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Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 9


HERRENREITERPROSA

Anwandlungen bei Heimito v. Doderer: Strudlhofstiege


Ermüdet, niedergeschlagen, ja gelähmt versuchte ich, von einer Lektüre der Strudlhofstiege zu genesen. Was war es, das mir das Schreiben dieses Autors, Heimito von Doderer, unverträglich machte? Was geschah, als ich lesend immer wieder zu Boden ging, und wie sollte ich darüber sprechen oder schreiben, ohne in den bestialischen Jargon eines Literaturgewerbetreibenden abzusacken? Oft hatte ich die Mahnung vernommen, bei solchen Betrachtungen hätten Aspekte des Formalen im Vordergrund zu stehen, höchstens in zweiter Linie solche des Inhalts. Aber das war schon Seminaristengezänk, ich habe mich solchen Haltungen oder Meinungen niemals anschließen können, denn ist es unmöglich, Aspekte des Formalen ohne Berücksichtigung des Inhaltlichen zu beschreiben, ich meine angemessen, einer Sache zuträglich, und umgekehrt.

Bei Doderer geschah es mir oft, nicht selten von Satz zu Satz, daß die Form sich vom Inhalt abzulösen schien nach Art einer Enthäutung oder Mazeration. Ich stand im Leeren, Elemente des Inhalts umgaben mich wie amorphe Massen, zäh, farblos, undurchsichtig, pastös, nach Art eines verwesenden Leibes, der zu lange künstlich beatmet und ernährt wurde, darum auf natürliche Weise nicht mehr zu zerfallen vermochte, stattdessen auf rätselhafte Weise geschwulstartig weiterschwoll und endlos proliferierte.

Dann wieder schien die Gestaltungsart den Inhalt wie eine immer fetter werdende Made parasitär zu durchdringen, als wollte sie selber Inhalt werden. Doch bis zur Metamorphose drang die Wurmisierung nie vor, nicht einmal Verpuppung gelang, denn aus jedem Satz dröhnte, zeterte, jodelte, erbarmungslos oder penetrant, die peinlich angeheiterte Altherrenstimme eines Erzählers, der nicht fähig oder willens war, die Zügel locker zu halten, also der Sache doch bitte gnädig ihren Lauf zu lassen. Hinter dem manischen Kontrollzwang der Erzählerstimme schien sich Unsicherheit und eine erhoffte, bestenfalls erzwungene Souveränität zu verbergen. Ja, diese Stimme hatte etwas zu verbergen, aber was? Ich hätte gerne auf sie verzichtet, überall mischte sie sich konfabulatorisch ein, brachte Raum und Zeit willkürlich durcheinander, warf wahllos Dinge auf einen Haufen, stiftete absichtlich Verwirrung, ohne Not, ohne inneren Anlaß, als wollte sie Fülle vortäuschen, wo Leere war. Der haltlose Übermut eines Trinkers toste durch die Seiten, kraftprotzender Vorwand einer schweißig-zittrigen Schwäche. An den adipösen Klang eines überinstrumentierten Orchesters wurde ich erinnert, an Kompositionen eines hoffnungslos verspäteten Nachromantikers, dem die Angst im Nacken saß, man könnte ihn für sentimental halten oder kitschgefährdet, oder horribler noch: heiter, leicht.

Oft nahm die Stimme eine dressurreiterartige Pose an, korsettgestählt, im Rhythmus eines stoppelnden Trabs über Felder im Frühherbst, kasinomäßig adlernäselnd, erzherzogartig. Die viskösen Blähungen der Textkonvolute verdichteten sich zu Agglutinaten, die jegliche Kanäle von Rezeptionsbereitschaft verstopften. In dem ungebrochenen Dröhnen blieben zartere Passagen Eilande, auf denen ich, selten genug, Luft schöpfen durfte: Leutnant Melzer und Major Laska auf Bärenjagd im bosnischen Hochwald der Treskavica. Das war etwas, das später immer wieder auftauchte, etwas Verlorenes, plötzlich Poesie. Die Stimme aber ließ längeres Verweilen nicht zu, paukte weiter. Irgendwann gab ich auf, ließ mich mitschleppen, konstatierte dem Autor resigniert ein artistisches Vermögen hohen Grades, das mich kalt ließ. Ich war in diesem Text nicht gerne gesehen, und das war eine tragisch-herbe Enttäuschung, denn das Inhaltliche, jene Epoche vor und nach dem I. Weltkrieg, Wien zwischen 1911 und 1925, fände ich bewegend, interessant, bedeutend, großer Weltstoff, aber was besagt das schon, wenn's der Autor vermasselt?

In meiner dtv-Ausgabe las ich auf der Rückseite folgendes: Doderers Strudlhofstiege ist ein raffinierter, psychologischer, durch und durch moderner Roman. Sein scharfer Blick dringt so tief, daß man von einer Freilegung bislang unaufgebrochener Schichten sprechen kann. Dazu kommt Doderers köstliche Sprache. Man muß schon bis auf Nestroy und Hofmannsthals Schwierigen zurückgreifen, um eine so unverfälscht bodenständige, reiche, saftige und auf das einzelne abgestimmte Redeweise zu vorzufinden. Diese Sprache hat Tradition und ist doch gleichzeitig modern. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß es sich hier um ein seltenes Meisterwerk handelt, das zu den wesentlichen Äußerungen des österreichischen Genius zählen wird.

Wie bitte, was? Dieser Schwall stammt aus der Süddeutschen Zeitung, der Täter wird geflissentlich verschwiegen. Vom Hochsitz eines meinungsbildenden Tageblattes für die obere Mittelschicht wird hier hemmungslos heruntergeballert, ohne daß auch nur der Hauch einer Erklärung der vollkommen schwammigen und schablonenhaften Begriffe geliefert würde: durch und durch modern, unaufgebrochene Schichten, wesentliche Äußerungen, österreichischer Geist?

Derartigen Seich nennen wir Ressentiment von oben.

Elsbeth v. Johlen und Schwallbach






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