Geschrieben am 27. Februar 2020 von für Crimemag, CrimeMag März 2020

Berlinale 2020 – Logbuch #3

„Ich wollte ins Kino gehen!“

von Katrin Doerksen

„Ich wollte ins Kino gehen! Ich wollte einen Film sehen!“ Das war meine Sitznachbarin in der Weltpremiere von Heinz Emigholz’ Die letzte Stadt. Ich hatte sowas schon geahnt, als sie sich vor dem Film setzte und ihrer Begleiterin von dieser „schönen Komödie“ erzählte, die sie mal auf der Berlinale gesehen hatte: „Die mit Jack Nicholson und der Keaton“. Ich will ins Kino gehen, ein schöner Wunsch, aber die Damen wussten offensichtlich nicht, worauf sie sich eingelassen hatten. Der Abend begann dann damit, dass Emigholz auf der Bühne Hanns-Georg Rodek veralberte, der sich kurz zuvor in der Welt darüber mokiert hatte, dass Festivaldirektor Carlo Chatrian sein erstes Jahr in Berlin nicht im Deutschkurs verbrachte. „I’ll make it a treat for him and talk extra slowly,“ leitete er seine kleine Rede ein und schloss am Ende mit: „Thank you! What is it in German? … Oh: Dankeschön!“

Die letzte Stadt | The Last City; Land: DEU 2020; Regie: Heinz Emigholz; Bildbeschreibung: John Erdman, Young Sun Han; Sektion: Encounters 2020; © Heinz Emigholz/Filmgalerie 451

Die letzte Stadt war dann eben typisch Emigholz. Wobei: Eigentlich schon ungewöhnlich handlungsgetrieben. In verschiedenen Episoden werden lange Gespräche geführt, von in zum Teil unterschiedlichen Rollen wiederkehrenden Figuren: Über neue Waffensysteme, über Bruderliebe und einen subversiven katholischen Priester, über absurde Träume, die Verlagerung der Evolution von Menschen auf Maschinen, Kriegsverbrechen der Japaner. Die gekippte Kamera stellt die die Dialoge umgebenden Städte schräg: Berlin, Hongkong, Sao Paulo, Athen, Be’er Sheva. Am Ende schließen sich einige der Kreise und Emigholz serviert uns deutsch-japanische Schuldwurst. Wirklich: Auf einem Schild über einem Hongkonger Geschäft steht da als blinkender Neonschriftzug: „Deutsch-japanische Schuldwurst – direkt vom Erzeuger“. Ich stelle mir glucksend vor, wie Emigholz in Hongkong zu einem Beschilderer geht und diese Anfertigung verlangt. Die Damen neben mir finden das nicht so lustig.

Sommerhaus Filmproduktion; Produzenten: J. Laube, M. Jungfleisch; Regie: Burhan Qurbani; Kamera: Yoshi Heimrath

Keine Ärzte, keine Sozialarbeiter, bis auf einige kurze, anonyme Sequenzen auch keine Polizisten. Der zunächst einzige Staatsvertreter in Berlin Alexanderplatz von Burhan Qurbani ist Reinhold (Albrecht Schuch). Reinhold hat keine Berührungsängste, er kommt regelmäßig in ein Flüchtlingsheim in der Berliner Peripherie, um dort die Leute aus ihrem tatenlosen Wartezustand herauszureißen. Sie sollen für ihn Drogen in der Hasenheide verticken. Dass ausgerechnet Reinhold in Berlin Alexanderplatz, einer Neubearbeitung des Romanstoffs von Alfred Döblin, die einzige typische Kartoffel verkörpert, komplett mit Schnauzbart und abgewetzter Trainingsjacke, trifft die ganze Sache beunruhigend akkurat auf den Punkt. Denn Reinhold wirkt auf den ersten Blick zwar nicht unbedingt harmlos, aber dennoch letztlich ungefährlich. Wie ein Losertyp, der zwar etwas sein will, aber am Ende nichts gebacken kriegt. Erst wenn man es nicht erwartet, dreht er auf, prügelt Frauen aus seinem Bett, die er kurz zuvor noch mit seinem welpenartigen Charme eingewickelt hat, und taucht auf einer Kostümparty im weißen Kolonialistenanzug auf. Reinhold ist eine Karikatur all des Hässlichen, das in Deutschland seit Jahrzehnten und in letzter Zeit immer vehementer an die Oberfläche drängt.

