
REGIE Felix Hafner FOTO Gabriela Neeb
Zu der Frage: „Warum spielt der Mensch? Was heißt Spiel auf der Bühne?“ haben Theater- und andere Wissenschaftler*innen so viel Unbestreitbares zu Papier gebracht, dass ich sicher war, mich ihr immer wieder gern lesend, nicht aber nachdenkend nähern zu müssen. Dabei hat es mich doch während vieler Proben fasziniert zu erraten, was wohl die spielerischen Grundantriebe besonders spannender Partner*innen sein mochten. Mit Thomas Schmauser, Valery Tscheplanowa oder Tonio Arango zu spielen, bedeutete Staunen und Überraschung als Dauerzustand, verbunden mit der froh machenden Erkenntnis, selbst vollkommen anders zu funktionieren, chronische Neidzustände nicht ausgeschlossen.
Nun aber selbst gefragt zu werden „Warum spielst du? Wann empfindest du, dass du spielst?“ kommt mir vor wie eine Aufforderung zum Geheimnisverrat, dem ich erst einmal zu entgehen versuche, indem ich auf die große Bandbreite von Umständen und Gegebenheiten verweise – literarische Vorlagen, politische Verhältnisse, das betreffende Jahrzehnt, die eigene Lebenssituation, die Regie…
Eitel Ausflüchte! Recht eigentlich ist mir die Antwort einfach nicht klar, denn ich stocke bereits bei der Frage, die derjenigen nach der persönlichen Motivation vorangeht: Will ich eigentlich, dass das, was ich schauspielend im Moment auf der Bühne tue, Folgen hat – oder gerade nicht? Denn nur um den Moment kann es gehen, dem muss ich auf die Spur kommen, die theaterphilosophische Analyse können andere besser.
Ich denke, Spiel ist für mich die Möglichkeit, mit maximalen Einsätzen unterschiedlichste Dinge riskieren zu können bei völliger Folgenlosigkeit für mich selbst.
Das finde ich hocherotisch. Ich kann mir gefährliche, strunzdumme oder völlig verstiegene Denkmuster aneignen, mich meinen Mitmenschen zumuten oder ausliefern, Gemeinschaft oder Einsamkeit durchleben, selbst abartigste Verhaltensweisen durchexerzieren ohne reale Konsequenz. Zwar hilft manchmal die Regie, was ich aber für diese Erlebnisse aufwende, ist meine Verantwortung und Entscheidung. Wie ich aus ihnen wieder herauskomme, auch. Dabei hilft die Regie nie. Und was ich auf der Bühne tun darf, muss ich im Leben nicht machen. Dem therapeutischen Nebenklang dieses Gedankens auf den Grund zu gehen, weigere ich mich. In den verschiedensten Formensprachen darf ich in Gefühls-, Gedanken- und Konfliktkonstellationen öffentlich ein- und aussteigen mit fast allem, was ich habe und bin. Ohne Risiko. Super.
Scheußlich Ich-bezogen, denn natürlich will ich ja etwas bewirken, Eindrücke und Erkenntnisse vermitteln, am besten nachhaltig! Ich will zwar wahrgenommen und nicht so schnell vergessen werden, den unleugbaren Part der Eitelkeit aber möglichst klein halten. Nur wenn ich bei anderen, meinen Partner*innen, vor allem aber beim Publikum spürbar etwas bewirke, merke ich doch, worum es geht im Spiel. Zum Glück gibt es manchmal absurde Augenblicke von Erleuchtung.
Vor einiger Zeit sorgte unser „Balkan macht frei“ im Münchner Marstall für viel Aufregung. In der meistdiskutierten Szene folterten Fredi Kleinheinz und ich meinen ehemaligen Studenten Franz Pätzold mittels Waterboarding und einer parallel verlautbarten Rede über Deutschland. Hier geschah das kleine Theaterwunder, dass in fast allen der ca. 40 Vorstellungen Teile des Publikums den Vorgang nicht ertrugen und verbal protestierten (immer) bzw. die Bühne betraten (fast immer), um die Folterszene physisch zu beenden, indem sie mich zur Seite stießen, den Wassereimer umwarfen, mir das Gefäß entrissen, die Fesseln des Opfers lösten und dabei entrüstete Statements riefen. Besonders im Gedächtnis bleibt mir ein Moment unseres Gastspiels in der Wiener ‚Garage X’. Ein besonders kräftig gebauter Zuschauer beschimpfte die Szene zunächst lauthals im Dialekt, kam dann nach vorn und beendete den Vorgang entschlossen mit wenigen Handgriffen. Als ich daraufhin Folterung und Rede fortsetzte, kam er zurück, baute sich vor mir auf und sprach „Du, ich red nicht nur, ich mach Kampfsport, hör auf!“ In dieser Sekunde der zugespitzten Konfrontation mit dem Publikum war mir glasklar, dass Aufhören überhaupt keine Option war, denn zwar sah ich die trainierten Fäuste und den zornigen Blick des Mannes, war aber so neugierig auf das, was vielleicht gleich geschehen würde, dass ein zu erwartender Kieferbruch mit nachfolgender Zahnbehandlung mich nicht im Geringsten abzuschrecken vermochte. So sprach und folterte ich also weiter und lernte über mich, dass zu meinem Berufsverständnis offenbar auch ein gerüttelt Maß Erlebnisgier gehört.
Doch auch der Wunsch, Geschichten zu erzählen, spielte wohl eine Rolle, so altmodisch das auch klingen mag, denn die Geschichte, wie ich von einem Zuschauer auf der Bühne vermöbelt wurde, hätte ich schon sehr gern erzählt. Vor allem andere hätten sie erzählt, und noch lange danach! Und schon steht die Nebenfigur der Eitelkeit ungebeten wieder in der Mitte und spielt doch eine größere Rolle als von mir immer gewünscht. Lasst uns also lieber theoretisieren über den Homo ludens, denn „er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt…“
Ach ja, in Wien war dann bald mein Wasser alle. Der Zuschauer setzte sich vorn seitlich auf die Treppe und blieb wachsam bis zum Schluss.

Foto Falk Wenzel
BIO Jörg Lichtenstein (59) stammt aus Rostock. Dort spielte er Geige und Handball, sang im Kinderchor des Volkstheaters und arbeitete nach dem Abitur als Opernregieassistent, bevor er in Leipzig Schauspiel studierte und sein erstes Engagement antrat. Später ging er im Festengagement nach Graz, Hannover, Hamburg (Thalia), Köln, Halle und als ständiger Gast ins Ensemble des Residenztheaters München. Gastrollen spielte er auch in Stuttgart, am Münchner Volkstheater, dem Burgtheater Wien und den Salzburger Festspielen. Früh begann J. Lichtenstein zu unterrichten, zunächst Schauspiel für Gesangsstudierende, später an den Schauspielinstituten in Leipzig und Graz, als Studioleiter am neuen theater Halle, inzwischen am Salzburger Mozarteum. Wichtig bleibt ihm auch die Arbeit als Opernregisseur. Er inszenierte am Opernhaus Graz und mehrmals am Opernstudio der Bregenzer Festspiele.
AKTUELL / COMING Regie: „Antigone“ frei nach Sophokles, Eröffnung des Symposiums „Widerständig“ im TiKQ Salzburg am 22.11. Schauspiel: Burgtheater Wien, J.W. Goethe „Faust“ (R: M. Kusei)
LINKS
http://schauspiel.moz.ac.at/seiten/ueber-uns/1.1-dozierende/univ.-prof.-joerg-lichtenstein.php