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Startseite > Bücher > Aknedoten > Fabylon > Thomas Fitzner > WO ZUM KUCKUCK SIND DIE PALMEN? > Leseproben > Anekdote 76

Anekdote 76

WO ZUM KUCKUCK SIND DIE PALMEN?

Thomas Fitzner
Kurzgeschichtenband / Aknedoten

Fabylon

Taschenbuch, 232 Seiten
ISBN: 978-3-943570-85

Apr. 2017, 14.90 EUR
Bestellen: Jetzt bestellen / auch als eBook erhältlich

Trauerzug durch den Patio
... oder: Als den Eigentümern eines Stadtpalastes der Kragen platzte

Allein die Hauptetage, der so genannte »piso noble«, besteht aus 29 Räumen: 3 Schlafzimmer, 7 Wohnzimmer, ein Festsaal, Kapelle mit Sakristei, 2 Esszimmer, 1 Hauptbadezimmer, 1 Küche sowie allerlei Nebenräume wie das sogenannte Kaminzimmer. Das Casal Solleric ist einer der meistbestaunten Prachtbauten an Palmas zentraler Flaniermeile »Passeig des Born«. Was viele nicht ahnen: Die herrlich geschmückte Fassade ist eigentlich das Hinterteil des Palastes, der Haupteingang befand sich an der Hintergasse Sant Gaieta. An der Borne-Seite öffneten sich ursprünglich die Tore zu den Kutschen-Garagen, und das war auch die wilde Seite des Hauses: Auf dem Borne wurde seinerzeit duelliert, wurden Turniere abgehalten, verbrannten die Inquisitoren »Hexen« und flossen nach Regenfällen Müll und Dreck meerwärts, bis 1867 einem energischen Bürgermeister das »Upgrade« von der Kloake zur Prachtstraße gelang (siehe auch Anekdote 80).
Nun muss man wissen, dass der Patio im traditionellen mallorquinischen Haus ein halböffentlicher Raum war (siehe Hintergrund). Als eine kleine Nebengasse für den Kutschenverkehr gesperrt wurde, begann das Volk den damals offenen Durchgang quer durch die Patios des Casal Solleric zu verwenden, vom damaligen Hintereingang am Borne bis zum damaligen Vordereingang an der heutigen Nebengasse Sant Gaieta.
Die Familie störte das nicht weiter, es war normal, bis denen von Solleric eines Tages dann doch der Kragen platzte: Ein Beerdigungszug wählte seinen Weg quer durch die Patios des Herrenhauses, und weil’s so schön war, machte die Truppe im Hauptpatio Halt und sang dort dort einen Respons – einen Trauergesang – auf den nicht einmal entfernt mit den Solleric-Erben verwandten Verstorbenen. Am nächsten Tag, so erzählt die Familienchronik, wurde die Borne-Seite verrammelt.
Nachbemerkung: Das Casal Solleric, damals Can Morell genannt, blieb jedoch für die Künste ein offenes Haus. Die Familie brachte nacheinander zwei Maler hervor, die zu den bedeutendsten der Inselgeschichte zählen: Fausto Morell i Orlandís, dessen Ölgemälde unter anderem in der Kirche San Francisco, im Rathaus von Palma und in der Kartause von Valldemossa hängen, und Fausto Morell i Bellet, dessen Werke unter anderem den Sitzungssaal des Inselrates zieren.
Der Letztgenannte war ein Kulturfreak und trommelte regelmäßig das Familienorchester zusammen, um Kammeropern aufzuführen. Dafür ließ er extra ein kleines Theater im Palast einrichten. Die Bühnenbilder malte er natürlich selbst.
Soviel Kultur war schön, aber nicht einträglich, und der wirtschaftliche Niedergang der Familie zwang zum Verhökern des Familiensilbers. Im Erdgeschoss an der Bornefassade quartierten sich in den vergangenen hundert Jahren unter anderem eine Bank, ein Café, ein Souvenirladen, eine Reiseagentur und sogar die insulare Jägervereinigung »La Veda« ein. Kurioserweise fand selbst in dieser dunklen Epoche die Kultur Eingang, weil die Halali-Caballeros in ihren Klubräumen auch Kunstausstellungen veranstalteten.
Bis 1963 war das Casal Solleric noch bewohnt. Die Familie war schon lange nicht mehr in der Lage, das Riesenhaus zu erhalten und 1975 verkauften die Erben es an die Stadt. Zwei Jahrzehnte später erlebte das Casal seine Rennaissance als öffentliches Kulturzentrum der Stadtverwaltung.

