
Konzept/Regie Niklaus Helbling mit Mass & Fieber. Foto G. Schmid-Drechsler
Was auf der Bühne geschieht, wenn gespielt wird
Eine Einführung zu ACTORS ON STAGE von Niklaus Helbling, Kurator des Culturmag-Special
Theater ist Luft. Die Leute gehen hin, setzen sich in einen Raum und nehmen teil an einem Ereignis aus Sicht- und Hörbarem, aus Inhalt, Aesthetik und Energie, bringen durch ihre Teilnahme, ihr Mitdenken selbst Energie in das Produkt mit ein, das dann, wenn sie den Raum wieder verlassen, nur noch in ihren Köpfen weiter existiert, während die Bühne leergeräumt wird. Es gibt gefilmte Aufzeichnungen, gewiss, aber das eigentliche Ereignis Theater ist nur im Moment der Vorstellung zu haben. Auch die kunstvollste Verfilmung kommt mit all ihren Techniken nicht an den „Zauber des Moments“ auf der Bühne heran. Dafür müssen die Zuschauer*innen physisch anwesend sein; sie müssen es am eigenen Leib erfahren. Das gibt es sonst nur noch in der Kirche. Selbst bei der Musik hat sich das Substitut der Aufnahme längst als eigenes Produkt etabliert.
Die Flüchtigkeit des Theaters bringt ein eigenes Problem der Beschreibbarkeit mit sich. Die Theaterkritik ist im besten Fall der Versuch, nachvollziehbar zu berichten, was da in der Luft auf der Bühne und im Zuschauerraum passiert. Das ist nicht einfach, denn so reflexhaft einig sich der versammelte Zuschauerkörper in bestimmten Momenten, zum Beispiel bei Pointen, oft ist, so kompliziert ist es hinterher zu sagen, worin und warum das ganze Erlebnis bestanden hat. Die verschiedenen Luftqualitäten lassen sich nicht so leicht einfangen und beschreiben. Gut, ein bisschen Mystifizierung ist beim Reden über Theater immer auch dabei. Je nach Epoche, Stilrichtung, Mode ändert sich das Vokabular. Zuweilen wird mit Wörtern wie Magie, Aura, Nimbus operiert, dann wird wieder von Handwerk und Technik gesprochen. Im aktuellen Diskurs über Theater geht es mehr um Konzept, Dekonstruktion, Überschreibung.
Was mich an diesem ganzen Komplex interessiert, ist das, was die Schauspieler*innen im Moment des Spielens eigentlich machen. Was geschieht durch sie, mit und zwischen ihnen auf der Bühne?
Es interessiert mich, weil seltsam wenig davon die Rede ist.
Seit gut dreißig Jahren beobachte ich jetzt von Berufs wegen Schauspieler, und dieses besondere Privileg hat mir grob gerechnet etwa 30‘000 Stunden Anschauung eingebracht. Ich kann auch gleich zugeben, dass ich daraus wenig objektive Erkenntnisse ziehen konnte. Einerseits, weil ich einen Teil dieser Zeit selbst damit beschäftigt war, einen einigermaßen tauglichen Dramaturgen oder Regisseur darzustellen, und weil ich andererseits keine zwei Schauspieler*innen erlebt habe, von denen ich hätte sagen können, dass sie die gleiche „Methode“ oder „Technik“ hätten. Ähnlichkeiten gibt es, Schulen auch. Manchmal sieht man Schauspieler*innen an, woher sie kommen, wo sie ihre Ausbildung gemacht haben. Und es gibt Vorbilder. Ich habe einmal einen Schauspieler darauf angesprochen, ob er die Art, wie er auf der Probe seinen Mitspieler*innen spielenderweise einen Vorschlag mache, einem uns beiden bekannten, mittlerweile verstorbenen Kollegen abgeschaut habe. Er wusste tatsächlich, was und wen ich meinte, und bestätigte den Einfluss. Im Großen und Ganzen gilt jedoch, dass es so viele Vorgehensweisen oder Techniken gibt, wie es Schauspieler*innen gibt.
