Impressionen von Juliana Kaminskaja
(statt eines Berichtes zum Übersetzungsworkshop I zu Lyrik von Friederike Mayröcker)
dieser Nachsommer der mich mit seinen
grünen Armen umschlungen hält diese
glücklichste Stunde eine Viole am Himmel diese
langsamen Schritte die Strasze hinunter dieses
grüne Blatt in meinem Kalender diese roten
Blüten im grünen Gebüsch diese Gefühle vogel-
frei nämlich mein hohes Herz dies in der letzten
Sonne Sitzen so laubumwunden dieses eigene
Spiegelbild in der gläsernen Efeu Wand diese
glücklichste Stunde Tagmond am Horizont diese
welkende Sonnenblume im wehenden Garten diese
natürliche Vogelkehle von seitwärts blendet die Sonne
Aus: „dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif“
von Friederike Mayröcker
Das Wetter war trüb und ich hatte vergessen, meine Brille aufzusetzen. So etwas passiert mir selten, nur wenn ich mich zu Hause fühle. Stattdessen bin ich an einem Ort, wo ich nur ein einziges Mal war und dies vor zwanzig Jahren. Erkennen kann ich nichts, aber das Literaturhaus findet mich bestimmt, denke ich. Seit Wochen habe ich an dieses Haus gedacht, darauf hingearbeitet, mir vorgestellt, wie er sein wird – dieser Workshop zu Friederike Mayröckers Lyrik.
Ich beeile mich nicht, gehe ganz langsam und habe das angenehme wie seltene Gefühl, auf jeden Fall pünktlich zu kommen. Ich muss nach rechts. Weit und breit ist nur eine Figur unterwegs - ein schlanker Mensch bewegt sich genau so langsam mir entgegen, überquert die Kreuzung und hat offensichtlich vor, sich auch nach rechts zu begeben. Das Gesicht ist nicht erkennbar, überhaupt kann ich ohne Brille nur die Silhouette sehen. Aber meine Hand hebt sich und ich winke. Die Person winkt zurück und wundert sich, im Unterschied zu mir, über mein Verhalten nicht im Geringsten. Ohne auch nur einen Schritt zu beschleunigen, setzen wir unsere Wege fort, kommen uns immer näher und stoßen direkt an der Ecke aufeinander. Eine Überraschung – aus dem Mantel und dem dicken Schal schaut auf mich Aurélie. Auch mit Brille hätte ich keine Chance gehabt, meine französische Kollegin zu erkennen. Im Sommer, als wir uns bei Christel Fallenstein kennengelernt haben, sah sie ganz anders aus. Wir lachen, als hätten wir uns seit Ewigkeiten gekannt. Abgemacht war dieses Treffen nicht.
Anne Zauner tritt uns sicheren Schrittes im Literaturhaus entgegen. Sie hat helle, klare Augen, so dass ich gleich das Gefühl habe, richtig angekommen zu sein. Zu uns gesellt sich noch Bisera Dakova, die einen Tag nach unserem Lyrik-Workshop eine Sitzung zu Friederike Mayröckers Prosa leitet. Wir sitzen zu viert am kleinen viereckigen Tisch links vom Eingang – wie Kinder um einen Sandkasten herum – und besprechen ernsthaft die bevorstehende Aktion.
Für unser Gespräch über den Zwölfzeiler „dieser Nachsommer…“ haben sich weit über dreißig TeilnehmerInnen gemeldet, also muss die Arbeit in zwei Gruppen laufen. Dass wir ausgerechnet durch ein Kinderspiel die Räume verteilen, erscheint keinesfalls verwunderlich, sondern höchst folgerichtig. „Schere, Stein, Papier“ ist in Russland unbekannt, also mache ich mir Mühe, die Regeln, die mir von Anne und Aurélie mit allem Ernst erklärt werden, zu verstehen. Dies gelingt mir nicht durchgängig, aber der Situation entsprechend treffe ich meine Entscheidung konsequent und fühle mich darum ganz erwachsen: Ich heiße Kaminskaja, Kamine macht man aus Steinen, also wähle ich den Stein. Darum findet meine Sitzung oben statt, das heißt in der Bibliothek, die in den vergangenen Jahren viel umfangreicher geworden ist. Das gefällt mir.
