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Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 9


MERKUR

Denken oder Dekadenz?


Der MERKUR - nicht jenes weithin unbekannte Münchner Käseblatt, sondern die DEUTSCHE ZEITSCHRIFT FÜR EUROPÄISCHES DENKEN - gibt gelegentlich ein Sonderheft heraus. In der letzten Nummer geht es um das Thema Dekadenz. Man findet in dem Heft einige kluge Artikel. Man findet aber auch den Artikel eines Herrn Thomas E. Schmidt, Kulturkorrespondent der Wochenzeitung DIE ZEIT, mit dem Titel: Der dekadente Westen ist nicht müde.

Mit dem ebenso dürftigen wie abgedroschenen Trivialitäten des Textes mögen wir uns nicht weiter befassen, denn eine derart horrible sprachliche Verquasung haben wir noch selten erlebt. Der Jargon, den der Herr Kulturkorrespondent hier anschlägt, zeichnet sich durch eine hemmungslose Verbalprotzerei aus, die nur zwei Zwecke verfolgt, erstens sich selbst zu erhöhen, und zweitens den Leser einzuschüchtern und zu verwirren, um damit die Banalität seiner unklaren bis falschen Behauptungen zu verschleiern und aufzuwerten. Zudem ist das von ihm kreierte Wortmaterial von einer geradezu bombastischen Scheußlichkeit. Wir zitieren:

... der Gedanke an das Gerichtete und Kumulative wurde dem Verlachen preisgegeben ... Ökonomie und Technik sind der kalte Kern des Menschlichen ... soziale Kohärenz ... das Narrativ dieser Gesellschaften ... die Moralen der Selbsterhaltung ... menschliche Interesssensgeographie ... vorläufig meint das Stichwort vom postliberalen Zeitalter nur eine kleine Erzählung innerhalb einer intakten großen. Vermutlich besteht aber das deutlichste Indiz für Veränderungen in der inzwischen real möglichen Koexistenz der Phänomene und der Erzählungen über sie ... thymotische Energien ... widervernünftig ... der durch das platonisch-hegelianische Prisma fallende Blick auf Geschichte ist von vornherein sozialer, kommunitärer als der liberale ... therapeutische Traumaerzählungen ... protohistorische Kraft von Naturwissenschaft und Technik ... anthropomorphe Zwecksetzungen des nachindustriellen Zeitalters ... Kreativität polt gesellschaftliche Dynamik von interessegeleiteter Rationalität auf freie, voluntative Zwecksetzung um ... kollektives Luxurieren ... der westliche Thymos war fast immer skrupulös gebändigt, und sei's auch nur philosophisch ... die nun eintretende Begrenzung des westlichen Narrativs durch Postliberalismus und Posthistoire ... in diagnostischer Hinsicht folgen die Bilanzen von Postliberalismus und Posthistoire dem Spenglerschen Weg einer systemischen Arrondierung ... Kulturalismus ... illusionstranszendente Wahrheit ... der westliche Thymos mag historizistisch erschlaffen, normativ schöpft er neue Kraft ... Protoglobalisierung ... postnationaler Mehrwert ... die historische Selbstaufklärung des Westens soll mit einer faktischen Alternativlosigkeit politischer Metaziele in eins fallen ... Ausstülpung aller Malaisen ins Globale ... der welthistorische Prozeß beginnt historisch-posthistorisch zu schillern ... interessegebundene Globalvernünftigkeit ... aus sozialen Gründen ist kein Konsenz über die Deutung der Natur herzustellen ... sie bleibt auf der einen Seite Material des Fortschritts, und sie ist auf der anderen Seite Telos einer postfortschrittlichen Selbstzügelung der Industrieländer ... auch Vertreter der Schwellenländer konzedieren, daß die Rationalitätsvermutung in der Frage des Klimaschutzes auf seiten des globalen Normativismus liegt ...

Ja, da legst di nieder. Alle Malaisen der Welt sind hier voll ins Globale ausgestülpt. Wie bedauern, den rhetorischen Schwulst, der hier abgesondert wird, nicht in seiner monströsen Gesamtheit vorführen zu können. Notwendigerweise sind die Zitate daher aus dem Zusammenhang gerissen. Innerhalb des Zusammenhangs wirken sie noch weitaus grusliger. Wie ein derart geckenhaft gespreiztes Modegeschwafel mit pseudointellektuellem Kultsound und Erkenntnisnullwert in die heiligen Hallen des Merkur hineingeriet, wird wohl ein Rätsel bleiben.

Kees van de Verschredderen






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