Kategorie: Kolumne

Nostalgie als Droge – Warum hört das “Literarische Quartett” nicht auf

Wir leben in einer Zeit, in der kulturelle Nostalgie es uns schwer macht, Formate, die ihre beste Zeit lange hinter sich haben, in Würde sterben zu lassen. Anders lässt sich nicht erklären, warum das „Literarische Quartett“, dessen Exhumierung im Jahr 2015 (nach fast 15 Jahren friedlicher Ruhe) schon keine allzu gute Idee war, immer noch weitergeführt werden soll. Nachdem sich die gesamte ursprüngliche Besatzung verabschiedet hat, wird nun Thea Dorn alleine das Geisterschiff dieser Sendung steuern – fragt sich nur, wohin. Bedrohlich klingt schon die Ankündigung, man wolle „die Glut der Leselust, die in vielen immer noch schlummert, sechs Mal im Jahr zum Glühen bringen.“

Dabei hatte schon die alte Neuauflage mit Maxim Biller, Christine Westermann und Volker Weidermann alles andere als geglüht. Eher hatte man den Eindruck, dass ständig köchelnde Ressentiments innerhalb der Gruppe von Anfang an eine nervöse, gestresste Stimmung erzeugten. Statt in den Genuss von gut produziertem simuliertem Streit zu kommen, wurden die Zuschauer*innen oft mit dem unangenehmen Spektakel realer Feindseligkeiten konfrontiert. Das lag vor allem an Biller, der zwar sichtlich bemüht war, Marcel Reich-Ranicki in der Rolle des Polemikers zu beerben, aber offensichtlich nicht bereit war, die Arbeit und Vorbereitung zu investieren, die für eine solche (nur scheinbar mühelose) Form des amüsanten Polterns nötig ist.

Zu oft hatte man den Eindruck, dass seine Gemeinheiten gegenüber Westermann wirklich verletzend gemeint waren, und zu oft erschien der Vorwurf plausibel, dass Biller die Bücher teilweise gar nicht gelesen hatte. Gleich zu Beginn musste Weidermann seinen Kollegen mehrfach mit echtem Ärger zur Ordnung rufen. Das alte „Literarische Quartett“ brauchte Jahre, um zu dem Punkt zu kommen, wo aus dem kommunikativen Schaukampf echte Blessuren entstanden (In der berühmten Diskussion um Haruki Murakamis „Gefährliche Geliebte“, in der Marcel Reich-Ranicki Sigried Löffler vorwarf, sie halte „die Liebe für etwas anstößig Unanständiges“.). Die ganze Sendung wirkte unterproduziert, gehetzt, belastend für die Beteiligten und damit auch belastend für die Zuschauer, die dann auch immer mehr ausblieben.

Bevor man sich die Frage stellt, warum das „Literarische Quartett“ trotzdem weitergeführt werden muss, lohnt es sich vielleicht, zu fragen, warum es überhaupt neu aufgelegt wurde. Schaut man sich heute auf Youtube Ausschnitte aus den alten Sendungen an, dann überfällt einen vor allem die Melancholie starker historischer Alterität. Das beginnt beim körnigen Fernsehbild, geht weiter über die 90er-Jahre Einrichtung irgendwo zwischen Yuppie-Loft und Wartesaal einer Sparkasse, bis hin zu dem deplatzierten Selbstvertrauen, mit dem vor allem Männer hier über Literatur befinden. Insbesondere Hellmuth Karasek ist in diesem Zusammenhang eine ständige Quelle der Verwunderung. Die Sendung illustriert auf beeindruckende Art, was es bedeutet, wenn wir sagen, dass etwas schlecht gealtert sei.

Das alte „Literarische Quartett“ war Fernsehen für eine Zeit, in der Fernsehen das hegemoniale Massenmedium darstellte. Es ist deshalb ironisch, dass ausgerechnet die kulturelle Nostalgie nach einer Zeit, in der das Buch noch eine zentrale Rolle im bürgerlichen Diskurs spielte, dazu geführt hat, das Format wieder aufleben zu lassen. Denn die Sendung war selbst schon Ausdruck der Unsicherheit über den Status von Literatur in Zeiten der Medienkonkurrenz. Ein „Literaturpapst“ wie Reich-Ranicki trat ja bereits als Karikatur eines Gatekeepers auf, der den Zusammenbruch etablierter Gatekeeperstrukturen kompensieren sollte.

So beruhte das alte Quartett bereits auf einer Nostalgie, die durch das neue nur vermehrt wurde – eine doppelte Nostalgie, die in vielfacher Hinsicht repräsentativ für den kulturellen Zeitgeist ist. Man sehnt sich nicht so sehr nach den Formaten und Kunstwerken selbst, sondern nach der Bedeutung, die diese Dinge einmal für eine bürgerliche Gesellschaft besaßen. Man möchte nicht den Literaturpapst zurück, sondern eine Zeit, in der es Literaturpäpste und Großkritiker gab, und in der noch nicht die entfesselte Demokratisierung der Sozialen Medien einer Masse an Laien Einlass in den kulturellen Salon verschafft hat. So kann man dann über den größeren ‚Stellenwert‘ fantasieren, der Literatur früher zukam, ohne sich eingestehen zu müssen, dass die Orte, wo dieser ‚Stellenwert‘ verhandelt wird, sich einfach nur verschoben haben.

Die Tatsache, dass das ZDF am Format „Literarisches Quartett“, von dem nun wirklich nichts, außer dem Namen bleibt, festhält, zeigt vor allem, wie stark Nostalgie aktuell die Entscheidungen kultureller Institutionen beeinflusst. Thea Dorn, die Bücher für “aufgeklärte Patrioten” schreibt, und in letzter Zeit durch die Forderungen aufgefallen ist, Opfer sollen auch mehr Toleranz zeigen, gehört zu der Funktionselite des alten Literaturfernsehens, die doch schon alle Kanäle dieser Art beherrscht. Es stellt sich aber die Frage, ob das Produktionsbudget für eine solche Sendung nicht anderweitig besser investiert wäre, für ein neues Programm, jünger, diverser, innovativer. Das allerdings ist möglicherweise gerade zu viel verlangt. In Zeiten großer kultureller Verunsicherung ist Nostalgie eine starke Droge.

 

Photo by Ikhsan Sugiarto on Unsplash

 

 

 

 

 

Je demokratischer die Dummheit wird, umso elitärer dürfen sich die Kenner geben

„Wir fangen bei der Geburt an“, beginnt der langjährige Hanser Verleger Michael Krüger.

„Oder noch besser bei der Zeugung“, wirft Krügers Sidekick der ehemalige NZZ Feuilleton Chef Martin Meyer ein.

„Bei der Zeugung, ja, ja, genau“, holpert sich da auch Rüdiger Safranski ins Gespräch.

Happy Birthday!

Gesprochen wird bekanntlich viel, zum Glück wird das Wenigste für die Nachwelt festgehalten. Anders im Falle des Austauschs dieser drei Herren. Dass man dieses Gespräch aus dem April des letzten Jahres nun lesen kann, liegt wohl an dem Umstand, dass Rüdiger Safranski dieses Jahr 75 wird. Der Hanser Verlag veröffentlicht daher dieses mit so viel Zielstrebigkeit beginnende Buch als Mogelpackung unter dem Titel „Klassiker! – Ein Gespräch über die Literatur und das Leben“. Dabei geht es zuerst, anders als vom Verlag angekündigt, viel weniger um die Fragen

“Wie steht es um die Klassiker? Wie bewähren sie sich in einer Zeit, die einstige Gewissheiten unserer Kultur radikal in Frage stellt? Welche Rolle spielen sie noch auf dem Theater, für die private Lektüre?” 

sondern um das Leben, konkreter das Leben von Rüdiger Safranski.

Hmmm … Intellektuell.

Zur Einstimmung darf der Jubilar von der eigenen „wohl eiligen“ Zeugung in Königsberg berichten, die aufgrund des Timings zu einer „pränatalen Flucht vor den Russen“ in die „Diaspora“ (!) Rottweil führte. Safranskis Kindheitserinnerungen kommentiert Martin Meyer immer wieder mit ausgesprochen luziden und hilfreichen Einwürfen wie „Intellektuell.“ oder „Hmmm …“, einmal schlussfolgert er messerscharf: „Das Fröhliche stammt von Mutters Seite.“

Das Leben meint es aber nicht mit allen gut. Die gute Laune erhält einen ersten Dämpfer durch die gänzlich unfröhliche Geschichte eines Lehrers von Safranski. Dieser liebte zwar seine Arbeit sehr, hatte aber leider zuhause einen „ganzen Stall voller eigener Kinder und einen Drachen zur Frau“. Martin Meyer hat von solchen Frauen schon einmal gehört und kann daher bestätigen „Das kommt ja tatsächlich vor.“ Das knallt als Information erstmal ziemlich rein. Ebenso wie es – ganz anders als dem Lehrer – Paul Tillich erging; der war nämlich nicht nur Theologe, sondern „übrigens auch ein begnadeter Frauenversteher“. Das „weiß Gott“, weiß natürlich auch Michael Krüger und jetzt wissen es auch wir. Endlich!

Intellektuelles Opfer

Der kleine Rüdiger ging zur Schule, erfahren wir. War erst durchschnittlich, dann aber in den letzten drei Jahren „ziemlich gut […] lauter Einsen“. Und er war auch mal verliebt, wozu Meyer dem „Glückpilz“ gratuliert, ebenso dazu, dass sich später die Lebensverhältnisse ordneten, Krüger schließt sich an, findet das „wirklich schön“.

