
Wie Frösche im heißen Wasserbad
von Katrin Doerksen
Sonntag ist Märchentag auf der Berlinale. Matteo Garrone hat Pinocchio verfilmt und tatsächlich sieht der Film aus und fühlt sich auch so an wie eine weitere Episode aus seiner Volkssagenadaption Das Märchen der Märchen. Erneut finden wir uns in einer fantastischen Welt wieder, die in der realen Historie verankert scheint, als hätten sprechende Grillen und blauhaarige Feen einmal selbstverständlich existiert. Kaum ein europäisches Land würde sich dafür wohl besser eignen als Italien mit seinen zahlreichen halb verlassenen und verfallenen Städtchen, mit Dörfern, die sich in üppige Landschaften einfügen, als wären sie organischer Teil von ihr. Garrone hält sich bei der Geschichte eines armen Tischlers, dessen Holzpuppe zum Leben erwacht, weniger an die populäre Disney-Version als an die Originalerzählung von Carlo Collodi und so dominieren in Pinocchio die Elemente der Narrenliteratur vor jenen einer Kindergeschichte. Als Satire gelesen fällt der Film dennoch etwas flach: Allein Roberto Benignis dauererstauntes Gesicht (er spielt den Gepetto) gibt ihm schon einen naiven Anstrich und das Tempo, mit dem Garrone über Pinocchios zahlreiche Abenteuer hinweg hoppelt, verhindert, dass er dem vielfach verfilmten Stoff wirklich neue Dimensionen abringt.

Dennoch fällt es schwer sich dem Charme von Garrones Welten zu erwehren, deren Stil im zeitgenössischen Filmschaffen keine Entsprechung findet. Am ehesten erinnert mich Pinocchio an die Märchenfilme der DEFA, zum Beispiel Francesco Stefanis Das singende, klingende Bäumchen. Auch hier gibt es magisch anmutende Grotten, einen golden funkelnden Baum, Zauberwesen irgendwo zwischen Mensch und Tier, offensichtliche Künstlichkeit, die dennoch so selbstverständlich inszeniert ist, dass sie beinahe wirkt wie ein verquerer Realismus.
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In einem sehr bestrickenden Still aus Undine schaut Paula Beer direkt in die Kamera. Eigentlich sind es nur ihre Augen, die schauen. Der Rest ihres Gesichts ist bedeckt von wild gelocktem Haar und Franz Rogowskis Schulter. Er schmiegt sich an sie, scheinbar in diesem Moment mit allem ganz bei ihr. Aber sie … sie ist dort, wo ihr Blick hinfällt. Nach hinten. Im neuen Film von Christian Petzold ist Paula Beers Undine eine Historikerin, die Museumsführungen veranstaltet und dabei vor detailgetreuen Modellen über die Berliner Stadtentwicklung und Brüche in der Architektur vor und nach der Wende referiert. Über weite Teile des Films hält sie diese Vorträge oder übt dafür und der Industrietaucher Christoph (Rogowski) kann überhaupt nicht genug bekommen.

Wahrscheinlich bedeutet der Name Berlin ganz uncharmant: trockene Stelle im Sumpf. Und obwohl Undine durchaus einer filmischen Liebeserklärung an die Hauptstadt gleichkommt, schwingt dabei jede Menge Resignation mit. Angesichts etwa der Rückwärtsgewandtheit, die Undine im bis dato pointiertesten rant des gesamten Diskurses an der unsäglichen Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses kritisiert. Christian Petzold inszeniert Paula Beer dabei auf eine Art, bei der man ihrem angespannten Kiefer in jedem Moment nicht nur die scharfsichtige Historikerin abnimmt, sondern auch in keinem Augenblick ihre halbgöttlichen Fähigkeiten einer Sagengestalt anzweifelt.
Wie viele Filme im Berlinale-Programm stellt Undine Fragen über das Leben in modernen Großstädten und mit seiner Protagonistin bietet Petzold zugleich eine Innen- und Außenperspektive an: Die junge Frau, die in eben so einer Stadt lebt, liebt und arbeitet – und der Elementargeist, dessen Existenz im Grunde ebenso vage bleibt wie die wahre Entstehungszeit der einstigen Siedlung Cölln an der Spree. Der Film ist der erste Teil einer geplanten Trilogie über Figuren der deutschen Romantik und Berlin ist dafür der auf den ersten Blick unwahrscheinlich perfekte Ort: Diese raue Stadt, zu der romantische Attribute zunächst einmal so gar nicht passen wollen, die jedoch von so vielen Flüssen, Seen, Kanälen, unterirdischen Wasserläufen und verschütteten Geheimnissen durchzogen ist, dass in irgendeinem Winkel ganz sicher auch ein uralter Wassergeist haust.

