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Magazin für Verrisse aller Art
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EditorialLieber Surfer,Mario Vargas-Llosa vertrat vor einiger Zeit in einem Interview die These, in einem glücklichen und stabilen Land könne keine bedeutende Literatur entstehen. Diesem Satz zufolge müßte Deutschland eines der glücklichsten und stabilsten Länder des Universums sein. Kaum jemand scheint das wahrzunehmen, zumindest wenn man den Medien glaubt, die ein ganz anderes Bild zeichnen. Warum? Glück und Stabilität sind eben auch Feinde kritischer Intelligenz.
Dagegen sind wir natürlich machtlos. Wir haben ja auch nichts gegen Glück. Andererseits stecken wir bis unter die Haarwurzeln voller Ressentiment. Ja, Sie haben recht gehört, verehrte Surfer: Ressentiment. Sehen Sie es bitte so: Ressentiment bezeichnet die Stimmungslage des Ohnmächtigen, der sich den Zumutungen des Mainstreams überlegen weiß, aber keine Möglichkeit hat, sich dort zu artikulieren, wo er gehört wird. Hört man ihn doch einmal an aus purem Zufall, wird er verhöhnt, beschimpft und des Ressentiments bezichtigt: eine zirkuläre Situation, nur mit dem Hammer lösbar. Der Vorwurf Ressentiment war und ist der beliebteste Totschläger in den Händen jener geblendeten Blender, die in den Medien über die unhinterfragte Deutungshegemonie verfügen. Die elitaristische Arroganz dieser Zeitgeisteminenzen ist einerseits dialektischer Gegenpol zum Ressentiment, andererseits ist sie selber Ressentiment: Ressentiment von oben. Anders betrachtet: der Ressentimentgeladene ist Feind und Opfer jenes Mehrheitsrassismus, der in der Welt der freien Meinungsäußerung den Ton angibt. Gründe fürs Ressentiment schwelen überall in den doppelten Böden des Gesellschaftlichen mit seinen moralischen Prinzipien, Leitkulturen und rituellen Zwängen, nicht erst seit Nietzsche. Kann aber der Ressentimentgeladene sich selbst des Ressentiments bezichtigen? Da scheint ein Widerspruch zu liegen, denn Neid und Haß entschärfen sich naturgemäß im Fortschreiten der Selbsteinsicht, und im Aufbranden der ersten Haßflut ist Selbsteinsicht als Heilung noch nicht zu haben. Sie will erarbeitet sein: eine Frage der Intelligenz. So gesehen ist Ressentiment eine kritisch-produktive, keineswegs reaktiv-zerstörende Haltung. Betrachten Sie also unser Ressentiment als Rollenspiel, immer die Möglichkeit des Besseren vor Augen. Ach noch etwas: kürzlich erschien ein Buch mit dem wunderbaren Titel Comment parler des livres que l'on n'a pas lus? von Pierre Bayard, Editions de Minuit, Paris 2006 (Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat). Da fühlen wir uns unmittelbar angesprochen. Selbstverständlich werden wir das Buch nicht lesen, aber wir können es wärmstens empfehlen.
Die Redaktion
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