Und so liegt über allem von Anfang an eine seelenschwere Tragik, als Reinhold auf Francis (Welket Bungué) aus Guinea-Bissau trifft. Francis, den er schon bald Franz tauft, der als einziger Überlebender einer Fahrt über das Mittelmeer an einen Strand gespült wird und schwört, dass er fortan gut sein will. Berlin Alexanderplatz ist ein Titel, der einem unmittelbar Ehrfurcht einjagt. Weil die Vorlage so maßgeblich war, weil sich unter anderem Rainer Werner Fassbinder an eine Verfilmung wagte. Qurbanis Fassung ist schon allein deswegen eine Besonderheit im zeitgenössischen deutschen Filmschaffen, weil der Dreistünder nicht in der musealen Graubraunpalette einschlägiger Sozial- und Historiendramen aus Babelsberg und Co daherkommt. Stattdessen leuchten einem Neonfarben und lens flares entgegen, überhöhen glühend die häufig aus leichter Untersicht gefilmten Körper. Qurbani stellt Szenen auf den Kopf – ein so simples wie wirkungsvolles Mittel – umkreist seine Figuren mit der Kamera und findet Orte in Berlin, die die ikonischen Ansichten der Stadt (der Alexanderplatz, immer wieder Ansichten des Fernsehturms) mit den direkt nebenliegenden Brachen verbinden, den zugigen Unterführungen und leeren Straßen, in denen man sich nach Überfällen selbst die Schuld gibt, sich nachts in eine solche Ecke verlaufen zu haben.

Es stimmt schon: Alle Flüchtlingsfiguren des Films entsprechen Stereotypen, sie werden zu Drogendealern und Prostituierten. Doch weder Döblin, noch Qurbani geht es in ihren Werken um Realismus oder psychologische Studien. Der Stoff ist vielmehr ein Gleichnis, ein Epos von antiken Ausmaßen mit Figuren, die Funktionen erfüllen, erfüllen müssen, umso tragischer das Ganze. In der Erinnerung wird Berlin Alexanderplatz immer größer.

Rizi | Days; Land: TWN 2019; Regie: Tsai Ming-Liang; Bildbeschreibung: Lee Kang-Sheng, Anong Houngheuangsy; Sektion: Wettbewerb 2020; © Homegreen Films

Die Filme von Tsai Ming-Liang fühlen sich zuweilen so an, als würde man erst nach und nach die wahren Vorzüge eines im ersten Augenblick ungeliebten Geschenks erkennen. Die Vorstellung einer Pressevorführung am frühen Morgen, bestehend aus minutenlangen Einstellungen, in denen sich fast nichts bewegt, mag erst einmal abschrecken. Der erste Zwischentitel informiert auch noch: „Dieser Film wurde absichtlich nicht untertitelt.“ Aber dann lässt man sich hineinfallen in die Bilder, die die Wahrnehmung schulen, man entdeckt die Schattenspiele des fallenden Regens auf einem Gesicht, die sich sanft im Wind wiegenden Troddeln der roten Papierlampen, die bunten Figürchen, die die Wandregale eines Imbisses schmücken. Ab einem gewissen Punkt kann ich mich in Rizi (Days) dennoch nicht beherrschen. Zu Stadtansichten schlummere ich ein und öffne wieder die Augen, als sich gerade zwei Männer (Lee Kang-Sheng und Anong Houngheuangsy) nackt aneinander schmiegen. Auch das hat einen eigentümlichen Zauber.

