012 | „Lieben Sie ihn noch?“, wurde Nicolas Pesquès im August 1981 gefragt. Mit dem Objekt der Begierde war der 552 Meter hohe Mont Juliau gemeint, den er zu diesem Zeitpunkt bereits ein Jahr lang beschrieben und interpretiert hatte. „Die Nordseite des Juliau. Grabmal des Cézanne“ lautet der Titel des Buches, denn Cézanne, der nahezu 80 mal den Sainte Victoire malte oder zeichnete, inspirierte Pesquès zu seinem bis heute andauernden ...
Schere, Stopp und neue Räume
14.11.2012 | In Vater telefoniert mit den Fliegen spricht Deutschlands Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2009 nun schon zum vierten Mal als Lyrikerin, nach Der Wächter nimmt seinen Kamm (1993), Im Haarknoten wohnt eine Dame (2000) sowie Die blassen Herren mit den Mokkatassen (2005). Das vom Hanser-Verlag sehr massiv ausgeführte Buch (harter Umschlagskarton, dickes Seitenpapier) steht in bemerkenswertem Gegensatz zu der Sprachleichtigkeit des Inhaltlichen. ...
Schreiben als Kulturtechnik
13.11.2012 | Sind es die Dinge, die man als gegeben ansieht, oder eben nicht mehr ansieht, weil man sie als gegeben hinnimmt, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigen sollte? Ja, unbedingt! Damit ist allerdings nicht der Strom auf Knopfdruck oder fließendes Wasser aus Leitungen gemeint, obwohl diese zweifelsohne zu den bedeutendsten kulturellen Errungenschaften gehören, die heute als selbstverständlich erachtet werden. ...
Etwas fehlt immer am perfekten Tag
12.11.2012 | Klaus Martens neuer Gedichtband „Abwehrzauber“ entführt den Leser in verschiedene Welten. Rinderschädel und Rippenkäfig als Zaubermittel. Das Gedicht, das dem Band den Titel gab, findet der Leser im ersten Teil, in dem Klaus Martens Landschaft und Menschen in Arizona mit surrealen Bildern von Max Ernst assoziiert. Die Gedichte in den weiteren Kapiteln spannen hingegen einen großen Bogen voller Themen aus Alltag und Natur, wobei der Autor ...
Nachrichten vom unteren Nachthimmelrand
11.11.2012 | Michael Speier ist eine der interessantesten lyrischen Stimmen Berlins. Seit - mittlerweile - Jahrzehnten gehört er als Dichter wie als Literaturwissenschaftler zu den umtriebigsten Akteuren der hauptstädtischen Poesieszene. Seit den frühen 70ern erscheinen seine vielfach übersetzten Gedichte in Magazinen und Anthologien rund um die Welt, seit 1977 veröffentlicht er die legendäre Lyrikzeitschrift PARK. Als Herausgeber des Celan-Jahrbuches ...
Bensch, Kraus und Peer Quer
10.11.2012 | Ich stehe vor der Mikrowelle und heize einem lauwarmen Milchkaffee ein, den mir meine Frau Claudia von unterwegs mitgebracht hat. Die grüne Leuchtanzeige zählt die Sekunden herunter. Mein Blick schweift über die Raufaser und bleibt an einer elf Jahre alten Kinofilm-Reklame hängen, die an der in Vergessenheit geratenen Pinnwand befestigt ist. Einige Buchstaben springen mich an, und ich lese „Kraus Störtebäckchen“, statt „Klaus“. Dann muss ich schmunzeln …
Das Weiße für den Leser
09.11.2012 | Es gibt Leute, die, egal, wo sie sich befinden nach Lesbarem Ausschau halten. In fremden Städten nach Straßennamen, um sich zu orientieren, in Wartezimmern nach den bunten Zeitschriften, die man sich sonst nicht kauft. Auf der Toilette nach der Werbung auf dem Toilettenpapier, nach den kleinen handgeschriebenen Obszönitäten an den Wänden. Man will sich orientieren, verstehen, sich unterhalten. ...
Vom Glück am Leben gewesen zu sein
08.11.2012 | August ist acht Jahre alt. Er hat seine Mutter auf der Flucht aus Ostpreußen verloren, sein Vater ist Soldat und wird vermisst. Um seinen Hals hängt eine Pappkarte mit der Aufschrift „Waise“. Lilo ist siebzehn und so etwas wie sein Schutzengel. Zusammen mit vielen anderen, die an den „Motten“, also der Tuberkulose erkrankt sind, bewohnen sie die Mottenburg. Die Mottenburg ist ein altes Schloss, das in den ersten Jahren nach Kriegsende ...
Österreichische Grimmigkeit
07.11.2012 | Ein Sprachspieler, ein Wortgewaltiger und Wörterzerleger ist Manfred Chobot, der 1947 geboren wurde und eine Vielzahl von Büchern veröffentlicht hat. Dabei sind Gedichte einer seiner Schwerpunkte. Drastischen Wortwitz und sexuelle Anspielungen flicht er zusammen mit zarten Passagen von empfindsamen Eindrücken. ...
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