Auf den Proben fällt die Methodenvielfalt besonders auf. Und damit meine ich alles, was neuronal, physisch, organisatorisch der Fall sein kann. Der eine geht so lange herum, bis er seinen Rhythmus und seinen Ort gefunden hat; er macht es mit den Füßen. Eine andere steht immer an der richtigen Stelle, sie nimmt den Raum wahr wie mit einem Radar und kann stehen wie niemand sonst, keine nervösen Hände, kein Wippen und Wackeln. Die nächste sucht immer den Widerstand, einen Feind, sie macht’s mit Wut, packt ihre Spielpartner: weiße Knöchel, blaue Flecken. Dann gibt es den, der die künstlichsten Sätze so ausspricht, als wären sie ihm eben eingefallen. Die hochgespanntesten Verse von Goethe sind ihm so alltäglich wie ein „Was gibt’s heute zu essen?“ Er hat lesende Ohren. Es gibt auch einen, dem alle Requisiten, Möbel immer richtig in die Hände fallen, er fasst auch Spielpartner*innen immer richtig und hilfreich an. Er ist ein taktiles Genie, seine Hände stellen Vertrauen her und inspirieren. (Das fällt auch deshalb auf, weil man viel öfter das Gegenteil sieht, den scheinbar zärtlichen Griff ins Gesicht einer wehrlosen Partnerin zum Beispiel, der in meinen Augen oft nur ein kollegialer Übergriff ist.) Es gibt die mit den lustigen Knien, den mit den eckigen Bewegungen, die mit der Vorliebe fürs Hässliche, die Geisterseherin und Tierversteherin, den immer Müden, den man nicht aus den Augen lassen kann, den anziehend Asozialen, das abstoßende Ekel, das plötzlich hell und klar denkt, und so weiter. Die Liste ließe sich unendlich verlängern. Jede Spielerin und jeder Spieler legt sich die Aufgabe anders zurecht, viele Wege führen ins Spiel, seien sie psychologisch, körperlich, imitatorisch, formal, klanglich, rhythmisch… Und dann kommt die Interaktion mit den andern auf der Bühne dazu und multipliziert die Zeichen und Impulse. Es entsteht ein komplexes Ganzes, das sich erst recht nicht mehr systematisch beschreiben lässt. Jedenfalls nicht von außen.
Was aber sagen die Schauspieler*innen selber, wenn man sie nach dem Eigentlichen des Bühnengeschehens fragt? Haben sie Begriffe dafür, was sie genau beim Spielen tun, was mit ihnen da geschieht?
Ich habe eine kleine Umfrage an 32 Schauspieler*innen verschickt und wollte wissen: Was auf der Bühne geschieht, wenn sie spielen. Mit den allermeisten von ihnen hatte ich schon einmal als Regisseur oder Dramaturg gearbeitet, und ich war einfach neugierig, wie sie reagieren würden. Ich war, das schrieb ich ihnen dazu, nicht auf besonders kunstvolle Texte aus (es kamen dann durchaus kunstvolle Texte zurück) und es ging mir auch nicht um absonderliche Bühnenanekdoten. Ich wollte, dass sie ihre Spielarbeit beschreiben – sozusagen sich selber beim Arbeiten fotografieren – , um vielleicht etwas über die Vorgänge im „Inneren der Goldmine“ (wie Jim Morrison sagte) zu erfahren. Mein Motiv ist einfach: Ich bin ein Fan, und ich finde, dass die schauspielerische Erfindungskraft auffallend wenig geschätzt – oder mindestens beschrieben wird, wenn von Theater die Rede ist.
