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Anekdote 76
Trauerzug durch den Patio HintergrundDie Privatsphäre ist den Mallorquinern heilig. Diese Haltung zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten. Einfache Dorfhäuser verfügen über einen Eingangsraum in der Größe eines Wohnzimmers, der als Übergangsbereich zwischen der Straße und dem Intimbereich der Familie dient. Hier werden Besucher empfangen, hier findet die Begegnung zwischen Außenwelt und Innenwelt statt.In den städtischen Herrenhäusern ist dieses Konzept auf die Spitze getrieben. Der Patio ist eine Erweiterung der noch mittelalterlich dimensionierten und ergo schmalen Gasse, bereits Territorium des jeweiligen Besitzers, doch in früheren Zeiten offen für Passanten, die hier Wasser trinken oder bei Regen Unterschlupf suchen konnten. Damals war der Patio ein halböffentlicher Raum, ein Verteiler, von dem jeder gemäß Status und Funktion seinen Weg nahm. Besucher gelangten über eine elegante Treppe in einen ersten Empfangsraum. Das Herrenhaus verfügte über mehrere Salons, die einzig dem Empfang von Gästen dienten, und die Wahl des Salons hing jeweils vom gesellschaftlichen Rang und Prestige des Besuchers sowie seiner Beziehungsnähe zum Gastgeber ab. Nur besonders nahestehende oder bedeutende Besucher wurden in die eigentlichen Wohnräume der Familie gebeten. Wenige Inselfremde werden je so weit vordringen, sei es metaphorisch oder tatsächlich. Die Zeiten haben sich geändert, viele der alten Herrenhäuser wurden zu Appartementblocks umgebaut, abgerissen oder erfüllen heute andere Funktionen. Doch in der Mentalität der Mallorquiner ist das erwähnte Schema trotz der tiefgreifenden Veränderungen der Inselgesellschaft noch immer präsent. Eine nüchterne Fassade nach außen hin, ein reservierter Austausch mit Fremden und Bekannten, und letztlich, im sorgsam abgeschirmten Intimbereich, eine von Lust zum Überfluss, Warmherzigkeit, Familiensinn und Temperament geprägte Atmosphäre. Fassade, Patio, Empfangsraum, Intimsphäre die Symbole des mallorquinischen Lebensstils. Dieser Lebensstil ließe sich problemlos bereits aus der Gegenwart heraus erklären. Mallorca wird von jährlich mehr als zehn Millionen Touristen überschwemmt, fast die Hälfte der Bevölkerung wurde nicht auf der Insel geboren, stammt aus Andalusien, Marokko, Großbritannien, Deutschland, Südamerika, und so weiter. Dass sich unter diesen Bedingungen überhaupt eine eigene Identität erhalten und behaupten konnte, ist ein kleines Wunder, das sich unter anderem mit den erwähnten mentalen Barrieren erklären lässt. Barrieren, die durch den Gebrauch einer eigenen Sprache besonders wirksam sind. Doch die Wurzeln dieser Mentalität reichen weiter zurück. Die strategische Lage Mallorcas im westlichen Mittelmeer hat es den Insulanern nie erlaubt, sich in »splendid isolation« dem Genuss ihres Paradieses hinzugeben. Ein ständiger Bevölkerungs- und Kulturaustausch durch Invasionen, Kriege, Emigration und Inmigration hat den Mallorquinern eine nahezu genetisch bedingte Skepsis gegenüber allem Fremden beschert. Ein sichtbarer Ausdruck dieser Schutzhaltung ist der Umstand, dass außer Palma keine einzige historisch bedeutende Siedlung direkt am Meer liegt. Jedes Küstendorf, jedes Küstenstädtchen liegt einige Kilometer landeinwärts und verfügt über einen kleinen Hafenort als Ableger. Sicher ist sicher. Weitere Leseproben
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