Nachdem diesbezüglich Einigkeit hergestellt wurde, geht Rüdiger in seiner Erzählung in Frankfurt studieren. Adorno, so erfährt man, hatte einen Assistenten, der einmal ans Mikrophon trat und ankündigte Herr Adorno würde heute etwas leiser sprechen, er sei erkältet. Safranski schlussfolgert konsequent (er kennt sich mit Philosophie aus):

„Das ist große Philosophie, wenn man das nicht mehr selber sagen muss, sondern der Assistent.“

Das ist sie also, die Liebe zur Weisheit, ein Assistent! Von Adorno und seiner „erotischen Aufmerksamkeit“ geht es dann für den Studenten von Frankfurt nach Berlin.

“RS: Genug Adorno. Ich ging von Frankfurt nach Berlin.
MK: Warum?
RS: Eigentlich nur, um mal nach Berlin zu gehen. Damals galt: Man musste einmal in Berlin gewesen sein.”

Junge Berlin Fans werden sofort einwenden, dass dies nicht nur damals so war, auch 55 Jahre später, sollte man einmal in Berlin gewesen sein. Rüdiger ist aber nicht nur in der heutigen Bundeshauptstadt gewesen, nein er hat dort sogar lange gewohnt. In Berlin, es ist 1965, beginnt um Safranski bald, „was man dann die 68er-Bewegung nannte“ und „dazu gibt es einiges zu sagen“. Klar, da denken wir alle mit Herrn Meyer an „Pop, Sex, Träume …“. Aber Safranski denkt gar nicht daran, dazu viel zu sagen, jedenfalls nichts Allgemeingültiges. Er hat nicht nur Pop, Sex und Träume gemacht, sondern auch Politik. Linke Politik! Doof aber, „die Organisation war hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt“. Das nervte damals den Studenten, das nervt heute den Leser, denn bisher sind Meyer, Safranski und Krüger hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt.

An das Studium schließt sich die Promotion an. Meyer hakt zur Safranskischen Dissertation nach, ob ihn das Thema wirklich interessiert habe. Kann man so wohl nicht sagen, denn der Doktorand empfand „das als intellektuelles Opfer“, das mag er sich und uns nicht verhehlen. Als intellektuelles Opfer möchte man auch die 60 Seiten bis hierhin bezeichnen. Die Herren haben sich jetzt aber erst richtig warm gequackelt.

Kunst unterm Gesichtspunkt des ökologischen Fußabdrucks

Bei der Besprechung des Studiums und der späteren Arbeit platzen immer mal wieder ein paar Bomben. Meyer, Krüger und Rüdiger sind sich unter dem Strich auch hier wieder einig: Früher war alles besser.

“[…] die Frage, was tust du als Künstler in einer Welt, in der es übel zugeht, hat ihre Suggestivität nicht verloren. Nicht mehr die Revolution ist Rechtfertigungsinstanz, sondern das sogenannte Humanitäre bis hin zur Weltrettung. Die Dienstverpflichtung der Literatur für das sogenannte „Gute“ ist inzwischen so selbstverständlich, dass es gar nicht mehr auffällt. Wehe auf die Kunst fällt der Verdacht der anrüchigen Gesinnung, der mangelhaften Weltrettungstüchtigkeit! Erst die Gesinnung, dann die Kunst. Für uns Maoisten gab es die Autonomie des Schönen nicht. Und heute hat man, mit anderen Begründungen, auch nur noch wenig Sinn dafür. Bald wird vielleicht auch die Kunst unterm Gesichtspunkt des ökologischen Fußabdrucks gesehen.”

Dass bei Hanser der ökologische Fußabdruck noch nicht über Kunst oder Unkunst entscheidet, ist dagegen offensichtlich; ein Glück für das Gesprächstrio. Mit etwas mehr Weltrettungstüchtigkeit wäre uns die Lektüre dieses Gesprächs, diese Gesprächskunst erspart geblieben.

Nun aber endlich zum Kern, auf den wir sehnsüchtigst warten: Literatur und Weinvergleiche, denn wir haben es hier mit drei echten Connaisseuren und Genießern zu tun, die sich entre nous über die schönen Dinge des Lebens austauschen:

„wenn man zusammensitzt und einen Pétrus trinkt, freilich selten genug, weil die Chinesen seinen Preis verdorben haben“

Drei Mann als kleine verwegene Schar der letzten Literaturliebhaber

Nach der Hälfte der 150 Seiten spricht man nun doch über Klassiker und was man so kanonisieren sollte oder nicht. Vorher war man ja nur um die Lektüren des heranwachsenden Safranski gekreist. Jetzt aber – wo es allgemeingültig wird – dürfen die drei Herren sich erstmal versichern, dass sie die Speerspitze der „kleinen verwegenen Schar der letzten Literaturliebhaber“ sind.

Dazu ist doch gar nicht schlecht zu wissen: Hat man einen (oder gar alle drei) der Diskutanten zu einem Abendessen geladen, dann kann man zumindest bei ihnen noch „auftrumpfen, [wenn] man sagt, Leute, hört zu, dieses Kapitel der Strudlhofstiege habe ich jetzt schon zum dritten Mal wieder gelesen und bin noch immer tief ergriffen.“ Denn das fehlt nicht nur Meyer bei jeder Gesellschaft, das fehlt dem ganzen Trio. „Früher wäre eine alte Dame auf dem Sofa daneben darüber in Tränen ausgebrochen. Alles vorbei.“ Offen bleibt leider, ob diese Ausrufe von Partygästen „früher“ tatsächlich vorkamen oder es auch damals nur ein frommer Wunsch war. Tempi passati.

Meyer empfiehlt daher nicht etwa, die Schulbildung zu überdenken, Leselisten zu erstellen oder Gäste vor der Einladung zum Literaturgeschmack zu befragen. Nein, solchen Hoffnungen gibt man sich gar nicht mehr hin. Meyer fühlt sich damit in seinem Zirkel der drei offenbar ganz wohl.

„[…] je demokratischer die Unbildung, vielleicht darf man auch sagen: die Dummheit, wird, umso elitärer dürfen sich die Kenner geben. Was wir hier ja auch tun …“

Rüdiger stimmt sogleich ein, und fordert seine beiden Mitstreiter dazu auf, sich nicht zu scheuen, auch mal Leute zu beschämen. Daher schlägt er vor, diese Dummköpfe zu entlarven. „Was, Sie kennen dieses Kapitel aus der Strudlhofstiege nicht, womit haben Sie denn Ihre Zeit verschwendet?“ Nicht auszudenken, wie heiter eine Abendgesellschaft durch solche Ausfälle und Bloßstellungen einzelner Dummköpfe aufgelockert wird. Klassismus zum Schenkelklopfen. Eines ist daher sicher: die drei haben gar keine Lust, dass jemand anders als sie selbst bei ihrem Literaturclub mitmacht.

Zum Ende des Gesprächs wird dann trotzdem über die Erweiterung des eigenen elitären Zirkels phantasiert. Safranski möchte gerne einladen, Meyer aber vorher eine „Eintrittsklausur“ veranstalten. Im Club soll nur sein, „wer es auch wirklich verdient“. Alle anderen sollen „wieder twittern oder Golf spielen oder ihre vegane Küche bespielen“. Man darf sich sicher sein, die Eintrittsklausur wird die Strudlhofstiege zum Thema haben. Man darf sich ebenso sicher sein, dass sich glücklich schätzen darf, wer bei dieser Veranstaltung nicht dabei sein muss. Man ist ja oft unzufrieden im Leben, aber jetzt kann man sich in Momenten des Missmuts wenigstens damit trösten, nicht an einem der schrecklichen hochkulturellen Männerabende von Krüger, Meyer und Safranski teilnehmen zu müssen. Frauen kommen eh nur zum Weinen dazu.

Inserat, Blumenstrauß und Pétrus

Runde Geburtstage sind wirklich etwas Feines; mehr Geschenke als üblich, je nach Beliebtheit gar ein Inserat in der Zeitung oder ein Blumenstrauß vom Arbeitgeber, endlich drucken die Enkel die biographischen Notizen, die man ihnen vor Jahren mit den Worten „falls Du irgendwann mal wissen willst, was Opa so in seiner Jugend gemacht hat“ in die Hand gedrückt hatte. Die Kleinstauflage von 15 Stück kann man dann an Freunde weitergeben. Ein Exemplar geht an die Lokalzeitung, weil ja auch eine Menge Stadtgeschichte da drin ist.

Bei den meisten Jubilar*innen erschöpft sich die Auflage eben in 15. Das Inserat sehen sowieso nur ein paar derer, die noch die Zeitung abonniert haben und die Blumen verwelken schnell. Hanser bietet dagegen dieses bräsige, ichbezogene und alle drei Herren entlarvende Salbadern für 18 Euro allen Leser*innen an. Die Enttäuschung darüber, nichts von dem zu finden, was in Aufmachung und Werbung versprochen wird, wiegt nicht so schwer, wie die darüber, dass sich in München drei Männer treffen, um sich selbst ihrer Großartigkeit zu vergewissern, elitäre Räume nach außen hin abzusichern und Hanser dies dazu noch druckt.

Hätte Hanser Safranski zum Geburtstag doch einfach nur eine Flasche Pétrus geschickt – aber die Chinesen haben ja die Preise kaputt gemacht.

Beitragsbild von Richard Boyle

Würgers Würste – Geschichte einer Obsession

Dies ist die Geschichte eines Reporters und seiner Obsession. Einer sehr stereotypen Obsession. Es geht um nichts anderes als um die Wurst. Aber der Reihe nach. Schon Otto von Bismarck soll angeblich den Satz gesagt haben: “Gesetze sind wie Würste, man sollte besser nicht dabei sein, wenn sie gemacht werden.“ Doch wie es bei etlichen Zitaten, die historischen Persönlichkeiten zugesprochen werden, der Fall ist, so muss man auch hier feststellen, dass es sich leider nur um eine Legende handelt.

