
Mirabilia – Wundern und Staunen allüberall
Alf Mayer über Massimo Listris „Cabinet of Curiosities“
„Wunderkammer“, das ist eines der deutschen Worte, die es in die englische Sprache geschafft haben. Es hat einen schönen Klang. Im Fall von „Die Wunderkammer der deutschen Sprache“ aus dem Verlag Das kulturelle Gedächtnis war es allerdings auch die Gestaltung, die es gerade zu einem der 25 schönsten Bücher des Jahres gemacht hat, das aber nebenbei.

Der Begriff Kunst- und Wunderkammer taucht zum ersten Mal in der 1564 bis 1566 im schwäbischen Meßkirch entstandenen „Zimmerischen Chronik“ des Grafen Froben Christoph von Zimmern auf. Das Wort bezeichnete die zumeist an Fürstenhöfen oder bei vermögenden Bürgern entstandenen Sammlungen von Naturalien und Kunst-Handwerks-Gegenständen, in denen sich „die Welt“ abbildete: Korallen und Muscheln aus der Südsee, Vogeleier aus Afrika, Kugelfische, Kristalle und Quarze, Kaurischnecken, Schmetterlinge, tätowierte Fische – you name it, we have it. Franceso I de Medici etwa ließ sich im Palazzo Vecchio in Florenz solch ein Studierzimmer einrichten.

Die Sammlungen, deren Kunterbunt heute manch Augenbraue hochgehen lässt, bündelten das Wissen ihrer Zeit, ihre Artefakte waren oft von Seefahrern, Abenteurern und Händlern aus allen damals bekannten Ecken der Welt nach Europa gebracht worden. Anstoß für das neue Interesse waren die Entdeckungsfahrten des 15.–17. Jahrhunderts und die Begegnungen mit der radikalen Andersartigkeit fremder Länder. Die Weltkugel – der Globus – wurde zur Chiffre für diesen neuen Wissensdrang. Der Sammler und Museologe Johann Daniel Major etwa strebte nach der „Erkäntnüß des Apfel-runden Kreises der ganzen Welt“.
Ein besonderer Reiz dieser Sammlungen bis heute ist es, dass Naturalien darin oft nicht von Artefakten getrennt sind und das Kunsthandwerk die schönsten und wildesten Blüten treibt. (Ein Beispiel dafür, erneut aus Schwaben, weiter unten.) Der dafür geprägte Begriff lautet Artificialia: künstlich geschaffene Dinge von besonderer Schönheit und Raffinesse. Staunend steht man deshalb noch heute vor Silber- und Goldschmiedearbeiten unter Verwendung von Korallen, Muscheln, Bernstein, Bergkristall, Elfenbeinschnitzereien, eingefassten Straußeneiern, Narwalzähnen, Tierpräparaten. Immer besonders schön: Nautiluspokale. Mittelalterliche Folklore, Rarität und Kuriosität, aber auch die Belebung der antiken Sagenwelt verband sich hier mit technisch-wissenschaftlichem Forscherdrang. Mirabilia – Wundern und Staunen allüberall. Die Sammlungen waren zum Teil die Vorläufer der heutigen Naturkundesammlungen, sie alle gehören zur Frühphase unserer Museumsgeschichte, sind Keimzellen der modernen Museumsidee. Und sie sind eine Reise wert.

Auf die nimmt uns der auf opulente Interieurs spezialisierte Florentiner Fotograf Massimo Listri, dem wir bereits im Verlag Taschen den Prachtband „Die schönsten Bibliotheken der Welt“ verdanken (CulturMag-Besprechung hier). Wie vom Verlag Benedikt Taschen gewohnt, ist die Ausstattung des in Italien gedruckten XXL-Bandes hochwertig, das überbreite samtene Lesezeichnen nur das i-Tüpfelchen. Die Coverabbildung einer Schrankbekrönung mit Arcimboldesker Maske stammt aus der Franckschen Kunst- und Naturaliensammlung in Halle. Eine hochinformierte Einleitung des Renaissance-Spezialisten Antonio Paolucci, einst Direktor des Museumsverbundes Florenz, dann des Vatikanischen Musuems, führt in das Thema ein, die Katalogtexte von Giulia Carciotto erschließen die insgesamt 19 in opulenten Bildern vorgestellten Sammlungen aus Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden, Italien, Frankreich und England und erläutern auch die Abbildungen.

