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Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 9


NACHKÖMMLING

Abwandlungen bei Martin Mosebach: Westend


Jemand Kluges könnte gesagt haben, daß Menschen ihre Überzeugungen nicht nach deren Wahrheitsgehalt wählen, also nicht aufgrund einer rationalen Entscheidung, sondern gemäß individueller Eigenart. Unseren Urteilen ginge dann eine primär emotionale Entscheidung voraus, die nicht näher begründet werden kann, sondern aus jener Eigenart der Persönlichkeit entsteht, vielleicht sogar aus deren genetischer Disposition. Irgendwann werden wir das genauer wissen. Angewandt auf ästhetische Urteile könnte man sagen: es wird immer jemanden geben, dem etwas gefällt, das anderen nicht gefällt und umgekehrt.

Bei Martin Mosebach mit seinem Roman Westend wurde ich von einer merkwürdigen Zwiespältigkeit befallen. Die Medien, opportunistisch wie sind, jubelten enthemmt, als Mosebach kürzlich den Büchner Preis erhielt, von notorischen Nörglerinnen und Nörglern à la Sigrid Löffler abgesehen. Dabei hatten führende Rezensenten der deutschen Lit-Szene den Autor Mosebach jahrzehntelang zur Schnecke gemacht. Als ein dem formgebundenen Erzählen anankastisch ergebener Reaktionär ward er gebrandmarkt, ja verachtet. Ich hatte Mosebach gerade deshalb geschätzt als einen, der nicht mit dem Strom schwamm. Sein Wille zur Form, seine nichtidealistische Ästhetik gegen jede Art von Zeitgeist hatten mich für ihn eingenommen.

Bei Westend befiel mich jedoch der Bazillus der Dodererschen Lähmung chronisch-rezidivierend. Auch hier jenes agglutinierenden Erzählen, auch hier die allezeit gegenwärtige Stimme eines Erzählers, der vor allem sich selber Kontur schuf auf kosten der Personen des Romans. Die Erzählung selbst blieb ein seltsam schattenhaftes Konstrukt eines redundanten Räsonierens, eines sich in fragwürdigen Vergleichen nicht selten strangulierenden Erwägens. Neben dem Dodererschen Syndrom schmeckte ich noch manches andere Bekannte heraus, das von travestierten Wahlverwandschaften bis zur fontanoiden Plaisierlichkeit zum Markenzeichen von Mittelklasseepik gehört.

Jener von Benn so unbarmherzig erkannten Plaisierlichkeit als Essenz des Fontaneschen Werks konnte man noch zugute halten, daß sie dem Redegestus der besseren Gesellschaft des 19. Jahrhunderts entsprach, einem Gestus, der vielleicht notwendig war, um zwischen den Zeilen das zu sagen, was man unverblümt nicht aussprechen konnte, wollte oder durfte, eine seltsame Art von Redundanz, die Reduktion bewirkt.

Die bei Mosebach spürbare Plaisierlichkeit entsprach der allwissenden Gestimmtheit des Erzählers nach Art einer herablassenden Geste. Sie minderte nicht nur den Rang des Buches, sie nahm ihm auch Glaubwürdigkeit und die doch intendierte Ernsthaftigkeit. Sie tünchte die Sätze mit der Patina plagiierter Antiquitäten. Eigentlich ein Jammer, wie hier der Autor Mosebach ein gewichtiges Sujet über die Klinge seiner Ambitionen, seiner stilistischen Exerzitien springen ließ, nämlich die zweite Zerstörung deutscher Städte im Wirtschaftswunderwahn nach der Vorarbeit durch allierte Bombertätigkeit am Beispiel des Frankfurter Westends. Sollten antimoderne Reflexe hier bedient werden, die uns oft befallen, wenn wir die Elaborate sogenannter Popautoren oder Joyce-Epigonen genervt beiseitelegen, oder jener noch viel gruseligerer Autisten der Eigenendoskopie und Masturbationsstudien aus der Suhrkamp-Gruft?

Was für Leute könnten es sein, die solche Romane lieben? Chefarztwitwen in Gründerzeitvillen, feine alte Damen mit Bildungshintergrund in irgendeinem Augustinum mit Blick auf den Taunus, ausrangierte Germanisten mit postmodernen Ressentiments, all jene also, die mehr Zeit zum Lesen haben, als sie brauchen, und Heimito von Doderer - Mosebachs epische Amme - für einen der führenden Premiumautoren des 20. Jahrhunderts halten?

Sabine Sense-Sähbelmann






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