Geschrieben am 18. Oktober 2019 von für Actors on Stage, Allgemein, Litmag, News, Specials

Martin Rentzsch: Die Schneeverwehung

Martin Rentzsch in „Ajax“ von Sophokles
Schauspiel Frankfurt REGIE Thibaud Delpeut FOTO Birgit Hupfel
d


Die Nacht beginnt.

Es ist Januar, eisige Kälte.

Sie steuern seit einer Stunde Ihr Auto auf einer Autobahn. Zwei Menschen, die Sie lieben, fahren auch mit. Nach anfänglichen Gesprächen schlummern die beiden vor sich hin.

Sie fahren nicht schnell, 110 vielleicht, 120. Raserei konnte Sie nie locken.

Ihre Gedanken sind aufgeräumt. 

Die Straße vor Ihnen ist trocken und gerade. Seit Tagen schon gab es keine Niederschläge.

Rechts und links nehmen Sie Schnee auf den Feldern wahr. Nicht viel.

Sie schauen aus dem Seitenfenster und sehen Sterne am Himmel.

Die Welt meint es gut mit Ihnen.

Ihr Ziel ist Ihr Zuhause. Noch vor Morgengrauen werden Sie dort sein.

Klare Sicht.

Ein LKW erscheint vor Ihnen. Sie gehen auf die Überholspur.

Auf der Straße nehmen Sie eine Schneeverwehung wahr. Eine Rasierklinge schneidet in Ihre Aufmerksamkeit. Sie schätzen die Verwehung ein: 30 Meter lang, mehr nicht. In zwei, drei Sekunden werden Sie sie erreichen. Woher sie kommt, ist Ihnen unerklärlich, Sie haben doch Sterne gesehen, doch sie ist da. Ein Splitter in Ihrem Gedächtnis sagt Ihnen: bei Aquaplaning nicht bremsen, gleiten lassen, bis Sie wieder festen Boden spüren. Eine andere Idee haben Sie ohnehin nicht.

Eine Irritation, ein Fehler, unerklärlich: Sie geraten aus der Bahn. Ihr Auto gerät ins Schleudern, Sie prallen links, dann rechts gegen die Leitplanken… wieder links, Sie hantieren mit dem Lenkrad, keine Lösung. Ihre Lieben sind hellwach, jemand schreit. Rechts. Links. Nochmals. Ihr Bewußtsein sagt: Schau hin, jetzt verursachst du den Tod der beiden. Deine Schuld. Noch ein Krachen.

Dann Stillstand.

Alles in allem wenige Sekunden.

Für Sie dehnt sich die Zeit. Uferlos. Sie wissen nicht im Geringsten, wo Sie sind. Ein lautloses Karussell, das sich in Zeitlupe bewegt, umschwirrt von gleißenden Lichtern? Im Rückspiegel läuft Ihr Film rückwärts. Sie sind bei hellem und klarem Bewußtsein, doch ohne Halt. Keinerlei Ahnung, was geschehen wird. Werden Sie gleich überfahren? Explodiert Ihr Auto? Wann kommt der Schmerz? Bleibt Ihr Herz stehen? Geschieht gar nichts? Ihre Sinne messerscharf, aber sie führen ein Eigenleben. Jede Nuance sticht Ihnen ins Auge. Sie erkennen diese Kreatur vor Ihnen, sprungbereit und dunkel. Sie starrt Sie unverwandt an.

Zuweilen fragen mich Zuschauer*innen, wie sich Lampenfieber anfühle, woraufhin ich zumeist dieses Erlebnis aus meinem Leben erzähle; und dann kann ich im Anschluss ihre Blicke übersetzen in: „Wunderbar, wir ahnten es ja immer schon, wie herrlich aufregend so ein solches Leben auf der Bühne sein muß! Hinreißend…“

MARTIN RENTZSCH
Foto Joaquí
n


BIO Martin Rentzsch ist Theaterschauspieler sowie Hörspielsprecher. Seine Schauspielausbildung erhielt er an der Essener Folkwang Universität der Künste. Sein Weg führte ihn u.a. vom Thalia Theater Hamburg, Schauspielhaus Bochum und Schauspiel Frankfurt zum Berliner Ensemble, wo er zur Zeit engagiert ist. 2008 erhielt er den Bochumer Theaterpreis.

AKTUELL Berliner Ensemble: Euripides „Medea“ (R. Michael Thalheimer), Yasmina Resa „Kunst“ (R. Oliver Reese), Thomas Mann „Felix Krull“ (R: Alexander Eisenach), Karl Schönherr „Glaube und Heimat“ (R: Michael Thalheimer)

LINKS
https://www.berliner-ensemble.de/martin-rentzsch

Tags : , , , ,