Deren Prachtstück ist eine sechsseitige Ausklapptafel mit Deckelpokalen aus dem Tresoro die Granduchi, der großherzoglichen Schatzkammer in Florenz, gefolgt von vier beeindruckend seltsamen Büsten: arcimboldeske Figuren, Holz mit Muscheln besetzt, aus Deutschland stammend. Danach vier Doppelseiten mit prächtigen Nautiluspokalen.
Den Auftakt des prächtigen Buchs macht eine Sammlung, die Ende letzten Jahres plötzlich aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen und in die Fernsehnachrichten gezerrt wurde: In der Nacht zum 25. November 2019 drangen Unbekannte in das „Grünen Gewölbe“ des Residenzschlosses in Dresden ein, erbeuteten Juwelen von unschätzbarem Wert und richteten einiges an Verwüstung an. Auf insgesamt 35 Bildseiten kann man im Buch, von solchen Ereignissen unberührt, durch die 1560 gegründete und 1723 eröffnete Sammlung schlendern. Oder durch Schloss Friedenstein, Gotha, durch die Frankeschen Stiftungen in Halle, durch Schloss Ambras bei Innsbruck, das Kunsthistorische Museum in Wien oder das Mineralienkabinett im Stift Seitenstetten mit seinen wunderbaren Muscheln, Kristallen, Quarzen, Kammmuscheln und Kaurischnecken.

30 Seiten Bildstrecke gibt es auch für das Rosenborg Slot in Kopenhagen, immerhin 24 Bildseiten für den unglaublichen Kunstschrank von Philip Hainhofer, einem Meisterwerk der Ebenholzverarbeitung, den der schwedische König Gustav II. Adolf 1932 von der Stadt Augsburg erhielt – lange erfreuen konnte er sich nicht, fiel er doch kurz darauf in der entscheidendsten Schlacht des Dreißigjährigen Krieges bei Lützen. Das wahrhaft königliche Geschenk, heute im Museum Gustavianum der Universität Uppsala, war eine sogenannte „Reise-Wunderkammer“, so die Definition des Erfinders Hainhofer: eine Art Schrankkoffer, den man auf Reisen mitnahm und der sich aufgrund eines ausgeklügelten Systems aus Geheimschubladen, Schiebetüren, ausklappbaren Türchen und Klappspiegeln in einen Toilettentisch oder eine Apotheke verwandeln ließ und zudem Gesellschaftsspiele, einen Altar und Musikinstrumente beherbergte. Die Darstellungen darauf beschäftigten sich mit der Wechselbeziehung von Natur und Kunst. Die abrupten Veränderung der Größenverhältnisse, die durch Verkleinerungs- und Vergrößerungseffekte erzielt wurden, stellten die gewohnte Sichtweise auf den Kopf und lösten Staunen aus. Wahrlich ein Wunderschrank.

Guilia Carciotto in ihrer Beschreibung: „Mit der Ausführung beauftragte Hainhofer den genialen Kunsttischler Ulrich Baumgartner (um 1580–1652), ein Spezialist, der sich wie kein anderer darauf verstand, mit den Maserungen tropischer Dufthölzer zu spielen und Ebenholz mit farbenprächtigen, fantasievollen Intarsien zu kombinieren. Mit Ausnahme eines Innenfachs an der Rückseite, auf dessen Minischubladen Szenen aus dem Alltagsleben dargestellt sind, besteht die Dekoration aus Bibelszenen. Außen ist der Schrank (240 cm hoch, 120 cm breit), der ungefähr tausend Teile enthielt, mit Einlegearbeiten aus Elfenbein, Email, Kameen, Pietra dura, Hinterglasmalerei, bemaltem Alabaster und Pietra paesina, einem besonderen, eigens aus der Toskana importierten Kalkstein, geschmückt. Da der Schrank auch zu Unterhaltung und Zeitvertreib gedacht war, fügte Hainhofer neben einem Schach- und einem Backgammonspiel, die sich hinter der Vordertür verbergen, an den angeschrägten Ecken einige Anamorphosen hinzu: Zerrbilder, die man nur mithilfe eines konisch oder zylindrisch gewölbten Spiegels entziffern konnte.“