Der Journalist und Romanautor Takis Würger hingegen hat wirklich eine besondere Vorliebe für Würste, man könnte gar sagen eine Besessenheit.

Als Reporter ist er angewiesen auf sprachliche Bilder, die ein Gespür für die Szenerie vermitteln. Und Würger sieht es so: Reporter*innen werfen „ihre Protagonisten in die Wurstmaschine, ob sie [wollen] oder nicht, weil die Wurstmaschine der einzige Weg zu einer Reportage ist.“ Dieser Satz aus Würgers Porträt der amerikanischen Reporterin Lisa Taddeo vom 04. Januar 2020 irritiert erst einmal. Woher diese seltsame Metapher? Wenige Tage später ein weiteres Porträt aus Würgers Feder, diesmal über die Bestsellerautorin Rita Falk, die Krimis schreibt, die in kleinbürgerlichen deutschen Dörfern spielen, der Titel: Wurstliteratur. Kann das Zufall sein? Nur wenige Tage darauf sprach Würger im Podcast Quatschen mit Soße der Zeitschrift Essen & Trinken über seine „Gier nach Currywurst“ . Es ist kein Zufall! Eine Recherche im Zeitungsarchiv verrät: Würste und Würger – das gehört zusammen.

Die Wurst – eine absolute Metapher?

Kaum ein anderes Lebensmittel ist so sehr eine Metapher für Deutschsein. Vielleicht ist es das Grobe, das in dem Akt des Pressens von zermahlenem Fleisch in die Haut steckt, vielleicht aber auch das Eingeengte der Wurstmasse in der Haut, die wenig elegante Form oder der Klang des Wortes allein: Das tief im Hals ansetzende U, das in den Konsonantencluster aus zwei Reibelauten und einem Verschlusslaut übergeht – aus irgendeinem Grund ist die Wurst das stereotype deutsche Lebensmittel schlechthin. Und um die metaphorische Kraft weiß Takis Würger natürlich. Wie hier in der Reportage Mein Monat mit den Menschen von Clausnitz:

„Was also bleibt an Erkenntnis nach einem Monat im Erzgebirge? Es gibt kein Nazidorf. Es gibt nicht den Clausnitzer, der für alle steht. Das Einzige, was alle, die ich traf, gemeinsam haben, ist, dass sie Wurst mögen.“

Die Wurst ist hier die Gemeinschaft erzeugende Vorliebe, das überparteiliche Lebensmittel, nicht nur Nazis essen Wurst, alle Menschen in Clausnitz mögen Wurst. Der letzte Satz weist, so meint man, über die Reportage hinaus, er scheint sagen zu wollen: Du darfst deutsch sein, das macht dich noch nicht zum Rechtsradikalen – du bist gut wie du bist, iss Wurst.

Für Takis Würger ist die Wurst die perfekte Metapher, die absolute Metapher. Und Hans Blumenberg hatte Recht mit seiner Feststellung, dass manche Metaphern eine Semantik weit über das hinaus gewonnen haben, für das sie einmal standen. Absolute Metaphern geben „einer Welt Struktur, repräsentieren das nie erfahrbare, nie übersehbare Ganze der Realität.“ Und so hält es Takis Würger auch mit der Wurst:

„2 Gläser Nutella, 2 Gläser selbstgekochte Erdbeer-Rhabarber-Marmelade, 1 Büchse grobe Leberwurst, 1 Stück Speck, 1 Büchse Mandarinen, 1 Tube Senf, 1 Blutwurst, 2 Ritter Sport, 1 Brief. Es ist ein Karton gefüllt mit Deutschland. Sommerkorn schreibt seiner Mutter in einer E-Mail: Danke für das tolle Paket. Du weißt doch, dass ich keine Blutwurst esse.“

Der Soldat in der Reportage Das verschwundene Bataillon bekommt ein Fresspaket seiner Mutter und Würger erkennt zielsicher die metaphorische Qualität dieser Situation. Es ist ein Paket, das für Deutschland stehen soll, für Heimat, und wir sehen sofort, dass das Entscheidende nicht die anderen Lebensmittel sind (sie alle können in irgendeiner Form für Deutschland stehen) – was die Metapher funktionieren lässt, was die Metapher absolut macht, sind die Blutwurst und die Leberwurst. Wie auch in der Ablehnung der Blutwurst durch den jungen Soldaten vielleicht auch eine Ambivalenz zu seiner Aufgabe als Repräsentant und Verteidiger einer deutschen Kultur steckt.

Überall Würste

Hier offenbart sich auch die Vielzahl unterschiedlicher Würste, die viele Deutsche kennen. Einige Städte in Deutschland haben ihre eigene Wurstsorte und in den 90er Jahren wurden sie von einem rundgesichtigen Metzger mit glänzenden Augen im Fernsehen aufgezählt, einen Schnitt später brachte eine Mischung aus Robin Hood und Surferboy mit einem Wort die Fleischwarenverkäuferin in der Rügenwaldermühle zum Schmelzen und ritt mit einem Arm voller Würste nach Hause, Bratmaxe wurden gegrillt und dann ging TV Total, die Late-Night-Show mit dem berühmtesten deutschen Metzgersohn, weiter.

Vielleicht war es diese mediale Überpräsenz, die auch bei Takis Würger eine Obsession mit dem bei vielen Deutschen so beliebten Fleischprodukt auslöste, wie sonst hätte er seine semantische Reichhaltigkeit in Vergleichen so nutzen können wie hier:

„Ein Maßschuh hat mit einem Schuh von Tamaris oder Deichmann eigentlich nur gemeinsam, dass beide an den Füßen getragen werden. Es ist, als würde man einen Maserati mit einer Wurst auf Rädern vergleichen, beides rollt, aber damit endet die Gemeinsamkeit.“

Nichts umfasst den Kern der Geschichte der Maßschuhmacherin Saskia Wittmer so perfekt wie der hier gewählte Vergleich. Es hätte jedes Lebensmittel sein können, aber kein anderes wäre perfekt gewesen. Etwas ließ Würger spüren, das es nur die Wurst sein konnte, die das scheinbar Paradoxe an einer deutschen Frau als Maßschuhmacherin in Florenz ausdrücken und im gleichen Moment auflösen würde: Der Vergleich mit dem Wurstklischee entlarvt ein anderes Klischee als falsch. Es ist das Grobe, das Unelegante der Wurst, das hier den Unterschied und die Wurst zum perfekten Nahrungsmittel in dem Vergleich macht. Es sind dieselben charakterlichen Elemente der Wurst, mit denen Takis Würger der Pariser Philharmonie mit dem Vergleich, sie sähe aus „wie eine geplatzte Wurst aus Metall,“ in einer Reportage ein Stück der Erhabenheit nimmt, die man ansonsten sofort mit dem Gebäude verbinden würde. Würger genügt die Erwähnung einer Wurst, um ein Gebäude umzudeuten.

Die perfekte Symbiose aus faktischem Inhalt und metaphorischem Gehalt seiner Obsession aber schaffte Würger 2010 mit der Geschichte von Wolfgang Joswig: einem widerständigen DDR-Bürger, der schließlich die längste Thüringer Wurst aller Zeiten briet: „Die Wurst war für ihn Vergangenheitsbewältigung.“ Ob Würger wusste, was er tat, lässt sich nicht nachvollziehen, aber hatte nicht Christoph Schlingensief zwanzig Jahre zuvor mit dem Film Das deutsche Kettensägenmassaker, in dem eine ostdeutsche Familie nach ihrer Ausreise von Westdeutschen zu Wurst verarbeitet wird, eine metaphorische Kritik am Wendeprozess auf Zelluloid gebannt? Und jetzt übernahm die Obsession im Unterbewusstsein die Regie und die wahre Geschichte eines Widerstandes gegen das DDR-Regime, in der eine Wurst eine tragende Rolle spielte, wurde ohne das Wissen des Reporters mit dem metaphorischen Gehalt des Schlingensief-Films aufgeladen.

Auch wenn Würste für Takis Würger nicht die gleiche Bedeutung haben dürften, wie für Wolfgang Joswig, der sich gegen ein repressives System auflehnte, so sind sie doch für sein Wirken als Reporter so elementar, dass sie in mehr Texten auftauchen als hier aufgezählt werden konnten und Takis Würger ist vielleicht der erste Journalist, der ohne Zwang in einem SPIEGEL-Text das Wort „Wurstgulasch“ verwendete. Und so wie Reporter*innen ihre Protagonist*innen zu Wurst verarbeiten, verwurstet auch der Reporter Takis Würger die gleiche Metapher, den gleichen Vergleich ein ums andere mal – und da soll einer sagen, die Wurst sei nicht nachhaltig.

 

Hypnotica Studios Infinite from Toms River, New Jersey, USA [CC BY (https://creativecommons.org/licenses/by/2.0)]

Es zählt nur die Qualität – Über ein fadenscheiniges Argument

Von Nicole Seifert

Dass es beim Büchermachen ausschließlich um Qualität gehen sollte, darin sind wir uns ja alle einig, oder? Und dass Männer die besseren Bücher schreiben auch. Ach nein, das darf man ja nicht mehr sagen. Also: Wenn Männer nun mal die besseren Bücher schreiben, dann – nee, Moment, ich fang noch mal an: „Wir machen Literatur, nicht Männer und/oder Frauen. Entscheidend ist allein die Qualität und nicht das Geschlecht. Entscheidend ist die Aussage, der Stil, da braucht es keine Genderaufsicht.“ So kann man es schon sagen. Oder?

