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Anekdote 70
Anekdote 70: Dreiundachtzig Jahre Zahlungsverzug
... oder: Ein Balearen-Präsident bemüht das Mittelalter, um die Krise zu relativieren
Ramón Bauzá war mit Sicherheit der meistgehasste Präsident der Balearen, noch vor dem notorisch korrupten Jaume Matas. Auf dem Höhepunkt seiner Unpopularität konnte sich der gelernte Apotheker ohne Polizeischutz in kein Dorf mehr wagen, eine bis dahin undenkbare Situation auf der ansonsten so friedlichen Insel.
Man könnte einwerfen, dass Bauzá in einem speziell schwierigen Moment die Regierungsgeschäfte übernahm, nämlich 2011. Zu dem Zeitpunkt hatte der Sozialist Francesc Antich versucht, die grassierende Krise mit öffentlichen Ausgaben zu kontern. In der Folge waren die Kassen so leer, dass dem Archipel die Zahlungsunfähigkeit drohte. Daher musste Bauzá ran, um die Finanzen wieder in Ordnung zu bringen. Und welchem Politiker, der nicht Winston Churchill heißt, wird schon verziehen, wenn er nur »Blut, Schweiß und Tränen« zu bieten hat?
Allerdings ging Bauzá mit einer Taktlosigkeit vor, die beinahe schlimmer war als die faktisch unvermeidbare Brutalität seiner Sparpolitik. Während der PP-Politiker auf dem Höhepunkt der Haushaltskrise sogar den Heiligen Kühen der Budgetpolitik den Beamten das Gehalt kürzte und härteste Einschnitte im Schul- und Gesundheitswesen vornahm, fand er nichts dabei, seinen nach Belieben eingestellten persönlichen Beratern das Gehalt zu erhöhen, »weil die so viel arbeiten mussten«.
Hätte der ehemalige Bürgermeister von Marratxí seine Maßnahmen zumindest rhetorisch gut verkauft, wäre er eventuell als Märtyrer wahrgenommen worden. Doch selbst die Wirtschaftstreibenden normalerweise unbeirrte Weggenossen der konservativen Partei hatten am Ende die Nase voll von der Arroganz und Instinktlosigkeit des »Presidente«. Ein anschauliches Beispiel war die Rede, die Bauzá im Oktober 2011 aus Anlass des 125-Jährigen Jubiläums der mallorquinischen Handelskammer hielt.
Es war die Zeit, als die Behörden in ganz Spanien die Zahlung von Rechnungen bis zum Sankt-Nimmerleinstag hinausschoben und damit Tausende Firmen in den Bankrott trieben, weil die schockstarren Banken auch keine Überbrückungskredite mehr gewähren wollten.
Bauzá hielt bei der Zeremonie in dem hübschen Altstadtpalast der Handelskammer eine Rede, und wie so oft machte er alles nur noch schlimmer. Die Anwesenden trauten ihren Ohren nicht, als der Politiker eine Anekdote aus dem Mittelalter erzählte. Alle Generationen hätten so ihre Schwierigkeiten gehabt, sagte er, und nannte dann als Beispiel Guillem Sagrera, einen Baumeister aus dem Mittelalter, berühmt als Erbauer der »Lonja«, der prächtigen Seehandelsbörse von Palma. Sein Lohn sei nicht einmal zu Lebzeiten ausbezahlt worden, sondern mit 83 Jahren Verspätung an seine Erben.
Niemand im Saal wusste, ob das nun als Witz gemeint war oder ob Bauzá allen Ernstes verlangte, dass die versammelten Unternehmer sich glücklich schätzen sollten, wenn sie weniger als 83 Jahre auf die Bezahlung ihrer Rechnungen warten mussten, und weil wir schon beim Mittelalter sind die Beulenpest auch kein akutes Problem mehr darstellt.
Wenn man zudem bedenkt, dass der skandalös säumige Auftraggeber damals, im 15. Jahrhundert, niemand anderer war als die damalige Handelskammer von Palma, also eine Vorläuferorganisation der »Cámara de Comercio«, kann man sich die Gesichter im Publikum vorstellen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, liebe Handelskammer!
Hintergrund
Guillem Sagrera war ein armer Hund. Wozu diente sein Ruhm, den er sich als Architekt erworben hatte, wenn er sich dann mit ausgefuchsten Kaufleuten einlässt und aufs Kreuz gelegt wird? Heute bewundern wir sein Werk, aber was nützt es ihm? Sein Name bezeichnet einen Architekturstil, in Texten wird von »sagrerianischer Gotik« gesprochen, womit Sagrera auf eine Stufe mit Wagner rückt, dem ja auch Wagnerianisches nachgesagt wird. Aber wer der Geschichte der alten Handelsbörse von Palma auf den Grund geht, findet mehr Tragik als Gotik, und Sagrerianisch wird zum Synonym für gotisch-depressiv.
Er, dessen Meisterhand auch an der Kathedrale gewirkt hatte, beging den schicksalhaften Fehler, sich mit der Kaufleutevereinigung, dem »Col·legi de la Mercaderia«, einzulassen. Die sagten: Wir geben dir fünfzehn Jahre und 22.000 Pfund, damit du uns eine tolle Handelsbörse hinstellst, denn wir sind es leid, unsere Geschäfte in der kleinen Kirche Sant Joan de Malta (gleich gegenüber) und in diesem miserablen Schuppen (wo heute die Lonja steht) zu tätigen. Und keine Halbheiten, denn Mallorca ist ein blühender Handelsplatz und wir sind stinkreich!
Wow, dachte Sagrera in mittelalterlichem Mallorquin und setzte 1421 den ersten Stein eines Prachtbaus, den selbst Kaiser Karl I. für einen katholischen Tempel hielt, als er 120 Jahre später Palma inspizierte. Jedoch die Zeit verfloss, ohne dass auch der Zaster geflossen wäre. Verträge sind dazu da, jene übers Ohr zu hauen, die immer nur arbeiten und ihre Zeit und ihr Talent nicht darauf verwenden, andere übers Ohr zu hauen.
Sagrera steckte privates Vermögen in das Bauprojekt, die Familie schuftete mit, und die Handelsleute lächelten feist und hielten den braven Mann hin. Der reiste in seiner Verzweiflung bis nach Neapel die politischen Umstände jener Zeit erforderten das , um König Alfons den Fünften zum Eingreifen zu bewegen, doch alles, was er dabei erreichte, war noch mehr Arbeit, nämlich der Auftrag zur Errichtung des Castel Nuovo in eben jener italienischen Stadt.
Der Bau der Lonja in Palma dauerte deutlich mehr als fünfzehn Jahre, und es war nicht Sagrera, der das Werk 1448 vollendete, und auch nicht Sagrera, der endlich die vereinbarte Entlohnung kassieren konnte, denn als das Geld floss mit den erwähnten 83 Jahren Verspätung war er längst tot. Erst sein Sohn brachte vor Gericht durch, dass die Kaufleute endlich bezahlten.
Über die Summe lachen Eingeweihte noch heute. Die Immobilienbranche, zeigt sich, war schon damals ein Haifischteich. Und die Episode dient als Lehre: Wer uns den Bau einer gotischen Handelsbörse aufhalsen will, verdient unser spezielles Misstrauen ...
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