So wie in diesen Schrank kann man sich in jede der in diesem Band porträtierten Sammlungen vertiefen. Schatzfunde garantiert. Vorläufer der Wunderkammern waren übrigens die Reliquienschätze mittelalterlicher Kirchen. Zunächst sammelte man dort nur Objekte, die mit Christus und seinen Jüngern verknüpft waren. Dann folgten Skelette von Heiligen und mit der Zeit erweiterten sich die Reliquienschätze mit immer ungewöhnlicheren Objekten, wie etwa ein Gefäß mit Milch von der Jungfrau Maria oder der Stab des Moses. An den Fürstenhöfen Europas wurde ab dem 16. Jahrhundert gesammelt, was für die damalige Zeit wesentlich erschien und von Interesse war. Das konnten Gemälde, Kupferstiche, Plastiken, Bücher, Münzen, Medaillen, astronomische Geräte, Atlanten, Skelette, Fossilien, Mineralien, Elfenbeinarbeiten, Straußeneier, Kokosnüsse und noch vieles mehr sein. Man kann die Objekte in vier Kategorien unterteilen: Naturalia, Artificialia, Scientifica und Exotica. In den Wunderkammern fand alles, aber wirklich alles, seinen Platz: bildende Kunst, wissenschaftliche Geräte, Astrologie und Medizin, Zoologie und Botanik, Gemmologie und Metallurgie, Esoterik und Alchemie. Vor allem aber das Staunen.
Alf Mayer
- Massimo Listri: Wunderkammern – Cabinet of Curiosities. Mit Texten von Giulia Carciotto, Antonio Paolucci. Deutsch, Englisch, Französisch .Verlag Benedikt Taschen, Köln 2020. Hardcover XXL, Format 29 x 39,5 cm, Gewicht 5,04 kg. 356 Seiten, 100 Euro. Verlagsinformationen.
PS. Heute sind Wunderkammern oft selbst Objekt musealer Betrachtung, es gibt durchaus einige Literatur, etwa Henning Ritter „Die Wiederkehr der Wunderkammer“, 2014. Peter Huber hat eine schöne Internet-Präsenz für Wunderkammern aufgebaut – und für jeden von uns liegt die größte von ihnen nur einige Mausklicks entfernt. Im Internet.
PPS. Ganz und gar modern, jedoch ganz im Geiste dieser Renaissance-Wunderkammern ist übrigens das wie die Felsenstadt Petra in den Sandstein der Halbinsel Berriedale gehauenene MONA, das vom Privatmann David Walsh gegründete und finanzierte „Museum of Old and New Art“ in der tasmanischen Hauptstadt Hobart, für das allein schon sich die Reise dorthin lohnt. Eine in Military-Tarnfarben gestrichene Fähre, auf der Lounge-Musik wummert und Drinks serviert werden, bringt einen zu einer Treppe mit 99 Stufen (ohne Aufzug). Wenn man sie hinaufsteigt betritt man ein Wunderland … Davon ein anderes Mal mehr.
PPS. Der italienische Philosoph, Theologe und Utopist Tommaso Campanella (1568–1639) beschreibt in seiner Schrift Civitas Solis (Der Sonnenstaat) von 1602, in der er die Utopie eines Gemeinwesens entwirft, detailliert sein „imaginäres Museum“, einen ringförmig gebauten Tempel, in dem alle Künste und Wissenschaften anschaulich dargestellt werden: „Auf der Innenseite der Mauer des ersten Ringes erblickt man alle mathematischen Figuren … Auf der nach außen gewölbten Außenseite der Mauer steht zunächst die genaue und vollständige Beschreibung der ganzen Erde. Darauf folgen besondere Darstellungen jeder einzelnen Gegend. Dabei sind auch die Sitten und Gebräuche … und die Alphabete aller Völker über dem Alphabet des Sonnenstaates. Auf der Innenseite der Mauer des zweiten Ringes […] erblickt man alle Arten von edlen und gewöhnlichen Steinen, Mineralien und Metallen, echte und gemalte, ebenso wirkliche Bruchstücke davon als Proben. […] Auf der Außenseite sind […] Weine und Öle und überhaupt alle Flüssigkeiten mit Angabe ihres Herkommens, ihrer Eigenschaften und Kräfte. Dabei stehen in Mauernischen Gefäße mit teilweise hundert bis dreihundert Jahre alten Flüssigkeiten zur Heilungder verschiedenen Krankheiten. […] Auf der Innenseite des dritten Ringes sind alle Arten von Bäumen und Kräutern abgebildet, […] ihre Kräfte und Eigenschaften sowie ihre Beziehungen zu den Himmelserscheinungen, den Metallen, den Teilen des menschlichen Körpers, […] ferner ihr Gebrauch in der Heilkunde und so weiter. Auf der Außenseite finden sich alle Gattungen der Fische der Flüsse, Seen und Meere, ihre Lebensgewohnheiten und Eigenschaften […]. Auf der Innenwand des vierten Ringes sieht man alle Arten von Vögeln dargestellt, ihre Eigenschaften, Größen, Farben, ihr Leben, ihre Gewohnheiten und so weiter. Auch der Phönix gilt ihnen für durchaus wirklich.“ So geht es weiter mit der Darstellung aller lebenden Arten bis zum sechsten und letzten Ring, wo „alle mechanischen Künste dargestellt sind, die dazu nötigen Werkzeuge und ihre Handhabung bei den verschiedenen Völkern. Auf der Außenseite sieht man die Bildnisse aller Entdecker und Erfinder wissenschaftlicher und technischer Dinge, ebenso die der Gesetzgeber, unter denen sah ich Moses, Osiris, Jupiter, Merkur […]; sogar Mohammed ist abgebildet. […] Am würdigsten Platze jedoch sah ich das Bildnis Jesu Christi und der zwölf Apostel, die sie für besonders ehrwürdig und gleichsam für Übermenschen halten. Ich sah ferner Cäsar, Alexander, Pyrrhus und vor allem Römer.“ Aber auch technische Errungenschaften aus dem Fernen Osten finden Erwähnung: „Steinschleudern und Schießgewehre wurden, ebenso wie die Druckerkunst, bei den Chinesen erfunden, und zwar früher als bei uns.“