So hat es jedenfalls Joachim Unseld gesagt und ist damit (immerhin fast als einziger) der tendenziösen Fragestellung der Literarischen Welt auf den Leim gegangen, die vor einer Woche mehrere Verlagsleute um ihre Meinung zum „aktuellen Aktionismus“ bat. Gemeint war damit der Versuch, ein größeres Bewusstsein für Geschlechterungerechtigkeit im Literaturbetrieb zu schaffen, indem man anhand quantitativer Erhebungen Verlagsprogramme analysiert: Das sogenannte Vorschauen- oder Frauenzählen.

So gut wie alle der  befragten zwölf Verleger*innen stehen der Debatte übrigens aufgeschlossen gegenüber, selbst Unseld hält sie für „wichtig und berechtigt“, auch wenn sie sich in Enthusiasmus und Umsetzung stark unterscheiden. Das zentrale Gegenargument, das sich in der Debatte hartnäckig hält, ist die von Unseld so schön auf den Punkt gebrachte angebliche Opposition von Diversität und Qualität.

Am 21. Januar veranstaltete der SWR2 in der Reihe Forum einen fast einstündigen Radio-Talk zum Thema mit Susanne Krones, Programmleiterin im Penguin Verlag, mit mir und mit Rainer Moritz vom Hamburger Literaturhaus. Auf die Frage, ob er bei den Literaturhaus-Veranstaltungen auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis achte, wollte Moritz zwar ein „ich glaube, es wurde gerade so ähnlich wie Problembewusstsein genannt“ haben, das er aber schon im nächsten Halbsatz an seine „Kolleginnen“ delegierte. Die würden schon dafür sorgen, „dass sie mit ernstem Blick zu mir in mein Büro kommen, wenn sie das Gefühl haben, dass diese Ausgewogenheit vielleicht nicht so hergestellt ist.“ Er selbst versuche, „nicht krampfhaft“ zu entscheiden und wenn er „aus literarischen Gründen“ glaube, das sei jetzt so, „dass in diesem ersten Halbahr vielleicht 60-70% Männer lesen“, weil er der Meinung ist, „dass diese Bücher besser sind, dann ist das so, dann muss man das auch durchstehen und man muss versuchen, das argumentativ zu verteidigen.“

Bei dieser Argumentation beruft sich Moritz auf die „großen Männerfiguren“ Siegfried Unseld und Michael Krüger, die hätten oft gedacht, „ohne es gesagt zu haben: so richtig große dolle Literatur können Männer doch besser schreiben.“ So ganz möchte er sich allerdings nicht auf deren Seite stellen, denn „als chauvinistisch gelten“, das wolle heute ja niemand. „Deshalb wird auch verbal zurückgerudert“, erklärt Moritz, „d.h. man will auf gar keinen Fall sagen, wir haben einfach jetzt viel bessere Manuskripte von Männern gehabt, deswegen haben wir das so gemacht. Dieses Argument werden Sie ganz selten hören, selbst wenn sie’s denken, die Verlegerinnen und Verleger, werden sie es nicht sagen.“

Wieder und wieder dieselbe Formulierung, da kommt man um die Schlussfolgerung kaum herum, dass hier wohl tatsächlich jemand glaubt, Männer schrieben die besseren Bücher. Das einzige Problem: Man darf es nicht mehr sagen. Man sollte schon so tun, als wäre man nicht sexistisch, pardon: chauvinistisch. Spätestens hier wird klar, wie halbherzig die Distanzierung von den genannten Verlegern ist. Aber sind Sexisten nicht eh immer die anderen?

Der Letzte, der sich noch traute, auszusprechen, wie es offenbar wirklich ist, war der von vielen nach wie vor hochverehrte Marcel Reich-Ranicki. Interviewt von André Müller, sagte er vor ungefähr zwanzig Jahren: „Man darf auch nicht sagen, Frauen können keine Romane schreiben. […] Frauen können Novellen schreiben, wunderbar, Frauen können Gedichte schreiben. Fragen Sie mich nicht, warum! Fragen Sie Gynäkologen!“

Wenn man nicht nachvollziehen kann, warum man Dinge so besser nicht mehr sagt, dann fehlen einem Informationen, dann hat man Zusammenhänge noch nicht verstanden. Es wäre also klug zuzuhören, was die, über die man gestern noch abfällig reden durfte, für Erfahrungen gemacht haben – einmal die andere Perspektive einzunehmen und über die eigenen Privilegien nachzudenken. Oder, wie Oliver Vogel vom S. Fischer Verlag es in seiner Antwort auf die oben erwähnte Frage an die Verlage formulierte: „Glück zu haben ist immer ein guter Grund, trotzdem nachzudenken.“

Diese Informationen finden sich beispielsweise in einigen neueren Studien zur Sichtbarkeit von Frauen in Kultur und Medien, die zeigen: Es wird eben nicht nur nach erbrachter Leistung und Qualität ausgewählt. In der Realität haben Autor*innen höchst unterschiedlichen Zugang zu Förderprogrammen, Veröffentlichungen und Auftrittsmöglichkeiten. Und um hier mehr Gerechtigkeit herzustellen, braucht es konkrete Maßnahmen.

Das, was Joachim Unseld als „Genderaufsicht“ bezeichnet, entspricht dem, was man in der konservativen Ecke gern „Sprachpolizei“ nennt. Plötzlich muss man aufpassen, man darf nicht mehr einfach abwertend über Frauen, über BIPoC oder über queere Personen reden – blöd, wo das doch immer so lustig war! Harald Staun gab im November in einem FAZ-Artikel die bestmögliche Antwort auf diese Haltung:

Natürlich sollte man aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert, aber nicht, weil sonst die Sprachpolizei kommt, sondern aus Höflichkeit, Zivilisiertheit oder auch nur aus dem Interesse, den öffentlichen Diskurs ein bisschen klüger zu machen.

Das Qualitätsargument aber macht den Diskurs nicht klüger, es ist unreflektiert und unterkomplex und im Grunde nichts anderes als ein reaktionärer Reflex.

Einer, der umgedacht hat, ist Stephen King, nachdem er für einen Tweet einen Sturm der Kritik erntete. Der Autor ist Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die entscheidet, wer im Februar einen Oscar bekommt. Aus diesem Anlass twitterte er Mitte Januar:

In der Kunst zähle nur Qualität, Diversität zu berücksichtigen, erscheine ihm falsch. Von den 12.000 Replies wiesen viele auf das Kernproblem dieser Aussage hin: Diversität und Qualität sind keine Gegensätze. Hier einen Widerspruch zu konstruieren, legt nahe, man hätte es mit einander bekämpfenden Konzepten zu tun; als sei das eine dem anderen selbstverständlich überlegen, als könne beides gar nicht zusammenfallen. Wären Qualität und Diversität Gegensätze, würde das im Umkehrschluss bedeuten, Kunst von Frauen, von BIPoC, von Queeren sei weniger gut. Wieder dieselbe Prämisse wie oben, also.

Dass seit Bestehen der Oscars nur eine einzige Frau einen Award für die beste Regie bekommen hat, dass schwarze Schauspieler*innen lange gar keine Auszeichnungen bekommen haben und dann bevorzugt für Rollen, in denen sie Sklav*innen spielten – das kann doch nur daran liegen, dass weiße Männer eben besser sind. Was auch hier wieder nicht in Erwägung gezogen wird: das nachweislich herrschende Ungleichgewicht durch schlechtere Chancen, mangelnde Sichtbarkeit und die Voreingenommenheit derer, die auswählen.

Stephen King haben die Replys zu seinem Tweet zu denken gegeben, denn knapp zwei Wochen später veröffentlichte er unter dem Titel „The Oscars are still rigged in favor of white people“ einen Artikel in der Washington Post, in dem er schrieb, er habe seine Aussage im Moment des Twitterns fälschlicherweise für unstrittig gehalten, nun habe er genauer hingesehen. Er stellt einen Zusammenhang zwischen der Zusammensetzung der Academy (sehr überwiegend weiß, männlich und über 60 Jahre alt) und der Vergabe der Preise an ebendiese Kohorte fest. Er wiederholt seine „overall attitude that, as with justice, judgments of creative excellence should be blind.“ Um dann jedoch zuzugestehen: „But that would be the case in a perfect world, one where the game isn’t rigged in favor of the white folks.“

Ja, in einer idealen Welt ginge es einfach nur um Qualität. Solange man aber anerkennt, dass in unserer Kulturlandschaft nach wie vor historisch gewachsene, sexistische und rassistische Strukturen bestehen, wird man auch erkennen, dass viele Gruppen weiterhin benachteiligt sind. Und diese müssen erstmal einbezogen werden in die Auswahlprozesse, bevor man über ihre Qualität urteilen kann.

Das Qualitätsargument ist aber noch aus weiteren Gründen hinfällig: Es ist naiv und es ist unehrlich. Naiv, weil es den Anschein erweckt, Qualität setze sich naturgemäß durch – was mit der Realität des Literaturbetriebs nichts zu tun hat. Und unehrlich, weil es bei der Zusammenstellung von Programmen aller Art nie nur um Qualität geht (dazu auch dieser Text von Simon Sahner auf 54books). Es geht immer auch um Verkäuflichkeit, sowie darum, ein rundes Gesamtpaket zu schnüren – nur welche Kriterien man da gelten lässt und welche nicht, das ist eben die Frage.

