
Zeuge von etwas wahrhaft Großem sein
Gestern Abend auf dem Weg zum Kino hat mich das Schaufenster meiner Lieblingsbuchhandlung bezaubert. Rings um das hier besprochene Buch war darin eine ganze Batterie von Kinder- und Jugendbüchern zum Thema aufgebaut: „Mein großes Buch vom Weltall“, „Armstrong“, „Sterne und Planeten. Die Sachbuchreihe mit der Maus“, „Was ist was? Der Mond. Rätselhaft und mächtig“, „Das große Weltall: Die Geschichte der Raumfahrt“, „Kinder-Weltraumatlas“, „Space Kids. Eine Einführung in den Weltraum“ und mehr.
Der Anblick ließ mich einen erleichterten Seufzer tun. Es ist mehr als erfreulich, dass unsere ziemlich wunderlos gewordene, ach so verfügbare Welt doch noch ein Wissen darum zu bewahren und an jüngere Generationen weiterzugeben versucht, was uns als Menschen ausmacht, was uns einmal aus den Höhlen trieb. „Per aspera ad astra“, wörtlich „Durch das Raue zu den Sternen“, ist eine lateinische Redewendung, von Seneca geprägt. Dort in seinem „wildgewordenen Herkules“ (Hercules furens) heißt es: „Non est ad astra mollis e terris via“, deutsch „Es ist kein bequemer Weg von der Erde zu den Sternen.“
Wie es die kommunizierenden Röhren bei Crime- und CulturMag wollen, schreibt just in dieser CrimeMag-Ausgabe unser Ontologie-Spezialist Markus Pohlmeyer über die französische Fernsehserie „Missions“, über „Platon, den Mars und Was wir schon einmal verloren haben“. Ich verweise also statt eines philosophischen Exkurses hier auf ihn.
Auf dem Mond ein Feuer

„Durch Mühsal gelangt man zu den Sternen.“ Am 20. Juli 2019 jährt sich die erste Mondlandung eines Menschen zum fünfzigsten Mal. Ich war damals siebzehneinhalb Jahre alt. Das Ereignis hat sich mir für immer eingebrannt. Einer meiner ersten Bücherschätze war Norman Mailers „Auf dem Mond ein Feuer“ (Of a Fire on the Moon. Boston, Little, Brown, 1971). Darin heißt es:
„Sie waren so weit gekommen wie Achilles und Osysseus … so weit wie Magellan und Kolumbus, wirklich weit.“

Von Mailers immer noch ungeheurem Buch gibt es (neben einer sehr erschwinglichen, in diesem Zusammenhang hier unbedingt empfehlenswerten Volksausgabe für 15 Euro) eine „Lunar Rock Edition“ als Luxusausgabe bei Taschen. Samt Aluminiumbehälter mit Mondgestein in Kapsel für 185.000 bis 480.000 Euro (kein Druckfehler), siehe auch meine Besprechung im CulturMag Klassiker-Special „Der Moby Dick des Weltraums“.
Wunder freilich werden in diesem Verlag bereits für kleine Budgets bewerkstelligt. „Das NASA-Archiv: 60 Jahre im All“ ist solch ein Fall. Ein Fotobuch mit unerhört kristallklaren Bildern, zum größten Teil tatsächlich nie zuvor veröffentlicht, 470 Seiten prall, hochwertig ausgestattet und gedruckt und mit 100 Euro alles andere als überteuert.



Das Buch im übergroßen Diaformat zeigt über 400 ausgewählte Aufnahmen aus 60 Jahren NASA-Geschichte, mit den neuesten Techniken digitalisiert und unglaublich tiefenscharf wiedergegeben, dazu Skizzen, Pläne, Konzeptdarstellungen, Künstler-illustrationen. Unter dem silberglänzenden, dreidimensional wirkenden Umschlag (der den Apollo 17-Astronauten Harrison Schmidt beim Mondspaziergang zeigt) verbirgt sich ein kräftiger Buchdeckel, der unwillkürlichen zur haptischen Erforschung einlädt. Körnig und verwaschen und rau wie unsere Erinnerungen an die damalige Live-Übertragung per Satellit ist da der Fußabdruck von Buzz Aldrin von der Apollo 11-Mission vom 20. Juli 1969 in den Mondstaub geprägt: „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Schritt für die Menschheit.“
Diesem Kleinen-Großen und überaus Anschauungsreichen bleibt das ganze Buch verhaftet. Seine Evokation reicht über die außergewöhnlichen Bilder hinaus, reflektiert wieder und wieder den menschlichen Pioniergeist. Für uns Ältere ist es eine Reise in die eigene Vergangenheit, eine Erinnerung an einmal für unmöglich gehaltene Träume. „Die größte aller Entdeckungsreisen“ überschreibt der Wissenschaftsautor Piers Bizony seinen das Buch einleitenden Essay, gefolgt vom ehemaligen NASA-Chefhistoriker Roger D. Launius, der in seinem Text „Höher, Schneller“ festhält:
„Unvorstellbar, dass zwischen dem ersten Motorflugzeug, handgefertigt aus Holz und Stoff von den Besitzern eines Fahrradladens in Dayton, Ohio, und den ersten Raumschiffen zum Mond – eine gemeinsame Leistung von 400.000 Menschen aus den gesamten Vereinigten Staaten – eine Zeitspanne von nicht einmal einem Menschenleben liegt.“
Viele Perspektiven, eine Erde
Vorangestellt ist diesem Auftakt ein längeres Zitat aus Jules Vernes Roman „Von der Erde zum Mond“ aus dem Jahr 1865. Nur knapp hundert Jahre später, zwischen 1968 und 1972, brachte die NASA insgesamt 24 Menschen auf den Mond. Einer der Autoren von „Das NASA Archiv“ ist Andrew Chaikin, Verfasser des Bestsellers „A Man on the Moon“, einer detaillierten Beschreibung der Apollo-Mondmissionen nach Augenzeugenberichten, der dafür 23 der 24 Astronauten interviewt hat. In fünf Kapiteln fächert das Buch 60 Raumfahrtjahre auf, vom Mercury-Projekt bis zu den Marsrovern Spirit, Opportunityund Curiosity, von den Voyager-Sonden bis zum Weltraumteleskop Hubble. Unser Bild des Universums – das macht dieses Buch wieder und wieder klar – haben die Kameras, Raumsonden und Teleskope der US-Raumfahrtbehörde NASA deutlich mitgeprägt. Der Zusatz „Für die gesamte Menschheit“war hier einmal ganz ernst gemeint. Fünf üppige Doppelseiten macht die Checkliste der NASA-Missionen am Ende dieses Buches aus, die auch alle ihre Logos und Embleme versammelt.