Am nächsten Tag ist die Sitzung. Das kleine Nachsommer-Gedicht hat Christel Fallenstein glücklich ausgewählt, darum kommen sowohl die TeilnehmerInnen als auch allerlei Gäste zahlreich. Für die Letzteren sind hinter der Arbeitsrunde einzelne kleinere Tische und Stühle aufgestellt worden. Wie ich mich umdrehe, um darauf hinzuweisen, sehe ich, dass die ganze Gesellschaft bereits eng, aber friedlich um den gemeinsamen Tisch herumsitzt und mich freundlich anlächelt. Die einzige, die überzeugt war, am Katzentisch ihren richtigen Platz zu finden, war Friederike Mayröcker. Der Sandkastenkreis hat sich entscheidend vergrößert.
So ein bunt gemischtes Publikum erlebt man selten. Auf sehr individuelle Art werden ganz verschiedene Länder mit ihren eigenen Übersetzungskulturen vertreten – England, Frankreich, Italien, Kuba, Norwegen, Österreich, Russland, Serbien, Spanien… Studierende, die ihre ersten Übersetzungen mitgebracht haben, sitzen neben erfahrenen und berühmten ÜbersetzerInnen wie José Luis Reina Palazón, Liselotte Pope-Hoffmann oder Julia Schiff. Doch auch die Profis haben sehr unterschiedliche Vorgeschichten: Manche haben als Literaten ihre Wege zu den Werken Friederike Mayröckers gefunden, andere kommen aus der Linguistik oder aus der Literaturwissenschaft.
Schon allein vom Ansehen her ist mir gleich aufgefallen, dass die Leute um mich herum einander nur dadurch ähneln, dass sie einander so unähnlich sind. Die besondere Gabe Friederike Mayröckers für Paradoxien schlägt sich in ihrer Leserschaft nieder. So versammeln sich an unserem riesigen Tisch sichtbar stark ausgeprägte Persönlichkeiten, jede mit ihrem besonderen Zugang zu allem, auch zur Poesie. Was haben wir gemeinsam außer der Tatsache, dass die zwölf Zeilen des „Nachsommers“ uns faszinieren?
Ich versuche eine übereinstimmende Grundlage zu finden und konstatiere mit harmloser Miene, der Nachsommer sei ein Gedicht, in der Hoffnung, dass diese Banalität mit Sicherheit nicht zu bestreiten ist. Da habe ich mich aber geirrt. Von rechts, links und von vorne kommen rasch drei Wortmeldungen, denen ich entnehmen kann, dass in unserer Gruppe grundverschiedene Vorstellungen davon vertreten sind, was als Gedicht bezeichnet werden kann. Grundverschieden sind sogar die Vorstellungen davon, ob man sich dies angesichts eines konkreten Werkes überhaupt fragen darf. Auf welcher Basis lässt sich dann noch ein gemeinsames Gespräch aufbauen? Ich schaue mich um. Das Licht wirkt heller, der Raum flacher. Milchiges Weiß zerfließt um mich herum. Alles verlangsamt sich. Ein Fiasko, ohne die Arbeit angefangen zu haben – mit so etwas hatte ich nicht gerechnet, fällt mir ein. Ich habe schon unzählige Veranstaltungen zu Hause und im Ausland gehalten, also muss auch einmal ein Fiasko erlebt werden. Aber dass ich dafür ausgerechnet von so weit her kommen musste…
Christel klopft mir auf die Schulter, als hätte sie meine Gedanken in diesen Sekunden gehört, legt die Hand wieder auf den Griff ihres Gehstocks und lächelt. Sie hat gut lächeln, denke ich; dass die drei bevorstehenden Stunden Workshop dem Publikum Nutzen bringen, ist nur meine Verantwortung. Bestimmt lädt man mich nie wieder ins Literaturhaus ein, daran ist nichts zu ändern. Dann habe ich aber auch nichts mehr zu riskieren und versuche mein Bestes eben ohne Hoffnung auf Erfolg. Auf jeden Fall genieße ich die Freude, über ein Gedicht zu sprechen, das mich seit Wochen beschäftigt, auch wenn es ein etwas heikles Gefühl schafft, in Anwesenheit der Dichterin ihre Zeilen detailliert zu erkunden. Avanti.