Susanne Krones wies in dem SWR2-Gespräch darauf hin, dass die Verlage angesichts der Manuskriptfülle, aus der sie auswählen, alle Möglichkeiten hätten: „Wenn wir uns überlegen, welchen Bruchteil dieser Dinge wir nur einkaufen, dann lügen wir uns natürlich in die Tasche, dass wir da kein 50:50 herstellen könnten.“

Außerdem machte sie darauf aufmerksam, was passiert, wenn die Auswahl von Manuskripten anonymisiert wird und ohne Ansehen der Person stattfindet, wenn also geschlechtsbezogene Voreingenommenheit systematisch ausgeschlossen wird. Das ist der Fall beim Berliner Literaturwettbewerb Open Mike, in dessen Vorjury Susanne Krones saß. Nachdem aus mehreren hundert Einsendungen allein aufgrund der Textproben 20 Finalist*innen ausgesucht worden waren, kam man auf vier Männer und sechzehn Frauen. Ein anonymisiertes Vorauswahlverfahren gibt es auch bei den Hamburger Literaturpreisen, die in Kategorien von Comic über Übersetzung bis Roman an neun Frauen und zwei Männer gingen. Das kann passieren, wenn man das mit der Qualität einmal ernstnimmt. Lässt man die Voreingenommenheit walten, sieht es anders aus: Dann kommen Frauen auf einen Anteil von 13% aller Literaturnobelpreise oder auf 15% aller Georg-Büchner-Preise.

Anonyme Auswahlverfahren gibt es seit den Siebzigerjahren auch bei amerikanischen Orchestern, nachdem man festgestellt hatte, dass die fünf Top-Orchester des Landes einen Frauenanteil von weniger als 5% aufwiesen. Bei blind auditions befinden sich die Kandidat*innen beim Vorspiel hinter einem Wandschirm. Die Jury kann sie nicht sehen, nur hören, es geht allein um die Qualität ihres Spiels. Wissenschaftler*innen haben festgestellt, dass es durch diese Maßnahme um 50% wahrscheinlicher ist, dass es eine Frau in die Endauswahl schafft. Auf diesem Weg hat sich der Anteil von Frauen in diesen Orchestern inzwischen auf 30-40 Prozent erhöht, wie der Guardian berichtete.

Für Literaturhäuser und Verlagsprogramme dürfte so ein geschlechtsblindes Auswahlverfahren kaum umsetzbar sein, aber immerhin lassen diese Beispiele Rückschlüsse darauf zu, was wäre, wenn man die Sache mit der reinen Qualität konsequent durchziehen würde. Fast könnte man auf die Idee kommen, das Gerede davon, dass Männer eben einfach besser seien, diene im Wesentlichen der Verschleierung des Gegenteils.

Das Qualitätsargument würde so gern alle vereinen, denen Literatur am Herzen liegt, um die anderen als ideologisch Verblendete aus dem Gespräch auszuschließen. Es ist jedoch innen hohl, wie es Totschlagargumente gerne sind. Denn es gibt keine „reine Qualität“, so wie es nicht die eine, zentrale Instanz gibt, die sie unabhängig von Vorannahmen feststellen könnte. Jedes Urteil unterliegt einer Perspektive, und jedes Urteil bedarf eines Vergleichs. Qualität kann nur festgestellt werden, wenn man alle einbezieht, wenn man sich dem Vergleich stellt. Insofern ist Qualität ohne Diversität vor allem eins: fragwürdig.

 

Nicole Seifert ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Übersetzerin. Auf ihrem Blog www.nachtundtag.blog, der 2019 als bester Buchblog ausgezeichnet wurde, schreibt sie über das Thema Autorinnen sowie deren Literatur. Sie ist Mitinitiatorin der Aktionen #autorinnenschuber und #vorschauenzählen.

 

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Chronik: Januar 2020

Das Jahr begann mit einer Kontroverse, die keiner gebraucht hatte und einer Debatte, die überfällig war. Zunächst ein Video, über das jedes Wort zu viel gewesen wäre, nämlich das unwitzige Umweltsau-Lied, das der WDR in die Öffentlichkeit entließ, um danach in jede Falle der rechten Medienstrategie hineinzutappen. Dabei wurden vor lauter Entschuldigungs- und Distanzierungsgeilheit leider die eigenen Mitarbeiter*innen dem rechten Mob ausgeliefert. Soweit zum Thema: Debatten, die zu verhindern gewesen wären. Am 31.12. dann veröffentlichte der Journalist Richard Gutjahr einen erschütternden offenen Brief, der sich zu Jahresbeginn schnell verbreitete, und in dem er berichtete, wie sein Arbeitgeber, der Bayerische Rundfunk, ihn über Jahre hinweg mit einer rechtsradikalen Hetzkampagne allein gelassen habe. Überliefert wird der Kommentar von leitender Stelle, “man könne ja nicht jedem freien Mitarbeiter gleich einen Anwalt stellen, nur weil man mal im Netz ‘angepöbelt’ werde.” Man möchte den Zuständigen beim WDR und BR dringend empfehlen, sich einmal selbst eine Weile in diesem Netz  aufzuhalten, denn dort passieren Dinge, die gesellschaftlichen und kulturellen Einfluss haben (und gefühlt 90 Prozent aller ‘Pöbeleien’).

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Auf Theodor (Fontane-Jahr 2019) folgt Ludwig, denn der Geburtstag des “Bonner Battle-Badass” Beethoven jährt sich dieses Jahr zum 250 Mal und gewohnt geniekultig wird der Komponist auf dem Titel der Zeit 2/20 als “genialer Berserker” bezeichnet, der so – anders als Kinderchöre der Gegenwart – für die Beschimpfung seines Publikums gelobt wird. Andere nennen den Komponisten nur noch liebevoll Ludwig van (“Ludwig van macht das Vierteljahrtausend voll, und alle Menschen werden Ludwig-Fans. Freude, schöner Götterfunken. Da-da-da daaaa. Jubeln, Dudeln, Runternudeln.”) und lösen damit einiges an Reaktionen aus. Und pünktlich zum Jahresanfang erschien Ludwig van auch noch auf Twitter als Bot. Bereits 2024 dürfen wir uns dann auf das Kant-Jubiläumsjahr freuen, über Ludwig und Immanuel schreibt Matthias Warkus in seiner Kolumne: “In der Beethoven-Interpretation ist der Kant-Bezug ein derartiger Allgemeinplatz geworden, dass umgekehrt Kants erstes Hauptwerk, die »Kritik der reinen Vernunft«, schon despektierlich als »die 9. Sinfonie der Philosophie« bezeichnet wurde.” Katharina Herrmann richtet angesichts dieser ganzen Jubiläumsfreude den Blick auf die Jubilarinnen des neuen Jahres: “Es gab auch ein paar Frauen in dieser deutschsprachigen Kulturgeschichte und auch von diesen feiern 2020 ein paar ihren runden Geburtstag.”

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Einen “Frühling der Frauen” kündigte Mara Delius in der WELT an und stellte in ihrem Artikel den Blick auf einzelne Autorinnen gegen die Praxis des Zählens von Autorinnen in den Frühjahrsprogrammen der deutschsprachigen Verlage. Inwiefern sich der Blick auf einzelne Autorinnen und die quantitativ aussagekräftige Arbeit, die von vielen Freiwilligen unter #vorschauenzählen geleistet und von Nicole Seifert und Berit Glanz ausgewertet wurde, eben nicht ausschließen, zeigt Johannes Franzen hier auf 54books. Die nachfolgende Debatte, die sich unter anderem in einem Gespräch zwischen Mara Delius und Berit Glanz im DLF Kultur und einer Diskussionsrunde mit Nicole Seifert, Rainer Moritz und Susanne Krones im SWR, den sozialen Medien und zahlreichen Artikeln abspielte, führte wiederum dazu, dass die WELT jetzt bei den Verlagen nachfragte. Die Antworten stimmen größtenteils hoffnungsvoll, so meint Kerstina Gleba von KiWi:  “Der Schmerz, der entsteht, wenn wir realisieren, dass wir in dem Bemühen, die seit Jahrhunderten bestehenden patriarchalen Strukturen des Literaturbetriebs zu überwinden, noch nicht so weit sind, wie wir möchten, ist ein guter Ansporn, fokussiert in dieser Richtung weiterzuarbeiten.“ Beendet ist diese Debatte bestimmt noch lange nicht, wollen wir aber hoffen, dass sie in dieser Richtung weitergeht. 

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Takis Würger ist wieder da. In einem Rezensionsporträt der Autorin Lisa Taddeo und ihrem Buch Three Women gelingt es ihm, gleichermaßen unkritisch und ausgesprochen seltsam zu sein. Sollte man etwa, fragen wir uns an dieser Stelle, die Rezension zu einem Buch über sexuelle und emotionale Ausbeutung von Frauen so beginnen: “Ganz am Anfang, als Lisa Taddeo, 39, noch dachte, sie möchte ein Buch über Sex schreiben, fand sie sich zwischen den Beinen eines der größten lebenden Reporter wieder.” Auch das wunderliche Bild von der Reportage als “Wurstmaschine” lässt uns eher ratlos zurück. Kurz darauf wurde das Buch dann auch in schneller Abfolge mehrfach brutal verrissen, eine Masterclass in kritischer Feuilletonarbeit. Zum Beispiel von Juliane Liebert in der ZEIT, die in ihrer Besprechung anmerkte: “Natürlich ist Twilight, ebenso wie Drei Frauen, aus feministischer Perspektive ein Scheißbuch.” Diba Shokri unterzog das Buch in der FAS einer literaturwissenschaftlichen Kritik, die vor allem die erzählerischen Probleme dieser Art des narrativen Heranwanzens an reale Personen zeigte. 