Nachdem der Sonntag mit der Geschichte eines Mannes begann, der eine Puppe nach seinen Wünschen formt, begegnet mir dieses Motiv wenig später in Sandra Wollners The Trouble With Being Born in der Sektion Encounters wieder. Nach ihrem wuchtigen Debüt Das Unmögliche Bild steht Wollner ganz oben auf der Liste vielversprechender deutschsprachiger Regisseur_Innen und ihr neuer Film steht dem Erstling in nichts nach. Den Mittelpunkt von The Trouble With Being Born bildet ein Android namens Elli, zehn Jahre alt. Sie lebt bei einem Mann, den sie Papa nennt, der sie jedoch nach seinen Vorstellungen modelliert hat und der sie, so muss man es sagen, gebraucht. Es ist hart, dieser verzwickten Beziehungsdynamik zuzuschauen, in der Elli so völlig indifferent ist. Denn sie will nur, worauf sie programmiert wurde. Sandra Wollner inszeniert das nicht als Abfolge anklagender Schockmomente, sondern mit stoischer Ruhe und reduziert so ihr Publikum zu einem Haufen ahnungsloser Frösche im heißen Wasserbad.
Gut möglich, dass die Filme von Sandra Wollner und Josephine Decker eines Tages in denselben Retrospektiven laufen werden. Beide interessieren sich aus dezidiert weiblicher Perspektive für das Einprogrammierte, beide schauen in finstere Abgründe, beide machen mir Angst. Gerade Deckers Filme, die häufig klassische Indie-Arthouse-Stoffe unter Rückgriff auf stilistische Horrorkonventionen bearbeiten. Deren Kameraführung und Schnitt auf sehr präzise Weise fahrig (um nicht zu sagen: hysterisch) wirken und einem das beunruhigende Gefühl einflüstern, dass hier jederzeit alles völlig aus dem Ruder laufen könnte. Shirley ist ein Biopic der Horrorschriftstellerin Shirley Jackson (1916-1965). Josephine Decker nähert sich ihr aus der Perspektive der jungen Ehefrau Rose (Odessa Young), die mit ihrem frisch Angetrauten zu Jackson und deren Ehemann, dem Literaturkritiker und Uniprofessor Stanley Human (Michael Stuhlbarg), zieht. Aber das alles verschlingende schwarze Loch im Mittelpunkt des Films ist Elisabeth Moss. Besonders Schauspielerinnen werden ja gern gefeiert, wenn sie in ihren Rollen uneitel auftreten. Für Moss griffe diese Beschreibung aber viel zu kurz. In den geschniegelten 1950er Jahren, in denen die Frauen sonst mit perfekt sitzendem Haar und rotem Lippenstift den Haushalt wuppen, strahlt sie mit klobigem Brillengestell, wirren Haarsträhnen und unreiner Haut eine naturgewaltige Überlegenheit aus, deren intellektueller wie optischer Faszination man sich keinen Augenblick entziehen möchte.

Diese Shirley nun, so depressiv, dass sie es kaum schafft das Bett zu verlassen, geschweige denn das Haus, schöpft aus der Anwesenheit von Rose Inspiration für einen neuen Roman über eine verschwundene College-Studentin (als Vorlage dient Jacksons 1951 erschienene gothic novel Hangsaman). Wie sich zwischen den beiden Frauen eine Freundschaft entwickelt, das beschreibt Josephine Decker als ein alptraumhaftes Abdriften in den Wahnsinn, nur dass sich dabei nicht klar sagen lässt, auf welcher Seite dieses Drifts sich nun der Wahnsinn und wo die Normalität einordnen.
