Geschrieben am 1. Juli 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2020

Alf Mayer: Ischgl, Tirol – True Crime (II)

Keine Scham, nirgends

Alf Mayer über den Fotoband „Ischgl“ von Lois Hechenblaikner

Dieses Buch tut weh. Und das soll es auch. Der Tiroler Lois Hechenblaikner, Jahrgang 1958 und selbst in einem Tourismusbetrieb aufgewachsen, dokumentiert seit 26 Jahren, was sich in Ischgl, in einem Seitental des Stanzer Tals im Westen Tirols nahe der Schweizer Grenze abspielt. Das 1600-Einwohner-Dorf liegt 1400 Meter hoch, sein Skigebiet, die Silvretta Arena, hat 238 Kilometer Piste mit 45 Liftanlagen und ist mit dem schweizerischen Samnaun verbunden. 

Gemeindewappen von Ischgl

Die Prostitution der Alpen durch den Fremdenverkehr – wie Georg Seeßlen das bereits 1984 in einem dreiteiligen Aufsatz für das Magazin „medium“ nannte, bei dem ich als Exil-Allgäuer Redakteur war – hat aus dem kleinen Ort ein Tourismus-Ungeheuer gemacht, wie Stefan Gmünder das in seinem furiosen Nachwort, betitelt „Delirium Alpinum“, beim Namen nennt: 250 Millionen Umsatz jährlich, 1,4 Millionen Übernachtungen. Geld schaufeln bis der Arzt kommt. Bill Clinton war schon hier mit einer „Message from the Mountains“ (Honorar 200.000 Dollar), Bob Dylan und Elton John haben beim „Top of the Mountain“-Konzert gespielt. Tina Turner, Robbie Williams, Zucchero, beinah auch die Stones. 120.000 Euro Umsatz macht eine Bierhütte dort – pro Tag. Es wird gesoffen wie am Ballermann, nur noch härter. Viel härter.

Dieses Buch tut weh. Einem wie mir besonders. In bin 1976 mit 26 aus dem Allgäu ins Exil nach Frankfurt, weil es mir bei jeder Tour ins Gebirge zu voll wurde, zu teuer, zu billig, zu nuttig, zu grausam. Die Prostitution der Alpen durch den Fremdenverkehr. Im Sommer wie im Winter. Besonders im Winter. 

Als mir dann ein besoffener Depp aus dem Ruhrpott die Piste kreuzte, klar gegen alle Regeln, und mir einen heftigen Skiunfall bescherte, ließ ich es sein. Skifahren dann in Frankreich, bald aber dort ähnlicher Terror, schließlich nur noch Kanada. Ich weiß, warum.

Lois Hechenblaikner ist dageblieben. Er ist im Widerstand. Seine Waffe ist die Kamera. Und sie fürchten sich vor ihm. In Mayrhofen wurde 1997 eine Ausstellung mit Bildern von Fans der „Zillertaler Schürzenjäger“ vom Bürgermeister verboten, die Band verklagte ihn wegen Verleumdung. Wie viele Plakate seiner Ausstellungen in seiner Heimat abgerissen wurden, will man gar nicht wissen. Er ist ein Nestbeschmutzer. Er ist ein großer, ein wichtiger Fotograf. Seine Bücher tun weh. Bei Steidl erschienen sind bisher: „Volks Musik“, „Hinter den Bergen“, „Winter Wonderland“ – und jetzt „Ischgl“. Durch den Status als Corona-Hotspot steht dieser Fotoband nun ein deutliches Stück mehr im Licht der Öffentlichkeit als es wohl sonst der Fall gewesen wäre. Das ist gut so.

Aber es tut weh, darüber kann all das Schneeweiß am Buchanfang nicht täuschen. Sanft gleitet der Blick erst einmal auf den ersten Doppelseiten von der Bergwelt hinab ins Tal, die Kabel der Skilifte entlang. Und unten sind sie, die Massen. 
Ein Urwald von Skiern.
Massen.
Als Indianer kostümiert. Als Ärzte (haha). Als Scheichs.

© Lois Hechenblaikner/ Steidl

T-Shirts mit FOTZEN ISCHGL WO oder GEILE SAU oder SKIING & BEER THAT’S WHAT I’M HERE.
Polterteams. Engel und Teufel. Männer in Frauenkleidern.
Nackte Hintern.
Obszöne Rituale.
Eine vielfach vergewaltige und sodomisierte Sexpuppe als Gruppenspaß.

Müll und Dreck.
Unmengen von Bierfässern.
Berge von Bierkisten.
Eine triumphierend hochgehaltene Sexpuppe, den Griff einer Krücke im Schritt.

Plakate von Showgirls.
Gebirge von leeren Schnapsflaschen.
Saufrituale.
Stimmung.
Stimmung.
Gnadenlos Stimmung.
Animation.
Prostitution.
„Abwedeln bei der Après Ski Party mit der perfekten Frauenquote“ auf einem sexistischen Plakat.
Betrunkene.
Bekotzte.
Männer beim Pissen.
Frauen beim Ringelpietz.

Baugruben. Fassaden. Beton. Fichtenbretter. Fake Tirol.
Fuck die Natur.
Keine Schamgrenzen. Nirgends.
Die örtliche Blasmusikkapelle, wie Krippenfiguren.
Ein einsamer Hergottswinkel neben Partyaufklebern.
Vieh-Unimogs, gegenüber Ferraris vor einem 5-Sterne-Hotel.
Nachtkonzerte.
Selfies.
Party!!!!!

Dildos.
Zapfhähne.
Die Prostitution der Alpen durch den Fremdenverkehr.

Da wirken dann selbst die Skispuren auf einem leeren Hang wie Verbrechen.
True Crime.
Ischgl, Tirol.

„Die Krähen schrei’n
Und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnei’n –
Wohl dem‚ der jetzt noch – Heimat hat!
Nun stehst du starr‚

Schaust rückwärts ach! wie lange schon!
Was bist du Narr
Vor Winters in die Welt – entflohn?“
(Friedrich Nietzsche)

  • Lois Hechenblaikner: Ischgl. Verlag Gerhard Steidl, Göttingen 2020. Hardcover, Format 27.4 x 24 cm. 240 Seiten, 205 Abbildungen, 34 Euro. Lois Hechenblaikner bei Steidl. Seine Internetseite.

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