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Im Jahr 2008 gab der Autor David Shields mit seinem Manifest Reality Hunger einer ästhetischen Tendenz einen Namen, die seitdem die Kunstgeschichte der Gegenwart bestimmt: Der Hunger nach Realem, die Fiktionsmüdigkeit, die Freude an realen Geschichten, Autofiktion etc. Wir fragen uns: Lässt sich gerade ein Backlash gegen diese Entwicklung erkennen? Ein Müdigkeit der Fiktionsmüdigkeit? Dann wäre nicht nur der kollektive Unwille in Bezug auf ein Werk des narrativen Journalismus wie Taddeos Three Women ein Zeichen dafür, sondern auch der Aufsatz, den Wolfgang Ullrich in der FAZ veröffentlicht hat. Ullrich fragt darin, ausgehend von der Kritik der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk an einem Mangel an Fiktionskompetenz, ob wir uns (kunstgeschichtlich) in einer „Krise der Autonomie“ befinden. Es überwiege eine Lust an „Reality-Kunst“. Faction zähle mehr als Fiction – „jede Zutat, die zur Aktualität und Dringlichkeit beiträgt, wirkt statussteigernd, Verbindungen zur harten Realität sorgen für ontologische Zugewinne.“ Ullrich fragt, ob die Kunst möglicherweise mit dieser Realitätsversessenheit auf die Tatsache reagiert, dass unser Alltag „von zahllosen kleineren und größeren, läppischen, aber durchaus auch sinnstiftenden Fiktionalisierungen“ durchsetzt ist? Allerdings möchte er angesichts dieser Entwicklungen nicht in „Kulturpessimismus“ verfallen. Die Kunst fällt eben nur gerade aus dem kurzen modernen Intermezzo der Autonomie zurück in eine Welt heteronomer Begehrlichkeiten. Wir können an dieser Stelle eine gewisse Vorfreude darauf, dass das dogmatische Modell der Autonomie zumindest ein paar Dellen und Risse bekommt, nicht verschweigen.

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Für eine längere Zeit war es angenehm still um den Großschriftsteller Uwe Tellkamp. Doch nun macht er wieder von sich Reden; es geht auch in diesem Fall um seine Meinungsfreiheit, sprich, seine Freiheit überall und ungebremst, vor allem aber ohne Widerrede alles sagen zu können. Im Rahmen einer Veranstaltung der rechtsradikalen Zeitschrift Tumult wurde ein Lesungstermin in Dresden von den Betreibern der Spielstätte abgesagt. Nun leben wir in einer Zeit, in der eine Raumabsage starken Nachrichtenwert zu besitzen scheint, weil sie ein Symptom darstellt für etwas, was die Leser*innen interessieren könnte. Wir wissen nur leider nicht was. Vor allem rief sie aber den ehemals sehr mächtigen (jetzt Focus) Kolumnisten Jan Fleischhauer auf den Plan, der herumnölte, Autoren wie Grass und Böll hätten sich unbehelligt politisch äußern dürfen, aber weil Tellkamp die Rolle des engagierten Autors von rechts ausfülle, werde er sehr schlimm behandelt. Auch in diesem Fall holt Fleischhauer die grundsätzliche Tragödie seines Wirkens ein, dass nämlich das, was er schreibt, nicht stimmt. Die engagierten Autoren vergangener Zeiten mussten sich noch vom Bundeskanzler persönlich als “ganz kleine Pinscher” beschimpfen lassen. Böll wurde nach seinem tatsächlich reichlich verunglückten medienkritischen Artikel “Will Ulrike Gnade oder freies Geleit” zum Opfer einer brutalen Kampagne, an der auch zahlreiche Politiker beteiligt waren. Tellkamp kann, wenn überhaupt froh sein, dass der Politik heute Schriftsteller und ihre Romane egal sind. Der Rest dessen, was Fleischhauer schreibt, stimmt übrigens auch nicht. Samira El Ouassil hat in einem Artikel für Übermedien darauf hingewiesen, dass die Ausladung nicht Tellkamp persönlich galt, sondern dem Veranstalter seiner Lesung, der Zeitschrift Tumult. Aus dieser Zeitschrift werden dann allerlei abscheuliche Dinge zitiert, die vor allem die Frage aufwerfen, mit welchen Menschen Tellkamp sich gerne abgibt? El Ouassil hat dazu das angemessene Fazit: “Der Skandal ist also nicht, dass Uwe Tellkamp nicht im Schloss lesen durfte, sondern dass Tellkamp dort im Auftrag von Tumult gelesen hätte.

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Szenen (im Sinne von Szene-Lokal) sind Orte, wo Menschen auf eine Art dünnhäutig sind, die schon einen halben Meter außerhalb dieser Szene unverständlich erscheint. Und für kaum eine Szene gilt das mehr als für die deutsche Lyrikszene. So liest man diese Replik des Autors Şafak Sarıçiçek auf eine nur mittelbegeisterte Rezension seines Bandes Jamsids Spiegelkelch von Slata Roschal in den Signaturen mit Verwunderung. Ist es nicht an sich schon verwunderlich (böse Zungen würden es illoyal nennen), dass eine Zeitschrift einem besprochenen Autor überhaupt Raum für eine solche Gegendarstellung einräumt? In Sarıçiçeks Replik wird nicht nur Beschwerde geführt gegen eine Besprechung, sondern es werden gleich Thesen zur “Poetik” dieser Besprechung aufgestellt. Thesen, Poetik… Wir befinden uns im Bereich der deutschen Gegenwartslyrik, und es macht Spaß. These 6 etwa lautet: “Al Hallaj wurde gekreuzigt, hätte sich die Verfasserin mit Al Hallaj auseinandergesetzt, wäre ihr dies bekannt. Die botanische Auseinandersetzung mit diversen Blütenformen werden sicherlich auch ergiebig sein hinsichtlich dem Erkennen von Kruzifixästhetiken.” Und nun sind wir wirklich im tiefen Herzen der Szene, wo die Voraussetzung, überhaupt ein Gedicht zu verstehen, ist, sich mit Blütenformen, Kruzifixästhetiken, und damit, wer wo gekreuzigt wurde, intim auszukennen. Doch damit nicht genug: in den sozialen Medien, besonders auf Facebook (dem Stammlokal der Lyrikszene?) brennt der Konflikt weiter. Und nicht nur das Spiel aus Rezension, beleidigter Stellungnahme, wutentbrannter Gegenrede auf Facebook und einem abschließenden mehrseitigen Dropbox-Dokument von Şafak Sarıçiçek bewegt die Lyrik-Szene, auch die Vergabe des Peter-Huchel-Preises an Henning Ziebritzki sorgt für Aufruhr und erhitzte Debatten. 

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In der NZZ fabriziert Simon M. Ingold einen gewohnt wohlig dampfenden Text zu Wokeness, Political Correctness und den bösen Radikalen. Der Artikel ist weitgehend uninteressant, bedient nur die Checkliste hergebrachter Ressentiments und Argumentationsreferenzen (Bret Easton Ellis anyone?), und endet auf einer etwas bemühten Synthese, damit die dumpfe Einseitigkeit der vorhergehenden Absätze nicht zu stark ins Auge fällt. Spannend ist nur die Verwendung des Wortes Twitterati-Klasse: Die geballte anonyme Mehrheit, angeführt von Influencern und der Twitterati-Klasse, hat das erste und letzte Wort und verschiebt laufend den Rahmen dessen, was in ihre binäre Weltsicht passt. Wer es wagt, dem moralischen Konsens zu widersprechen, wird zum Paria erklärt.” Das Wortspiel Twitterati lehnt sich an den Begriff Glitterati an, im Cambridge Dictionary definiert als rich, famous, and fashionable people whose activities are of interest to the public and are written about in some newspapers and magazines.” Wenn es nicht so abwertend gemeint wäre, könnte man sich mit dieser Beschreibung beinahe anfreunden. Ach, was soll’s, wir bekennen uns dazu, hemmungslose Twitteratis zu sein.

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Mit Gudrun Pausewang ist am 24. Januar 2020 eine der prägendsten Jugendliteratur-Schriftsteller*innen der Bundesrepublik gestorben. Am nachhaltigsten haben wohl ihre Romane Die letzten Kinder von Schewenborn (1983) und Die Wolke (1987) die (nicht nur jugendlichen) Leser*innen beeindruckt und verängstigt. In diesen Jugendbuch-Schockern beschrieb sie die Auswirkungen eines Atomkrieges in einer fiktiven deutschen Kleinstadt und die eines Reaktorunfalls. In einem ausführlichen Nachruf in der ZEIT zeigte Johannes Schneider auf, wie umfang- und facettenreich Pausewangs Werk tatsächlich war und ordnet die beiden Romane, die sonst alles andere in den Hintergrund drängen, in das Gesamtwerk ein. Die Angst, die ihre Romane bei Jugendlichen ausgelöst haben, sieht er als notwendig: “Sie hat so mit kleinen Schocks greifbar gemacht, dass der große Schock möglich ist, und vielleicht gerade damit geholfen, ihn hier und dort zu verhindern.” Ihr literarisches Engagement begründete Pausewang mit ihrer Kindheit und Jugend im Nationalsozialismus. Erst nach dem Krieg habe sie sich vom Nationalsozialismus abgewandt und verstanden, “dass es nicht genügt, sich alle vier Jahre an der Wahlurne fragen zu lassen: Wie hätten Sie’s denn politisch gerne?”