Die Zeiten, in denen Benjamin Henrichs in der „Zeit“ große Seiten mit minuziösen Beobachtungen von Ulrich Wildgruber, Angela Winkler oder Gerd Voss füllte, sind vorbei. Das ist vielleicht schade, aber auch nicht weiter schlimm. Doch wie ausschließlich mittlerweile der Fokus auf den großen Ereignis-Stylern und Maschinenbauern des Theaters liegt, und wie selten dabei noch ein, zwei Namen von Schauspieler*innen fallen, befremdet mich manchmal. Denn trotz allem installativen, performativen, immersiven, diskursiven Hype, sind es ja immer noch die Spieler*innen, die in der zweiten, dritten, vierzehnten, fünfunddreißigsten Vorstellung leibhaftig eine Aufführung verantworten und den Zuschauern zuverlässig das Gefühl geben: Hier und jetzt mit Euch und uns kann alles passieren!
Ich hatte Lust darauf zu lesen, wie sich die Spieler*innen selber sehen und was sie uns über die Geheimnisse ihres luftigen (und lustigen) Gewerbes sagen können. Ich war mir bewusst, dass meine Anfrage auch eine Zumutung war. Schauspieler*innen haben zu Saisonbeginn anderes zu tun, als sich in einer ungewohnten Disziplin zu üben. Tatsächlich haben einige dankend abgesagt, andere wollten etwas schreiben, sind aber nicht dazu gekommen, eine hat den Beruf gewechselt, andere kamen gar nicht zum Antworten – und am Ende landeten doch neun großartig offene und inspirierende Texte bei mir, von denen, wen wundert’s, keiner dem anderen gleicht. Sie geben Einblick in eine Sphäre, von der mindestens ein Schreiber sich auch fragte, ob sie nicht allzu privat sei (und bleiben sollte). Umso mehr freut mich die Großzügigkeit, mit der alle Schreibenden auf meine Neugier eingegangen sind. – Ihnen aber, die Sie sich mit diesem ersten Culturmag-Theater-Special befassen, wünsche ich viel Vergnügen beim Lesen!
Niklaus Helbling
Kleiner Nachtrag: Wenn Sie das Thema „Backstage“ interessiert und Sie ihn noch nicht im Kino gesehen haben, schauen Sie sich bitte „Once upon in… Hollywood“ von Quentin Tarantino an. In diesem Film erleben Sie drei, sieben, zwölf Schauspieler die alle unglaublich genau und witzig und wahr über das Schauspieler-Metier und Film-Geschäft erzählen. Allein wie Leonardo di Caprio die Stimmungs- und Inspirations-Schwankungen eines mäßig erfolgreichen Western-Darstellers zeigt und dabei auf ungefähr sieben Arten weint, ist eine höchst souveräne Liebeserklärung an diesen Beruf, der so notorisch wie rührend zwischen Kunst und Kommerz, High and Low schwingt. Ein Meisterwerk der Selbstreflexion von Tarantino und seinen Stars.

Foto Marcus Renken
BIO: Niklaus Helbling, geboren 1959 in Zürich, 1988-1998 Dramaturg am Thalia Theater Hamburg, seit 1999 freischaffender Regisseur, Autor und Dramaturg. Inszenierungen u.a. an Stadt- und Staatstheatern in Zürich, Basel, Hamburg, Düsseldorf, Mainz, Dresden, Lübeck, Bochum, Burgtheater Wien, Salzburger Festspiele (u.a.). 2014 – 2018 Hausregisseur am Staatstheater Mainz. Seit 2010 Operninszenierungen. 1999 gründete er mit Freunden in Zürich das freie Theaterkollektiv Mass & Fieber, 2011 kam die deutsche Filiale Mass & Fieber OST dazu. Mit beiden Gruppen entstanden seither 25 Theaterstücke, immersive Performances, Hörspiele und Clubabende
AKTUELL / COMING: Regiearbeiten: Mass & Fieber OST: „Die Mondmaschine. Lecture Performance zu Maschinen, Menschen und Bakterien.“ Für Theater Kanton Zürich „Zwingli Roadshow“. 2020 für Staatstheater Mainz „Tal der Ahnen“ (Musiktheaterprojekt).
LINKS:
http://www.staatstheater-mainz.com/web/menschen/mitarbeiter/niklaus-helbling
www.massundfieber.ch