Christel knirscht links von mir freundschaftlich mit dem Stuhl, ich nehme die Geräusche als Beistand wahr. Friederike Mayröcker und ihre französische Freundin nicken unterstützend. Ich spreche und spreche, mit immer mehr Freude daran, dass man mir zuhört, wenn ich darüber rede, was mir wichtig ist. In Russland ist mehrdeutige und komplexe Lyrik nicht gerade ein Gegenstand des öffentlichen Gesprächs. Im Gespräch ist stattdessen vieles, was mich traurig macht. Für Themen, die mich glücklich machen, sind gerade schlechte Zeiten angebrochen. Wie schön, denke ich nebenbei, dass es Reisen gibt, wie schön, dass es jemanden interessiert, was ich zu diesem besonderen Gedicht denke! Und prompt merke ich, dass ein gemeinsames Gespräch, das ich gerade eben noch für unmöglich hielt, schon längst im Gange ist. Wir denken mit und helfen einander. Immer deutlicher empfinde ich das angenehme Gefühl, zu einer raren Gemeinschaft der Sonderlinge zu gehören.
Natürlich sind wir Sonderlinge. Wer sonst könnte sich eine halbe Stunde lang mit höchster Spannung über ein Komma unterhalten, vor allem, wenn es dieses Komma im Gedicht nicht einmal gibt… Bei einem erneuten Anlauf, über das fehlende Interpunktionszeichen Klarheit zu gewinnen, schließt sich Friederike Mayröcker dem Gespräch an. Zum dritten Mal liest die Autorin ihr Gedicht vor, damit wir die sprachmelodischen Besonderheiten genauer registrieren können. In diesem Fall kann sie uns anders nicht helfen. Sowieso ein Wunder, dass sie es versucht, scheinbar vergebens, denn wer kann uns schon helfen… Aber es funktioniert, etwas im Text rückt näher. Wir besprechen Zeile für Zeile, Wort für Wort, vorhandene wie fehlende Kommas – zur allgemeinen Freude. Wir besprechen, was sich in welche Sprachen übersetzen lässt und wie man welches Problem umgehen kann.
Aus diesem Austausch entsteht am Schluss ein Hörerlebnis: Wir lesen unsere Übersetzungen in allerlei Sprachen vor – auch ins Lateinische aus der Vergangenheit und ins „Dehnische“ aus einer eventuellen Zukunft. Das wird zu einem seltenen akustischen Vergnügen: Die abgeklungene Übersetzung in eine Fremdsprache ist noch im Ohr, während die neue Übertragung schon ertönt, sie überlappen einander und mischen sich mit der nächsten Version. So läuft es weiter und weiter, bis unser Kreis oder Kranz aus geflochtenen Wörtern und raschelnden Papierblättern abgeschlossen ist. Das Zusammenspiel der Sprachen wirkt wie ein Gegenpol zum babylonischen Gewirr, denn jedes fremde Wort der seit drei Stunden besprochenen Übersetzungen erscheint schon verständlich und eigen. So entsteht beim Hören eine unerwartete Stretta, die in meinem Gedächtnis als vielfaches Echo eines besonderen Gedichtes immer noch tönt. Der „Nachsommer“ hat dadurch für mich zusätzliche Klangdimensionen erhalten, was eine Art stereoskopischen Effekt ausgelöst hat. Für dieses wertvolle Geschenk möchte ich mich bei allen TeilnehmerInnen des Workshops bedanken.
Punkt sechs mache ich Schluss, einmal in meinem Leben habe ich nicht einmal eine Minute überzogen und bin darauf kindlich stolz. Der Sandkastenkreis bleibt noch länger zusammen. Friederike Mayröcker hat mich umarmt, ich darf sie jetzt Fritzi nennen. Das fällt nicht leicht, aber ich übe. José Luis Reina Palazón lädt mich für den übernächsten Tag auf einen Kaffee ein, und ich bin immer noch traurig, dass ich seine Einladung damals nicht wahrnehmen konnte. Julia Schiff, deren Übertragung des Scardanelli-Bandes ins Ungarische bereits erschienen ist, lächelt sanft und sagt mir, sie habe noch nie an einem Workshop teilgenommen, aber es sei nicht schrecklich, sondern sogar angenehm und interessant gewesen. Liselotte Pope-Hoffmann hat ein Wort in Ihrer kostbaren Übersetzung des Gedichtes ins Englische geändert. Was braucht man sonst? Ich bin glücklich. Später gehe ich ins Cuadro-Café am Margaretenplatz, um zu sehen, was im November vom Nachsommer geblieben ist. Das Haus findet sich leicht, obwohl ich dort nie war. Es regnet, statt Sonne gibt es im Hof gelb gewordenes Laub, die Blätter sind feucht. Mir ist es warm.
© Juliana Kaminskaja, Dezember 2014