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Magazin für Verrisse aller Art    Archiv

Herausgegeben von Hans Dieter Eberhard

   



AUSGABE 9


Schreiberhack III: DEPRESSION UND WAHN

zu Peter Schneider: Rebellion und Wahn


Der Grundton des Buchs ist Melancholie, ich höre sie genau. Aber was für eine Art von Melancholie ist das, welches sind ihre Quellen?

Peter Schneider gehörte von Anfang an zur linken Prominenz, kannte sie alle, von Dutschke bis Henze und Feltrinelli, spielte Skat mit Grass. Schneiders Tagebuchauszüge, mit denen er seine Retrospektive schmückt, sind Texte eines ratlos Depressiven von der adoleszenten Sorte, wenig ergiebig, keine Texte eines Fanatikers. Schneider erkannte früher als andere die Hilflosigkeit der Intellektuellen angesichts politischer Veränderungen, z.B. 89 (siehe dazu auch Peter Schneider: Vom Ende der Gewißheit).

Nun nimmt er noch einmal Abstand von den hysterisch-paranoiden Wahnsystemen der sogenannten Rebellion von 68. Jener ideologisch-bornierte, lächerlich bis peinliche, marxistisch-leninistisch inspirierte Klassenkampfjargon, den die studentische Bewegung allzu schnell, ja gierig adoptiert hatte, war Leitsymptom ihrer Pathologie, das sieht Schneider deutlich. An ihrem Jargon erstickte die Bewegung. Er sieht auch, wie kindisch hilflos jeglicher Gedanke an politische Verwirklichung dieses Wahns war. (Dafür danken wir im übrigen wie auch er dem Himmel.)

Umso unverständlicher bleibt Schneiders Glaube an eine nachhaltige kulturelle Erneuerung der Gesellschaft, welche die Studentenbewegung zustande gebracht habe. Mit der Kultur des Gehorsams habe sie gebrochen, so Schneider, und zwar massenhaft und vielleicht für immer.
Das sogenannte deutsche Obrigkeitsdenken, ist hier wohl gemeint, aber dieses Denken ist nicht typisch deutsch sondern typisch menschlich und höchst banal, und es ist global überall da verbreitet, wo es Obrigkeiten gibt. (Wer einmal die Panik italienischer Studenten vor der Polizei erlebt hat, weiß, was ich meine.)

Da möchte ich dann gerne fragen, auf welchem Planeten Peter Schneider nach jenem kurzen Sommer der Anarchie denn gelebt hat. Auch demokratische Gesellschaften waren von jeher hierarchisch strukturiert und werden es bleiben. Fabriken, Konzerne, Ämter, Ministerien, Universitäten, Schulen, Krankenhäuser, keine Institution ohne Hierarchie, und Hierarchie heißt: wenige sind oben und ordnen an, viele sind unten und führen aus. Manche Hierarchien wurden flacher gelegt, ein paar Gepflogenheiten sind mit der Mode gegangen, Äußerlichkeiten haben sich verändert, es gibt jetzt ein rasches, meist allzu rasches Du, Kleiderordnungen sind gefallen, Klassenschranken werden kaschiert. Man kann heute im Schlafanzug in die Oper gehen. Lehrer unterscheiden sich nur noch durch Bauch und Haare von ihren Schülern, aber sie sitzen immer noch am längeren Hebel. Jener antiautoritäre Impuls vor 40 Jahren war schnell verpufft. Befehl und Gehorsam tragen jetzt andere Namen, aber das Prinzip Obrigkeit hat sich nicht geändert, es ist nur kreativer geworden.

Leider repetiert Schneider dann auch noch jene geschichtsvergessene Legende, die BRD sei bis 68 eine nur formal existierende Demokratie gewesen. Diese Behauptung ist selber Teil jenes Wahnsystems, das er in seinem traurigen Buch zu erläutern versucht, obwohl er Neuigkeiten nicht zu bieten hat. Der Fall ist abgehakt.
Warum schreibt er dann? Vielleicht um Abstand zu gewinnen, oder hofft er auf Absolution, oder einfach nur deshalb, weil gerade alle wieder davon schreiben? Immerhin gehörte er zu den Erzeugern und Wasserträgern jenes Wahns, der ihn nun wieder einholt, aber der Mut zu wirklicher Umkehr, zur Selbstheilung fehlt.

So lese ich hier die Melancholie eines alternden Mannes, der die Vergeblichkeit seiner Irrtümer nur halb verstehen will.

Benito Salvarsani






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