Police | Night Shift | Bis an die Grenze ; Land: FRA 2019; Regie: Anne Fontaine ; Bildbeschreibung: Omar Sy, Virginie Efira ; Sektion: Berlinale Special 2020; © Thibault Grabherr / F comme Film / Ciné@

In Police inszeniert Anne Fontaine basierend auf Hugo Boris’ Roman Die Polizisten den Gewissenskonflikt dreier Pariser Flics. Ihr moralisches Dilemma beginnt, als sie einwilligen einen illegalen Einwanderer (Payman Maadi) aus nicht näher genannten Gründen zum Flughafen zu eskortieren. Er soll zurück nach Tadschikistan und im Laufe der gemeinsam Autofahrt realisieren die Polizisten, dass die Rückkehr in seine Heimat für ihn den sicheren Tod bedeutet. Anne Fontaines Filme sind psychologische Dramen, davon weicht auch Police nicht ab. In Rückblenden erzählt sie von den Alltagssorgen der Polizisten: Vom harten Job mit seinen teils traumatischen Folgen, ihren Eheprobleme, Affären und einer bevorstehende Abtreibung (denn natürlich muss die einzige Frau in Police schwanger sein). Der Tadschike derweil, Tohirov heißt er, bleibt ein schweigsames Enigma. Er kann kein Französisch und so spricht er kaum, transportiert seine Emotionen fast ausschließlich über die Mimik. In einem Film also, dessen ganzes Mitteilungsbedürfnis darauf fußt, dass man sich in die Figuren einfühlen, aus der Kenntnis ihrer Beweggründe heraus Verständnis entwickeln soll, verweigert der Film ausgerechnet jener Figur eine Stimme, die dieses Mitgefühl am dringendsten bräuchte. Was bleibt, ist die Reproduktion mitteleuropäischen Selbstmitleids.

An einer Stelle in There Is No Evil bleibt Heshmat auf dem Weg zur Arbeit an einer roten Ampel stehen. Sie springt um auf Grün – er bleibt stehen. Rot – noch immer starrt er ausdruckslos geradeaus. Wieder grün. Diesmal fährt er. Es ist nur ein winzig kleiner Moment, in dem er nicht mitspielt, im großen Spiel. Weitaus weniger gefährlich als die Risiken, die andere Figuren im Film noch eingehen werden. Dennoch steckt in dieser kurzen Sequenz schon unheimlich viel. There Is No Evil bildet für den insgesamt etwas blässlichen Berlinale-Wettbewerb nicht nur den Schluss-, sondern auch einen Höhepunkt. Der Stuhl des Regisseurs bleibt bei der Pressekonferenz aber demonstrativ leer. Dem iranischen Filmemacher Mohammad Rasoulof wurde 2017 sein Pass abgenommen, er darf weder ausreisen, noch offiziell Filme drehen. Ähnlich wie sein Landsmann Jafar Panahi findet er dennoch Wege. Wie sein neues Werk entstehen konnte, beschreibt er etwa in einem sehr lesenswerten Interview, dass Christiane Peitz für den Tagesspiegel mit ihm über Skype geführt hat: Angemeldet wurden einfach Kurzfilme unter der Leitung seiner Regieassistenten, denn bei Kurzfilmen werde nicht so genau hingeschaut.

Sheytan vojud nadarad | There Is No Evil | Es gibt kein Böses; Land: DEU, CZE, IRN 2020; Regie: Mohammad Rasoulof; Bildbeschreibung: Ehsan Mirhosseini; Sektion: Wettbewerb 2020; © Cosmopol Film

Und so setzt sich There Is No Evil aus vier Episoden zusammen, die lose miteinander zusammenhängen und alle um das Thema der im Iran verhängten Todesstrafe kreisen. Dabei thematisiert Rasoulof weniger Sinn und Unsinn der Strafe an sich, sondern eher die Frage, wie ein repressives Regime sein Volk zu Mittätern macht. Ob es überhaupt möglich ist, sich dem zu entziehen. Der Militärdienst ist verpflichtend für junge Männer im Iran, wer sich widersetzt, bekommt eine Verlängerung und an Reisepass, Führerschein, Gewerbeschein ist ohne den Militärdienst ohnehin nicht zu denken. Während zahlreiche bekannte Filme aus dem Iran von den Einschränkungen erzählen, denen die Frauen im Land unterliegen, zeigt Mohammed Rasoulof nun den Druck, unter dem dort vor allem junge Männer stehen.