Hintergrund

Die Privatsphäre ist den Mallorquinern heilig. Diese Haltung zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Einfache Dorfhäuser verfügen über einen Eingangsraum in der Größe eines Wohnzimmers, der als Übergangsbereich zwischen der Straße und dem Intimbereich der Familie dient. Hier werden Besucher empfangen, hier findet die Begegnung zwischen Außenwelt und Innenwelt statt.
In den städtischen Herrenhäusern ist dieses Konzept auf die Spitze getrieben. Der Patio ist eine Erweiterung der noch mittelalterlich dimensionierten und ergo schmalen Gasse, bereits Territorium des jeweiligen Besitzers, doch in früheren Zeiten offen für Passanten, die hier Wasser trinken oder bei Regen Unterschlupf suchen konnten. Damals war der Patio ein halböffentlicher Raum, ein Verteiler, von dem jeder gemäß Status und Funktion seinen Weg nahm. Besucher gelangten über eine elegante Treppe in einen ersten Empfangsraum. Das Herrenhaus verfügte über mehrere Salons, die einzig dem Empfang von Gästen dienten, und die Wahl des Salons hing jeweils vom gesellschaftlichen Rang und Prestige des Besuchers sowie seiner Beziehungsnähe zum Gastgeber ab. Nur besonders nahestehende oder bedeutende Besucher wurden in die eigentlichen Wohnräume der Familie gebeten.
Wenige Inselfremde werden je so weit vordringen, sei es metaphorisch oder tatsächlich. Die Zeiten haben sich geändert, viele der alten Herrenhäuser wurden zu Appartementblocks umgebaut, abgerissen oder erfüllen heute andere Funktionen. Doch in der Mentalität der Mallorquiner ist das erwähnte Schema trotz der tiefgreifenden Veränderungen der Inselgesellschaft noch immer präsent. Eine nüchterne Fassade nach außen hin, ein reservierter Austausch mit Fremden und Bekannten, und letztlich, im sorgsam abgeschirmten Intimbereich, eine von Lust zum Überfluss, Warmherzigkeit, Familiensinn und Temperament geprägte Atmosphäre. Fassade, Patio, Empfangsraum, Intimsphäre – die Symbole des mallorquinischen Lebensstils.
Dieser Lebensstil ließe sich problemlos bereits aus der Gegenwart heraus erklären. Mallorca wird von jährlich mehr als zehn Millionen Touristen überschwemmt, fast die Hälfte der Bevölkerung wurde nicht auf der Insel geboren, stammt aus Andalusien, Marokko, Großbritannien, Deutschland, Südamerika, und so weiter. Dass sich unter diesen Bedingungen überhaupt eine eigene Identität erhalten und behaupten konnte, ist ein kleines Wunder, das sich unter anderem mit den erwähnten mentalen Barrieren erklären lässt. Barrieren, die durch den Gebrauch einer eigenen Sprache besonders wirksam sind.
Doch die Wurzeln dieser Mentalität reichen weiter zurück. Die strategische Lage Mallorcas im westlichen Mittelmeer hat es den Insulanern nie erlaubt, sich in »splendid isolation« dem Genuss ihres Paradieses hinzugeben. Ein ständiger Bevölkerungs- und Kulturaustausch durch Invasionen, Kriege, Emigration und Inmigration hat den Mallorquinern eine nahezu genetisch bedingte Skepsis gegenüber allem Fremden beschert. Ein sichtbarer Ausdruck dieser Schutzhaltung ist der Umstand, dass außer Palma keine einzige historisch bedeutende Siedlung direkt am Meer liegt. Jedes Küstendorf, jedes Küstenstädtchen liegt einige Kilometer landeinwärts und verfügt über einen kleinen Hafenort als Ableger. Sicher ist sicher.

©Fitzner
©Fitzner

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