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Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 9


KULTUR?

Begriff im Angebot: alles muß rein


Der absurde Mißbrauch des Wortes Kultur (wir haben uns schon mehrfach darüber ausgelassen) gehört inzwischen zum Standard der Sprachvernichtung durch öffentliche Redner, gerne aus dem Lager der Politik. Dennoch schmerzt er immer wieder. Kürzlich hat ein Herr Nachtwei (laut SZ Mitglied der Grünen) die Verhältnisse im Kongo beklagt. Er sprach von einer Kultur der Verrohung, die sich dort breitmache.
Kultur der Verrohung? Das klingt ein bißchen harmlos angesichts der Untaten, von denen Herr Nachtwei berichtet. Vergewaltigung steht an erster Stelle, aber die Liste der Greuel reicht bis hin zum Kannibalismus.

Nennen wir die Dinge doch beim Namen: es gibt also jetzt, so müßte Herr Nachtwei es nennen, eine Kultur der Vergewaltigung. Zum Glück - oder Unglück - will uns hier der Begriff Kulturtechnik einfallen. Kultur als das Große, Ganze, Erhabene, damit kommt man im Konkreten nicht recht weiter, aber Kulturtechnik könnte helfen. Gewöhnlich denkt man da an Lesen und Schreiben oder Kochen, aber auch Vergewaltigung kann so verstanden werden, wenn sie kein singuläres Verbrechen ist sondern ein systematisch angewandtes Prinzip.
Ohnehin teilen uns Psychologen immer wieder mit, daß Vergewaltigung weniger sexueller Befriedigung diene als vielmehr einer Demonstration von Macht und Unterwerfung. Jeder Pavianfürst beweist es. Im Krieg (Vater aller Dinge) wird Vergewaltigung von jeher zum Zweck der Unterwerfung und Demütigung systematisch praktiziert wie jedes andere denkbare Verbrechen auch. Schon die Griechen der Antike (edle Einfalt, stille Größe) bedienten sich solcher Mittel, einschließlich Menschenopfer und Kannibalismus. Aber soweit müssen wir in die Geschichte nicht zurück, Goya steuerte ungeschminktes Bildmaterial (Los Desastres de la guerra) bei, und zwar am Ende des 18. Jahrhunderts, also jenes berühmten Jahrhunderts der Vernunft (Kant, Rousseau, Voltaire): eine Demokratie wurde gegründet, aber auch die Guillotine wurde erfunden, auch sie ein Werk schöpferischen Geistes, ein Werk der Ratio.
Offenbar schlief aber die Vernunft die meiste Zeit, auch das hat Goya gesehen: Der Schlaf der Vernunft erzeugt Monster (El sueño de la razón produce monstruos).

Es war also alles schon immer so, aber von allen Jahrhunderten, die wir kennen, war das übelste wahrscheinlich das 20., noch in den 90er Jahren wurde in Bosnien, das wir nicht nur geographisch zu Europa zählen, ausgiebig vergewaltigt. Wenn also Krieg, so sehr man ihn auch verabscheut, eine Kulturtechnik ist, so ist Vergewaltigung eins seiner Mittel, und keineswegs nur eines zurückgebliebener Schwarzafrikaner, pardon Afroafrikaner. Was wunder auch, sind wir mit ihnen doch von der Wurzel her verschwistert. Paläoanthropologen behaupten ja in letzter Zeit, wir, die Gattung Homo sapiens sapiens, entstammten in unserer Gesamtheit zentralafrikanischen Regionen, hätten uns, von dort ausschwärmend, die Welt untertan gemacht. Vergewaltigung ist offensichtlich eine der menschlichen Natur innewohnende archaische Verhaltensweise, wenn man will: Kultur im Sinne von Herrn Nachtwei.

Er und viele andere, die jene Kultur der Sprachverrohung betreiben, sollten das bedenken. Bisher hatte man ja angenommen (naiv vermutlich) daß Kultur, sagen wir mal als solche, gesellschaftlichen Verrohungen entgegenwirken müßte oder könnte, nun aber ist Verrohung selbst ein Teil von Kultur. Wir können also ohne weiteres z.B. auch von einer Kultur des Raubmordes reden, einer Kultur der Pädophilie, was auch immer, alles ist möglich, Kultur bezeichnet alles, was wir tun und wie wir es tun, oder haben wir da was falsch verstanden?

Herrn Nachtwei empfehlen wir übrigens, seinen Kulturhusten zu bekämpfen. Gerade in Afrika gibt es da viel zu tun, sei es die Kultur des Kannibalismus, die Kultur der pharaonischen Beschneidung, die Kultur des Genozids und was nicht noch.

Seltsam, wie einfach doch die Welt werden kann, wenn man die traditionell verengten Bedeutungsfelder mancher Worte einfach ein bißchen erweitert, liberalisiert. Irgendwie wird es dann sogar demokratisch, irgendwie wird es leichter zugänglich, irgendwie kommen wir dann besser damit zurecht. Kultur der Verrohung, das klingt gleich viel zivilisierter und appetitlicher als Verrohung allein, beinahe schon gesellschaftlich notwendig, wenn nicht erwünscht, zumindest gebilligt, denn wenn etwas Kultur ist, kann es nicht mehr so schlimm sein, es gehört zu uns, und darum brauchen wir auch nicht einzugreifen. Das vor allem ist wichtig, wir wollen uns in unserer Kultur der Ruhe nicht stören lassen. Schließlich gilt doch immer noch: andere Völker, andere Sitten, und Sitten, die gehören doch auch zur Kultur, irgendwie, selbst wenn sie roh sind, oder nicht?

Vertigo Vomex






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