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“Heute hier, morgen dort” kennt man vorrangig aus qualvollen Musikunterrichtsstunden, seit Ende Januar scheint es das Motto von Rowohlt und dem jetzt Ex-Verleger Florian Illies zu sein. Nachdem der Holtzbrink Konzern erst im Sommer 2018 der damaligen Rowohlt-Verlegerin Barbara Laugwitz in einem mindestens fragwürdigen Vorgang gekündigt und sie durch den ehemaligen Feuilletonisten und Bestseller-Autor Florian Illies ersetzt hatte, hat dieser bereits nach weniger als anderthalb Jahren das Handtuch geworfen. Zum Herbst diesen Jahres wird er bei Rowohlt ausscheiden und begründet dies mit seinem Wunsch, wieder mehr schreiben zu wollen.  “War doch nicht so toll” stellt Sandra Kegel in einem Kommentar für die FAZ fest und zeigt noch einmal die unübersichtlichen Verstrickungen dieser Literaturbetriebsaffäre auf, die mit dem Abgang von Illies ein weiteres Kapitel bekommen hat. Um es dann erneut mit Hannes Wader zu sagen: “Trotz alledem” wünscht man sich ein besseres Händchen für die Auswahl der nächsten Person, die eine Runde im Rowohlt’schen Personalkarussell drehen darf. 

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Es ist davon auszugehen, dass der Rowohlt Verlag auch ohne Florian Illies ein Programm wird auf die Beine stellen können, dagegen wird der Unsichtbar Verlag den Betrieb 2020 gänzlich einstellen. In einem Statement auf der Verlagsseite listet der Verleger Andreas Köglowitz die Gründe hierfür auf. Diese lesen sich – der Frust und die Enttäuschung seien Köglowitz zugestanden – doch etwas wie Nachtreten: Autoren, die mäkeln, Buchhändler, die bei Bestellungen beduppen, Käufer, die das Falsche kaufen, Kulturförderung, an die Falschen. Aber wie gesagt, man kann den Frust verstehen.

Blickpolitik: Flaneur rempelt Phoneur

Zombies, unheimliche Wiedergänger ohne Persönlichkeit oder Seele, treffen auf Smartphones und heraus kommt das Kofferwort „Smombies“, das nun unbeaufsichtigt durch den Diskurs geistern darf. Der Begriff für Menschen, die sich in ihrem Smartphone versenken und ihre Umwelt gar nicht oder kaum noch wahrnehmen, machte eine rasche Karriere und wurde 2015 sogar mit dem Titel des „Jugendworts des Jahres” gekrönt, und das, obwohl es kaum Nachweise über eine tatsächliche Verwendung des Wortes gab. Aber wer kann schon einem smarten Jugendwort widerstehen, das so schön die (eigene) Technikskepsis zusammenfasst.

In ihr Telefon vertiefte Menschen werden seit einiger Zeit  als Ärgernis wahrgenommen; davon zeugen die ironischerweise regelmäßig in den sozialen Medien verbreiteten Posts von Gastronomiebetrieben, die Smartphoneverbote aussprechen oder stolz verkünden kein W-Lan zur Verfügung zu stellen. Und selbstverständlich findet sich diese Form von Kritik, die  schnell in einen Schwanengesang auf das Echte, Reale und Authentische, die zwischenmenschliche Interaktion und die gute alte Zeit ausarten kann, auch in den etablierten Medien.

Ein aktuelles Beispiel liefert ein Kommentar des Medien- und Literaturwissenschaftlers Roberto Simanowski im DLF Kultur, dort schreibt er: „Also stört uns die Ignoranz des Smartphone-Zombies – oder kurz: Smombies – nicht nur uns, sondern auch dem Raum gegenüber. Und mit dem Raum entwerten sie zugleich dessen Geschichte und Gegenwart, die präsent ist in der Häuserstruktur, den abgetretenen Treppenstufen, dem Denkmal im Park. Das alles geht ebenso verloren wie die Menschen vor Ort. Kein Blick für die Jugendlichen an der Ecke und die Trinker im Park. Kein Blick für die alte Frau mit dem Baguette oder das kleine Mädchen mit dem großen Hund. Aber damit nicht genug. Das Smartphone lenkt nicht nur ab vom Raum, es ändert auch den Blick auf diesen.“

Natürlich möchte man direkt zurückfragen, ob Herr Simanowski schon mal eine halbe Stunde auf Instagram verbracht hat, wo Bilder der von ihm beschriebenen spezifischen Form von Lokalkolorit, Perspektiven auf interessanten Ecken im öffentlichen Raum und eine beinahe fetischisierte Verfallsästhetik zahlreiche der geposteten Bilder prägen – fotografiert von den vielfach kritisierten Smombies, die angeblich ihre Umwelt nicht mehr wahrnehmen.

Simanowski vertritt in seinem Text, wie auch in einem sehr ähnlichen Vorläufertext in der NZZ von 2017 (Kulturkritik kann man eben auch drei Jahre später noch aus dem Gefrierfach nehmen), eine Flanierästhetik alter Schule, die allzu oft andere Menschen im öffentlichen Raum zur Kulisse reduziert. Der Flaneur ist historisch betrachtet eine männliche Figur, und  es ist daher auch durchaus bezeichnend, wer in Simanowskis Text angeschaut wird: Jugendliche, Trinker, Kinder und Frauen.

Wem gehört der öffentliche Raum? Wer fühlt sich dort sicher und willkommen? Für wen werden öffentliche Plätze und Straßen geplant und wer ist ein öffentliches Ärgernis? All diese Fragen treiben nicht nur Stadtplaner*innen und Geograph*innen um, sondern werden auf immer wieder neue Art und Weise auch in der Literatur verhandelt. Der Blick auf die räumlichen Verhältnisse in literarischen Texten, auf Raumkonzepte als zentralen Vorstellungsbildern von Kulturen und auch auf die Machtdimensionen, die unseren Vorstellungen von Raum immer eingeschrieben sind, ist mittlerweile zu einem Kernthema der Kultur- und Literaturwissenschaften geworden und auch in der Literaturkritik angekommen.

Raum in literarischen Texten kann eine Bühne für die Figur sein, kann Heimat und Geborgenheit oder Abenteuer und Eroberung bedeuten, kann distanziert beobachtet oder halsbrecherisch durchdrungen werden. Figuren können von Machtverhältnissen, die sich räumlich abbilden unterdrückt oder ermächtigt werden, aber zu dem Raum, in dem sie erzählt werden, müssen sich die Figuren immer irgendwie verhalten. Literatur steht immer in einem Verhältnis zur Gegenwart der Schreibenden, unterläuft Wahrnehmungsmuster und soziale Ordnungen oder affirmiert diese. So setzen sich beispielsweise zahlreiche Texte der Anthologie FLEXEN. Flaneusen* schreiben Städte, die 2019 im Verbrecher Verlag erschienen ist, mit dem öffentlichen Raum auseinander, eignen sich die traditionell Männern vorbehaltene Sozialfigur des Flaneurs an und erobern den Raum aus einer eigenen Perspektive. Dabei wird ein kulturell etabliertes Blickregime unterlaufen, das dem männlichen Flaneur die Rolle des betrachtenden Subjekts zuweist, der mit seinem Blick anderen Personen im öffentlichen Raum zu Objekten machen kann. Flanieren als feministische Praktik setzt also diesem männlichen Blickregime einen eigenen Blick entgegen, versucht Unsichtbares sichtbar zu machen und den eigenen Status in etablierten Blickregimes zu reflektieren.

In Zeiten der Digitalisierung aber hat sich die Rolle der Flaneure im öffentlichen Raum grundsätzlich verändert. Einerseits gibt es Theorien, die das Flanieren selbst in die Virtualität verlegen, also beispielsweise zielloses Surfen im Internet oder das Wandern in Computerspielen als neue Form des Flanierens bezeichnen, andererseits entstehen aus der allgegenwärtigen Verzahnung von virtuellem und realem Raum neue Fragen und Herausforderungen. Welche Rolle spielen Flaneure und Flaneusen in der Gegenwart zwischen Pokémon Go und Schrittzähler-Armbändern?

Robert Luke formuliert 2005 erstmalig den Begriff des Phoneurs für die flanierenden Menschen in sich überlappenden virtuellen und realen Räumen. Corinna Pape schreibt: „‘Strolling‘ lautet der englische Begriff für die Praxis des Flaneurs – ‘scrolling‘ nennen wir heute das Lesen auf digitalen Geräten. Ausgehend von der Annahme, das sich mobile Medientechnologien zunehmend in den urbanen Raum einschreiben, stellt sich die Frage: Wird der Flaneur heute zum ‘scrollenden‘ Spaziergänger, zum Phoneur, der sich ausgestattet mit mobiler Technologie ebenfalls in einer Zwischenwelt innerhalb des Stadtraums bewegt?“[1]

Der sich aktiv im realen Raum bewegende Phoneur, der diesen durch Verknüpfung mit dem sozialen Gefüge des virtuellen Raums mitgestaltet, steht im klaren Gegensatz zu dem von Simanowski kritisierten hirnlosen Smombie. Der öffentliche Raum gehört den Menschen, die sich dort aufhalten, ob sie mit gesteigerter Sensibilität nach Bildern für ihren Instagramfeed suchen, alltagsbeobachtend im Kopf Tweets formulieren, versuchen ihre 10000 täglichen Schritte zu erreichen, das ein oder andere Pokemon fangen, oder eben andere bei ihrem fluiden Wechsel zwischen Virtualität und Realität bewerten und beobachten.

