Bohrtiefe
„Gegen die experimentelle Poesie, für die der bald 50-jährige Lentz immer wieder mit Verve eintritt, ist ja oft der Verdacht erhoben worden, dass die Theorie dieser Literatur oft wesentlich interessanter sei als die Praxis. Diesen Unkenrufern begegnet Lentz in seinen jetzt als Buch vorliegenden Poetikvorlesungen mit der Leidenschaft des Sprachbesessenen, der an unterschiedlichsten Exempeln demonstriert, auf welche Weise experimentelle Dichter ihre Alphabet-Obsessionen in Poesie transformieren. «Atmen Ordnung Abgrund» ist ein Vademecum moderner Literaturtheorie. Die fünf Vorträge orientieren sich an den traditionellen Klassifikationen der Rhetorik: Der «Inventio» (Stoff-Findung), die an Textbeispielen von Beckett und Ror Wolf veranschaulicht wird, folgen exzellente interpretatorische Tiefbohrungen in Texten von Ernst Jandl, Franz Mon und vor allem Oskar Pastior, die das Material zur Erhellung der «Dispositio» (Gliederung), «Elocutio» (Ausarbeitung), «Memoria» (Erinnerungs-Training) und schliesslich «Actio» (Vortrag) liefern.
Die Auseinandersetzung mit der Rhetorik versteht Lentz als Methode der literarischen Selbsterrettung. Denn Sprachbesessenheit, wie sie dieser Dichter in seinen Gedichten und Anagrammen immer wieder ausagiert, bedarf – um nicht in willkürlichen Entgrenzungen zu zerfasern – der Ordnungsinstanz Rhetorik: «Es ist die Sehnsucht des ästhetischen Freelancers nach der Regelpoetik, nach der Selbstunterwerfung, nach dem Barock.»“ Michael Braun heute in der NZZ über:
Michael Lentz: Atmen Ordnung Abgrund. Frankfurter Poetikvorlesungen. S. Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2013.
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