Der Wahnsinn zieht sich überhaupt wie ein roter Faden durch die 70. Berlinale, aber in nur wenigen Filmen wirkt er so nachhaltig verstörend wie in Shirley. Das französische Regieduo Benoît Delépine und Gustave Kervern inszeniert mit Effacer l’historique eine Satire über den globalen Digitalisierungswahnsinn, in dem drei kaputte Kleinstädter um die halbe Welt reisen, um ihre Browserverläufe zu löschen. Das schaut sich zwar unterhaltsam, wäre als Kurzfilm aber pointierter geraten. Die Schweizer Regisseurinnen Stephanie Chuat und Véronique Raymond erzählen vom Wahnsinn namens Krebs, im Mittelpunkt ein verlorenes Geschwisterpaar, Nina Hoss und der Wahnsinn auf zwei Beinen, Lars Eidinger. Schwesterlein ist ein durch und durch solider Film; so solide, dass man ihn als Beispiel für einen gelungenen Fernsehfilm lieber sähe denn als Wettbewerbsbeitrag der 70. Berlinale. Zumal der Wettbewerb bisher neben der Sektion Encounters eher blässlich ausfällt. In Abel Ferraras Siberia ist der Wahnsinn Programm, wenn Willem Dafoe einen Einsiedler mit daddy issues spielt, der auf einer schrecklich verquasten, kunstgewerblichen und im peinlichsten Sinne altmodischen Reise durch sein Innerstes seinen Dämonen begegnet. Der Wahnsinn grassiert aber auch in Favolacce von Fabio und Damiano D’Innocenzo, die die degenerierten Bewohner einer kleinen Reihenhaussiedlung im Speckgürtel Roms dem Untergang weihen.

Danach ist Hong Sang-soos neuer Film Die Frau, die rannte (Domangchin yeoja) – keine Überraschung – reines Understatement. In gewohnt improvisierter Art erzählt der Südkoreaner von Gam-hee (Kim Min-hee), die gerade zum ersten Mal seit fünf Jahren von ihrem Ehemann getrennt ist. Während ihn eine Dienstreise an ungenannte Orte führt, trifft sie drei alte Freundinnen in und um Seoul. Gemeinsam wird Kaffee getrunken oder auch ein Glas Wein, man bringt sich auf den neusten Stand. Es wäre gelogen zu sagen, dass in Die Frau, die rannte inhaltlich noch viel mehr passiert. Aber wie üblich bei Hong Sang-soo sind die großen Dramen, die andere Filmemacher vielleicht zu ihrer Haupthandlung machen würden, bei ihm beiläufig in den langen Gesprächen angelegt. Zwei der Freundinnen leben geschieden, sind gerade in neue Wohnungen gezogen und mit der Dritten verbindet Gam-hee eine sehr schmerzliche Erinnerung.
Männer sind in Die Frau, die rannte durchaus präsent. Jedoch sind sie das nur als Störung. Die Frauen reden über sie – gute Männer seien in Korea schwierig zu finden, lautet das allgemeine Urteil und die wenigen Männer, die in persona auftreten, kommen, obwohl sie stets nur von hinten zu sehen sind, tatsächlich nicht sonderlich gut weg. Bitter sind die Filme von Hong Sang-soo jedoch nie. In der wahrscheinlich witzigsten Szene des kompletten diesjährigen Berlinaleprogramms (davon zeugte der Zwischenapplaus in der Pressevorführung ebenso wie meine Lachtränen) beschwert sich ein Nachbar darüber, dass Gam-hees Freundinnen eine streunende Katze füttern und als zum Ende des Gesprächs alle schon unter höflichen Verbeugungen längst das Bild verlassen haben, sitzt nur noch die dicke Katze da.
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In einer Szene aus Never Rarely Sometimes Always schaltet eine Frauenärztin einen alten Fernseher ein. Sie hat ein Video eingelegt: The Hard Truth, in dem zu Ultraschallaufnahmen aus einer Gebärmutter von alten Männern in Anzügen erklärt wird, wieso eine Abtreibung moralisch nicht vertretbar sei. Der neue Film von Eliza Hittman bildet zu diesem Video die inhaltliche und stilistische Antithese. Das ist schon das ganze Konzept. Pittman erzählt von der siebzehnjährigen Autumn (Sidney Flanigan) aus einer Kleinstadt in Pennsylvania, die eines Tages entdeckt, dass sie schwanger ist. Der Mutter, die in dem Bundesstaat zu einer Abtreibung ihre Einverständniserklärung geben müsste, wagt sie sich nicht anzuvertrauen. Nur ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder), die sie mit auf eine Busfahrt nach New York City nimmt, wo in einer Spezialklinik der Eingriff auch noch in der 18. Woche vorgenommen werden kann.