Ping jing | The Calming; Land: 2020; Regie: Song Fang; Bildbeschreibung: Qi Xi; Sektion: Forum 2020; © HUANXI MEDIA GROUP

Heshmat etwa, der Mann, der an der grünen Ampel stehen bleibt, ist sichtlich unzufrieden mit seiner Arbeit, die sich erst zum Ende seiner Episode mit brutaler Unmittelbarkeit offenbart. Zunächst aber sehen wir ihn an einem ganz normalen Tag, wie er Frau und Tochter abholt, einkauft, die kranke Mutter besucht, abends Pizza isst. Die Kamera ist dabei auf dem Armaturenbrett seine Autos montiert, es entsteht eine Situation, die sicher nicht völlig unbeabsichtigt an Jafar Panahis Taxi Teheran erinnert. Sein Alltag könnte nicht unspektakulärer sein, nicht weiter entfernt von den zuweilen dämonischen Bildern des Iran, die die westlichen Medien dominieren. Dennoch geht es ihm offensichtlich nicht gut, das verrät nicht nur sein starrer Blick, sondern auch die Schlaftabletten, ohne die er sich gar nicht erst ins Bett legt. Dabei geht es Hashmet wesentlich besser als den Protagonisten der übrigen drei Episoden. Immer wieder schwingen im Film autobiografische Untertöne mit, wenn Rasoulof etwa eine offensichtlich bürgerliche Familie porträtiert, die auf einem abgelegenen Bauernhof lebt, weil es in der Peripherie leichter fällt, sich sozialen und politischen Zwängen zu entziehen.

Die schönsten Einstellungen in Song Fangs Forumsfilm Ping Jing (The Calming) zeigen die Präfektur Niigata, wo es jährlich die höchsten Schneefälle in ganz Japan gibt, aus der Vogelperspektive: Schneebedeckte Kleinstädte, zu allen Seiten gerahmt von Berggipfeln, mitten hindurch schlängeln sich Bahnschienen. Es ist, als schaue man auf eine aufwändig gestaltete Modelleisenbahn, als seien die Menschen auf den Straßen kleine, mit Liebe zum Detail geformte und bemalte Modellfiguren, von einer übergeordneten Hand an ihren Platz gestellt, um dort zu verweilen. Eine dieser Figuren ist Lin (Qi Xi), eine frisch getrennte Filmemacherin. Sie wehrt sich gegen dieses an einen Ort gestellt sein. Im Laufe des Films sehen wir sie wiederholt an den Fenstern von Schnellzügen, Reisebussen, in Fähren und Autos sitzen: In Tokyo betreut sie die Ausstellung ihrer eigenen Installation, in Hongkong besucht sie Freunde, zwischendurch die Eltern. Aber nach Niigata fährt sie ganz allein, denn schon als Kind liebte sie den Schnee.

Lin ist meist allein, und wenn Song Fang auch nicht verschweigt, dass es ihr in ihrer selbstgewählten Einsamkeit nicht immer blendend geht, so steckt doch neben zarter Melancholie auch unheimlich viel Kraft in der Art, wie sie sich mit einer Aufmerksamkeit durch die Welt bewegt, die sie in Gesellschaft vielleicht nie aufbringen könnte: Schnee rieselt von den Bäumen, Kinderstimmen schallen von der Straße herauf in die Wohnung, Bambuswäldchen knacken so, wie es nur Bambuswäldchen tun. Das Zeitgefühl käme einem dabei völlig abhanden, würde nicht Lins wachsender Zopf ihr stetes Vergehen markieren.

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