Die „National Aeronautics and Space Administration“ wurde am 29. Juli 1958 wurde durch den damaligen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower als Reaktion auf den Sputnik-Schock gegründet. Stephen King hat einmal biografisch beschrieben, wie einschneidend das (nicht für ihn) war, als in der Nachmittags-Vorstellung des 4. Oktober 1957 plötzlich das Licht anging und der Kinobesitzer vor die Leinwand trat, um dem meist jungen Publikum mitzuteilen: „Die Russen haben einen Sputnik im Weltall!“ Das sei eine Horrorerfahrung gewesen, etwas, was ihn durchaus als Schriftsteller geprägt habe.
Funkprotokolle, Erinnerungen, Reportage-Passagen, äußerst fachkundige Autoren und die bei Taschen und Cheflektorin Nina Wiener und ihrem Team perfektionierte Multi-Perspektivendarstellung sorgen für ein sehr lesbares, kurzweiliges, manchmal nagelkauend spannendes Buch, das längst nicht nur für Technikfreaks in Frage kommt. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt auf der menschlichen Seite der Raumfahrt. Wir sehen nicht nur eindrucksvolle Technik- und Weltallaufnahmen, von Raumsonden bis zu Supernovas und Gasnebeln, Raketenmodellen bis etwa eindrucksvollen „Missile Row“ der U.S. Air Force bei Cape Canaveral mit fast einem Dutzend Startrampen, wir sehen auch Bilder nachdenklicher, erschöpfter oder enthusiastischer Astronauten. Auch die tragischen Katastrophen bleiben nicht ausgespart. Das Buch vermittelt tatsächlich einen Eindruck davon, wie rau der Weg zu den Sternen ist.

Voller Hochachtung musste ich bei diesem Buch auch immer wieder an den im Dezember 2018 gesehenen „Aufbruch zum Mond“ (The First Man) von „La La Land“-Regisseur Damien Chazell denken, der das Apollo-Erlebnis im Kino fast körperlich spürbar erfahrbar macht. 2019 kommt der Dokumentarfilm „Apollo11“ von Todd Douglas Miller ins Kino, der mit bisher nie gesehenem 70-Millimeter-Material von damals aufwartet, schon der Trailer ist unglaublich (siehe am Ende des Artikels). „The 1969 Moon Mission Still Has the Power to Thrill“ titelte unlängst die „New York Times“. Der Trailer benennt es:
„Witness the last time
WE WERE ONE“
Zeuge des letzten Moments zu sein, als wir alle eine einzige Menschheit waren, darum geht es auch in „Die NASA Archive“. Der Fußabdruck auf dem Mond, die Aufnahmen von der Erde als „blaue Murmel“, die Bilder der Milchstraße und die pockennarbigen Mondporträts haben ins uns allen ihre Spuren hinterlassen. In diesem großartigen, wichtigen Buch lässt sich das erfahren und bewahren. Und – siehe den Anfang dieses Textes – ja vielleicht auch an die Jüngeren weitergeben.
Wie schrieb Arthur C. Clarke, der Schöpfer von „2001: Odyssee im Weltraum“ in seinen „Profiles of the Future“ (1973):
„Eines Tages werden wir nicht mehr in Raumschiffen reisen. Wir werden Raumschiffe sein.“
Alf Mayer
- Piers Bizony, Roger Launius, Andrew Chaikin: Das NASA-Archiv: 60 Jahre im All. Deutsch/ Englische Ausgabe. Verlag Benedikt Taschen, Köln 2019. Hardcover mit Begleitheft, Format 33 x 33 cm, 468 Seiten, 100 Euro. Verlagsinformationen.