Das Gerede von Smombies, die in ihr Smartphone starrend die Sinnlichkeit des öffentlichen Raums verpassen, ist eine reaktionäre Argumentationsfigur, die auch dem Zorn darüber zu verdanken ist, dass sich viele Menschen nicht mehr den etablierten Blickregimes unterwerfen, den Blick zurück verweigern und sich stattdessen teilweise in den virtuellen Raum zurückziehen. Damit werden etablierte Machtverhältnisse im öffentlichen Raum nicht mehr bestätigt, sondern ständig in Frage gestellt und das macht wütend. Simanowskis formuliert es in der NZZ vielleicht selbst am besten: „Ärgerlich ist, dass wir nicht infrage kommen, dass wir keine Rolle spielen, dass wir ignoriert werden.“ Seine Antwort auf diese Zumutung des Blickentzugs scheint übrigens zu sein, sich den Phoneuren mutig in den Weg zu stellen: „Diese Smartphone-Zombies sind keine Überbleibsel einer unbegrabenen Vergangenheit, sondern Vorboten einer Zukunft, der wir nicht entgehen können. Ihr Anblick gemahnt uns, dass wir die technische Entwicklung nicht aufhalten können. Wer wollte da nicht wenigstens den Boten dieser Entwicklung sich wacker in den Weg stellen?“ Hier rempelt dann der Flaneur alter Schule die Phoneure zurück in das alte Blickregime – zumindest für einen Augenblick.

[1] Corinna Pape: „Lernen findet Stadt. Der urbane Raum als transmedialer Spielplatz.“ In: Gerhard Chr. Buckow et. Al. (Hg.): Raum, Zeit, Medienbildung. Untersuchungen zu medialen Veränderungen unseres Verhältnisses zu Raum und Zeit. Wiesbaden, 2012. S. 155-172

 

Frauen zählen gegen #frauenzählen?

Der zeitgenössische literarische Diskurs ist ein streitgeplagter Ort. Und Mara Delius, die Leiterin der Literarischen Welt, ist nicht zufrieden damit. Wieder werden nämlich Verlagsprogramme kalt durchgezählt, und wieder wird der Umstand angeprangert, dass in manchen Verlagsprogrammen Autorinnen signifikant weniger präsent sind als Autoren. Einen Überblick über diese Misere hatten Nicole Seifert und unsere Autorin Berit Glanz für Spiegel Online zusammengestellt. Aus dem Durchzählen der Verlagsprogramme ergab sich vor allem, dass die etablierten Literaturverlage nach wie vor kein Problem damit haben, Programme mit wenigen Autorinnen in die Saison zu schicken (Hanser 4/14, Fischer 4/11, Diogenes 5/15).

Allerdings ist es nicht dieser offen sichtbare und von den Verlagen auch selbstkritisch reflektierte Umstand, der Delius unfroh macht, sondern das Zählen selbst. Zunächst verlangt sie misstrauisch zu wissen, wer hier überhaupt spricht, frei nach der sehr deutschen Frage: ‚Wer sind Sie eigentlich?‘ Offen sei nämlich geblieben, „wer die moralische Richterposition einnähme und wieso, bei wem wer wie wegen welcher Unausgewogenheit nun ‚in die Kritik geraten‘ oder ‚unangenehm aufgefallen‘ war.“ Gemeint ist damit: Die Kritik kommt aus den sozialen Medien und ist also eine amorphe Masse, die eigentlich keine Autorität beanspruchen kann (anders etwa als ein Artikel in der Literarischen Welt). Diese argumentative Strategie entspricht einer aktuellen Tendenz in der feuilletonistischen Praxis, das anarchische und nicht legitimierte wilde Internet gegen die aufgeklärte absolutistische Ordnung am Hof des Printfeuilletons auszuspielen – als wären diejenigen, die sich auf Twitter zu diesen Themen äußern, nicht die Kolleg*innen selbst. Man hätte, anstatt mit pompösem Konjunktiv die Frage raunend in den Raum zu stellen, wer da die Richterposition „einnähme“, auch einfach nachschlagen können (die Diskussion wurde unter #vorschauenzählen geführt). Delius geht es aber, das wird recht schnell deutlich, gar nicht ums Diskutieren, sondern ums Delegitimieren:

„[E]benfalls offen blieb“, schreibt sie, „ob ein Literaturkritiker heute auch als Aktivistin auftreten muss und ein Verlagsprogramm vom Gleichstellungsbeauftragten geprüft; kurz, ob nicht langsam der an sich richtige Impuls, auf ein ausgewogenes Verhältnis von Frauen zu Männern im Literaturbetrieb zu achten kippt, von aufklärerisch zu eindimensional – nicht unbedingt die beste Haltung, um sich der Welt der Literatur zu nähern. Und dürfte es ein 50-jähriger Debütant momentan am Markt nicht schwerer haben als die instagramkompatible 20-jährige, selbst wenn er den besseren Roman geschrieben hat?”

Schon in der verunglückten sprachlichen Geschlechterverwirrung, die dem ewig männlich-stabilen „Literaturkritiker“ die nervös-destruktive „Aktivistin“ beiseite stellt, entbirgt sich ein generelles konservative Ressentiment gegen die politische Kritik an den Verlagsprogrammen. Man befindet sich nun in einer Welt, in der ein höhnischer Verweis auf den „Gleichstellungsbeauftragten“ (nun wieder generisch männlich) eine legitime Form der Abwertung ist. Offenbar geht die Leiterin der Literarischen Welt davon aus, dass ihre Leser*innen ebenfalls schaudernd zusammenzucken, bei der Vorstellung, die Gleichstellungsbeauftragte würde sich über die Literatur hermachen. Zumindest kann man diese Leser*innen in Bezug auf das Wohlergehen der männlichen, nicht jugendlichen, nicht instagramkompatiblen Autoren beruhigen. Immerhin wurde einer von ihnen im letzten Jahr noch mit 870 000 Euro alimentiert.

Nun darf man aber nicht zu dem Schluss kommen, Delius habe sich hier gegen feministische Kritik gestellt, denn es geht ihr in ihrem Text, der den Titel Die Frauen des Frühlings trägt (man würde der Literarischen Welt eine Gleichstellungsbeauftragte – oder geschmackvolle Person – wünschen, die bei solchen Titeln Einspruch erhebt) eigentlich ja darum, die vielen Autorinnen, die unser literarisches Leben doch gerade sichtbar bereichern, davor zu beschützen, dass sie durch das abstrakte Zählen unsichtbar gemacht werden. Gibt es nicht Ottessa Moshfegh und Delphine de Vigan? Was ist mit Lisa Taddeo oder  Jhumpa Lahiri?  Und so vielen mehr? So viele Frauen! Könnte man da nicht zu dem Fazit kommen: „Bei aller berechtigter Kritik an strukturellen Unausgewogenheiten in der Verlagswelt sollte man nicht übersehen, welche Autorinnen welche Bücher schreiben.“

Wenn Kritik auf diese großzügige Art „berechtigt“ genannt wird, dann ahnt man schon, wie ernst sie genommen wird. Und dann drängt sich auch der leise Verdacht auf, dass die Autorinnen, die dieses Jahr einen ‚Frühling der Frauen‘  herbeigezaubert haben, hier vielleicht nur benutzt werden, um eine politisch unliebsame Agenda zu diskreditieren. Immerhin kam Delius in ihrer Kolumne mit dem Titel Im Zweifel für die Literatur  im Sommer noch ganz ohne die Fotowand brillanter Frauen aus. Allerdings hieß es damals schon: „Inzwischen aber scheint die Haltung, mit der gezählt wird, zu kippen: von aufklärerisch zu eindimensional.“ Und auch das Schreckgespenst der Gleichstellung hatte bereits einen Auftritt: „Ein Verlagsprogramm ist kein Gleichstellungsbeauftragtenpapier, das 50/50 durchsetzt, und die Qualität von Literatur hängt nicht vom Geschlecht ihres Verfassers ab.“ Offenbar ist die Kritik an dem Durchzählen von Verlagsprogrammen ein so wichtiges Anliegen, dass man ein halbes Jahr später die gleichen Argumente bis in den Wortlaut hinein recyclen muss.

Es gehört zu den Strategien zeitgenössischer konservativer Kritik, aufklärerische Aktionen vordergründig zu loben, um dann sofort (über die Diagnose eines angeblichen Exzesses) ein Umkippen dieser Aktionen ins Antiaufklärerische zu beklagen. Im Sommer 2019 war die Irritation über das Ungleichgewicht in den Verlagsprogrammen überhaupt erst gerade angelaufen, da wollte Delius das Ganze bereits wieder abblasen, weil es zu kippen drohte, aber eine Kritik, die man von Anfang an als bedrohlich und illegitim empfindet, ist natürlich auch von Anfang an gekippt.

Was im Sommer aber noch damit begründet wurde, dass der Wert von Literatur nicht am Geschlecht hängen kann (Judith, die von Virginia Woolf erfundene Schwester Shakespeares, wird es mit Erleichterung hören), wird jetzt damit begründet, dass das Zählen doch eigentlich selbst den individuellen Erfolg individueller Frauen unsichtbar macht. Das entspricht der gängigen konservativen Kulissenschieberei von Evidenz: Wenn Diskriminierung beklagt wird, dann werden streng Fakten eingefordert, Statistiken, Belege. Wenn diese Belege dann vorliegen, wird ein kaltes Abzählen beklagt, das den Blick auf die individuellen Erfolge von diskriminierten Personen verstellt. Beide Strategien geben sich gerne als unpolitisch aus: Es geht ja um die Kunst oder um Individuen! Unpolitisch sind sie aber nur in dem Sinne, dass sie legitime Anliegen aus dem literarischen Diskurs ausschließen wollen. Dass diese Form der Kommunikation je nach Kontext vom Statistischen ins Anekdotische und zurück fallen kann, zeigt, wie eminent politisch die Strategie dahinter tatsächlich ist.