Eliza Hittman zeigt in beinahe dokumentarisch anmutender Art und Weise den Fall ihrer Protagonistin, der jederzeit auch exemplarisch für das Schicksal zahlloser Frauen in den USA und auf der ganzen Welt steht: Die Angst davor sich mit seinem Problem an die eigene Familie zu wenden, Ärzte, die ihren Patientinnen Informationen vorenthalten, um ihre Entscheidungen zu beeinflussen. Die räumlichen und finanziellen Hürden für Frauen aus ländlichen Gegenden, die gezwungen sind für Hilfe und unvoreingenommenes Verständnis weite Wege auf sich zu nehmen. Gekürzte Mittel und Anfeindungen gegenüber Einrichtungen wie Planned Parenthood (jedes Mal, wenn Autumn und Skylar eine der Kliniken betreten, nimmt sich Hittman Zeit die Sicherheitsschleusen zu zeigen, die die beiden passieren müssen). Dazu der Alltagssexismus, schmierige Vorgesetzte, übergriffige Typen in der Bahn. Dass Never Rarely Sometimes Always dabei nicht daherkommt wie lediglich ein weiterer pädagogischer Film aus einem ähnlichem Loch wie dem, aus dem auch The Hard Truth gekrochen ist, liegt daran, dass Eliza Hittman lange genug, konzentriert genug auf ihre Protagonistinnen schaut. Nur wenige Regisseure vermögen es ein minutenlanges Zwiegespräch in einem schmucklosen kleinen Raum so zu inszenieren, dass sie am Ende den emotionalen Glutkern des ganzen Films bilden. Hirokazu Kore-eda etwa hat das in Shoplifters – Familienbande geschafft, als er am Ende das Verhör der Mutter zeigt, die mit ihren wenigen Sätzen vermag, ganze Weltbilder, ganze Theorien von gut und böse, vorbildlich und verwerflich umzustürzen. Die drängendste Szene in Never Rarely Sometimes Always hat eine ähnliche Kraft. Sie gibt dem Film seinen Namen: Von ihrer Betreuerin bei Planned Parenthood wird Autumn darin über ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt befragt. Ihre Antwortmöglichkeiten lauten, ganz wie in einem Multiple-Choice-Test: niemals, selten, manchmal, immer. Nur, dass es dabei keine richtigen Antworten gibt. Und auch keine einfachen.
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Während der ersten Tage des Festivals hatte der Hongkonger Aktivist Joshua Wong Schlagzeilen gemacht, als er erklärte, er glaube, dass Ai Weiweis neuer Film wegen dessen politischen Status nicht ins Berlinaleprogramm aufgenommen worden sei. Die Berlinale verwahrte sich gegen diese Vorwürfe und zeigt derweil einen Film über einen Aspekt des Lebens in Hongkong, der kaum gebührende mediale Aufmerksamkeit erhält. Ray Yeungs Drama Suk Suk basiert auf den Oral-History-Aufzeichnungen älterer schwuler Männer aus Hongkong und erzählt somit, dem Projekt von Never Rarely Sometimes Always nicht völlig unähnlich, eine exemplarische Geschichte. Der Taxifahrer, Ehemann, Vater und Großvater Pak (Tai Bo) begegnet auf der Suche nach unverbindlichem Sex dem geschiedenen Hoi (Ben Yuen), Typ Arbeiterintellektueller, Christ, ebenfalls Großvater. Zwischen den beiden entwickelt sich eine zarte Liebesgeschichte vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die nach wie vor stark auf traditionellen Familienstrukturen fußt. Yeungs Blick ist von einem mitfühlenden Realismus geprägt, doch gelegentlich wechselt er auch den Modus: In den wenigen Momenten intimer Zweisamkeit zwischen Pak und Hoi ertönt Klaviermusik, die Kamera wagt diskrete Blicke auf ihre Körper. In diesen Momenten wird aus dem nüchternen Suk Suk beinahe ein Liebesdrama, das auch aus Hollywood stammen könnte.

Der Ausflug zum Schluss führt diesmal in die Nebensektion Generation. Dort hält sich ein hübscher kleiner Coming-of-Age-Film aus den Philippinen versteckt: Death of Nintendo handelt von einer Gruppe nerdiger Kids, die ihre Freizeit statt auf dem Basketballplatz lieber vor der Spielekonsole mit Mario und Zelda verbringen. Mit erkennbarem Spaß an Farbe, an nostalgischen Erinnerungen an die Zeit zwischen Kindheit und Jugend und fantasievollen Genreexkursen, die aus dem Mythenreichtum seiner Heimat schöpfen, erzählt Regisseur Raya Martin von den vielen ersten Malen im Leben Jugendlicher, von westlich und östlich geprägten, modernen und traditionellen Initiationen und deren verbindendem Charakter.