Geschrieben am 9. Mai 2005 von für Allgemein

Schweigen zum 8. Mai-Gedenken

Von Carl Wilhelm Macke

Ein Geständnis: zum Gedenken an die 60. Wiederkehr des 8. Mai 1945, dem Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, habe ich kein einziges Wort geschrieben. Keine nachdenkliche Erinnerung an das unmittelbare Kriegsende, die mein biographisches Alter ohnehin nicht zuläßt. Keine Reflexion über Sinn und Unsinn des ritualisierten Antifaschismus. Keine Meditation über den Stolz, mit dem man sich heute angeblich wieder ein Deutscher nennen darf. Keine Polemik gegen irgendeinen Ewiggestrigen oder notorisch Heutigen. Keine Rezension eines Buches über die Ursachen des NS-Regimes oder die Opfer der nazideutschen Kriegsstrategien. Nicht einmal an einer Kundgebung zur Erinnerung an das Kriegsende und als Protest gegen die Neo-Faschos habe ich teilgenommen.

Den ganzen von den Medien seit Wochen mit einer Lawine an Gedenkartikeln und Filmdokumentationen bestens vorbereiteten historischen Tag 8. Mai 2005 habe ich mit ganz banalen Hilfsmaßnahmen für einen irakisch-kurdischen Journalisten verbracht, der bei einem Selbstmord-Attentat vor einem Jahr sein Bein verloren hat. Ihm wird in München in diesen Tagen rund um den 8. Mai eine Beinprothese angepasst, für die ein kleiner journalistischer Hilfsverein die Kosten und die Aufenthaltslogistik übernommen hat: Organisierung einer Unterkunft, Gespräche mit Ärzten und Orthopäden, Bestellung von Taxis zum Transport des Journalisten und seines ebenfalls bei dem Attentat schwerverletzten Sohnes, Telephonate mit Übersetzern, Einsammeln von Solidaritätsspenden. Am Abend dann noch Telephonat mit einer Freundin, die die Geschäfte einer Stiftung für politisch Verfolgte führt, über die Finanzierung einer Zahnoperation für eine im Russland des Vladimir Putin verfolgten kritischen Journalistin. An das besondere historische Datum dieses hier in München verregneten Sonntags, auf den der 8. Mai 2005 fiel, habe ich dabei überhaupt nicht gedacht. Vielleicht ist auch das eine angemessene, vor allem vollkommen unpathetische und unrhetorische Art, als Deutscher Lehren aus der Vergangenheit gezogen zu haben. Das Fenster zur Welt weit öffnen, sich im Rahmen seiner Möglichkeiten für die Opfer heutiger Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen, wo immer sie geschehen, einzusetzen. Sich von der Not im ‚Antlitz der Anderen‘ (Emanuel Levinàs) angesprochen und getroffen zu fühlen. Kontakte zu Einzelnen und Hilfs-Organisationen mit allen heute vorhandenen kommunikativen Möglichkeiten herstellen, um den vor Gewalt, Zensur, Einschüchterung flüchtenden Menschen eine aufmerksame, mitleidende Solidarität zu zeigen.

Dass man heute in den global agierenden Hilfs-Netzwerken immer auf so viele Deutsche trifft, denen die patriotischen Appelle ihres Bundespräsidenten oder diverser Jung-Feuilletonisten bei ihrer Solidaritätsarbeit mit und für andere herzlich wenig bedeuten, ist auch eine Form des Lernens aus den Verbrechen der Nazi-Zeit, für die man als Nachgeborener keine Schuld haben kann, aus denen zu lernen man aber verpflichtet bleibt.

Als Jakob Grimm 1837 von der Göttinger Universität verwiesen und ins Exil gezwungen wurde, traf er jenseits der Grenzen des ihn verfolgenden Königreichs Hannover eine alte Frau und ein kleines Kind. „‚Gib dem Herrn die Hand, er ist ein Flüchtling‘ , sagte die Großmutter zu ihrem Enkel, als ich am 16. Dezember die Grenzen überschritten hatte.“ An diese in der deutschen Geschichte immer vorhandene Tradition einer zivilen und souveränen Selbstverständlichkeit gegenüber Verfolgten, die die Nazis, die Täter und ihre Mitläufer zerstört haben, heute wieder ohne große Worte anzuknüpfen, ist eine Form des ‚Lernens aus der historischen Bedeutung des 8. Mai 1945‘.

Carl Wilhelm Macke