Anekdote 20
Anekdote 20: Klassische Tropfenklänge
... oder: Warum der berühmteste Komponist, der je auf der Sonneninsel tätig war, vom Regen inspiriert wurde
Auf Mallorca kann es unangenehm kalt werden, und es kann sehr, sehr stark regnen. Vor allem der Herbst und das Phänomen der »Gota fría« (kalter Tropfen) zum Sommerende sind für teilweise brutale Wolkenbrüche bekannt. Als 2007 in Palma die erste U-Bahn-Linie der Insel in Betrieb genommen wurde, musste sie nur wenige Monate später geschlossen werden: Nach starken Regenfällen stand das Wasser bis zu zweieinhalb Meter hoch, die Medien verspotteten den Prestigebau als »längstes Hallenbad Spaniens«.
Auch hat es in der Geschichte der Insel schon mehrere Überschwemmungskatastrophen gegeben. Nicht katastrophal, aber unangenehm war das Wetter, das Frédéric Chopin während seines vielzitierten Aufenthaltes im Winter 1838/1839 auf Mallorca erlebte. Der polnische Komponist und seine Reisegefährtin, die französische Autorin George Sand und deren Sohn, fanden in der Zelle eines Klosters des Tramuntana-Dorfes Valldemossa Quartier, und in jenem feuchten und nicht sehr fröhlichen Gemäuer gab sich der Musiker eines Abends seiner notorischen Schwermut hin, denn Sand und Sohn waren zu einem Ausflug nach Palma aufgebrochen und noch nicht zurückgekehrt. Aus gutem Grund: Ein Sturm war aufgekommen, es goss in Strömen und Sands Kutsche blieb im Morast stecken.
Chopin saß also mutterseelenallein in seiner Zelle und komponierte sich seine Melancholie von der Seele, indem er die Prélude Nr. 15 schrieb. Wie die Musikhistorikerin Aránzazu Miró in ihrem Buch über »jenen Winter Chopins auf Mallorca« schreibt, ahmte der Komponist darin musikalisch den Laut von Regentropfen nach.
Nun könnte man einwerfen, dass Sonnenstrahlen lautmalerisch weitaus schwerer nachzuahmen sind. Andererseits ist das Thema »Sonne & Mallorca« vor allem in leichteren musikalischen Genres rauf- und runterkonjugiert worden, wenn auch nur in Liedtexten wie auch sonst?
Somit ist Mallorca in der Ersten Liga der klassischen Musik mit einem Stück über Regentropfen vertreten. Dem sonnigen Ruf der Insel, ja auch dem Ruf von Valldemossa und dem Kloster, in dem Chopin und Sand einen nicht gerade heimeligen Winter verbrachten, hat es nicht geschadet: Ein Besuch in der »Chopin-Zelle« gehört zum Pflichtprogramm des kulturbeflissenen Inselbesuchers.
©Fitzner Weitere Leseproben
[Zurück zum Buch]
|