
Die bessere Houellebecq
Zu Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 1-3
Ist der Gott der Zukunft ein DJ? Die Französin Virginie Despentes hat einen modernen, wilden Mythos geschaffen. Christopher Werth hat ihn gelesen.
Vernon Subutex ist der ideale Plattenverkäufer prähistorischer, prädigitaler Zeit, mit dem jeder gern befreundet sein will. Der Dealer, der genau weiß, was Dir gefällt. Der perfekte Kumpeltyp für die Jungs – und trotzdem einer, der den Mädchen gefällt. In Band drei beschreibt ihn eine Figur als Mischung aus Bruno Mars und Keith Richards. Er verliert erst seinen Laden und dann seine Wohnung. Er schnorrt sich durch die Betten seiner Facebook-Freunde und rutscht mit aller Brutalität in die Obdachlosigkeit ab. Dabei passiert etwas Merkwürdiges mit ihm. Während er fast auf einer Parkbank krepiert, wird unter Halluzinationen sein mentales Betriebssystem zurückgesetzt und von Viren gereinigt. Das allgegenwärtige schneller, höher, weiter, das sich ständig mit allen vergleichen müssen und die Gier nach Konsum und Status fallen irgendwie von ihm ab. Wie ein Buddha, der frei von egoistischen Begierden die Welt mit klarem Blick sieht. Ein bisschen wie bei Paul Auster: Ein Mann verliert alles – aber findet sich selbst. Rund um diese charismatische Figur inszeniert Despentes ein großes Ensemble von Pariser Charakteren. Ein Ensemble, das ihr Vergleiche mit Balzacs Menschlicher Komödie eingebracht hat. Ihr Ansatz bei der Darstellung der Figuren ist kompromisslos: sie geht dahin, wo es wehtut, sie erzählt jede Figur gnadenlos ehrlich, ungefiltert und sehr genau aus ihrer Kaputtheit, aus ihren Schwächen und Perversionen heraus. Und das lässt diese Figuren einem sehr nah kommen. Zuerst entsteht vielleicht der Eindruck, dass sie richtig viel nackte Haut reinpackt, wie in der ersten Staffel von „Game of Thrones“, damit keiner wegschaltet. Aber das stimmt nicht. Das ist einfach ihr Ansatz. Die Figuren radikal von ihren Schwächen aus zu erzählen – und da gehören Sex und Drogen dazu. Eine Parallele zu TV-Serien ist die breit angelegte Ensemble-Struktur. Sie sind lose um die Hauptfigur aufgereiht. Vernon Subutex ist die Schnur, an der sich all die wunderbar verkrachten Charakter-Perlen aufreihen. Dabei kommen wir den Figuren, auf die in den einzelnen Episoden der Fokus liegt, immer näher. Penner, Investment-Banker, Arschlöcher, Nazis und sogar ein französischer Harvey Weinstein werden als menschliche Wesen erkennbar. Ein chirurgisch präziser Einblick in die verkorksten Seelen der Westeuropäer, in die explosive Mischung der französischen Gesellschaft zwischen Extremismus, Protesten, Attentaten und hilfloser Politik. Alle sind kaputt. Aber nicht so kaputt, dass nicht der richtige Sound sie begeistern könnte.

Rund um den Obdachlosen Plattenverkäufer entsteht ein gesellschaftlicher Gegenentwurf. Ein bunter Haufen schließt sich zur Subutex-Bande zusammen und bildet im Pariser Parc des Buttes-Chaumont ein Camp mit eigenen Regeln. Jeder darf sein, wie er will. Eine Gemeinschaft von Freunden ohne Klassengrenzen und ohne Smartphones. Was sie alle verbindet, ist die Musik. Vernon ist nicht nur ein großartiger DJ. Darüber hinaus findet er einen Weg beim Auflegen besondere Soundwellen reinzumixen, die das Gehirn in einen Rausch versetzen und den Genuss der Musik beim Tanzen zum Trip steigern. Ohne Kater beim Runterkommen. Sie organisieren drogenfreie Raves, die sie Convergence nennen. Nur mit Einladung kommt man rein. Die Convergencen nehmen schnell Kultstatus an und Vernon geht sogar auf Tour. Ohne zu sehr zu spoilern: Natürlich endet alles in einer Katastrophe. Der beleidigte Kapitalismus schlägt effizient und blutig zurück. Und: sichert sich die Verwertungsrechte an der Story.

Die Geschichte des Vernon Subutex ist eine Heiligengeschichte.
Band 1: Der präzise geschilderte Absturz des Plattenhändlers in die Obdachlosigkeit.
Band 2: Die unbeabsichtigte Entstehung von Buddha-gleicher Gelassenheit und seiner treuen Bande von Jüngern.
Band 3: Schließlich sein Aufstieg zum Musik-Schamanen einer modernen Hippie-Community. Nach dem jähen Ende der Gemeinschaft folgt der Aufstieg zum Mythos.
Die Trilogie stellt die Frage: Was passiert eigentlich mit den coolsten Säuen der Schule, mit Punks, mit Pornostars, mit Drehbuchautoren, Bassistinnen, wenn sie alt werden? Was passiert mit den Leuten, die nicht Lehrer, Arzt, Anwalt oder mittlere Führungskraft geworden sind, sondern voller Idealismus angetreten sind, um ihre Jugendträume durchzuziehen? Aber die Hauptfrage, die Despentes mit ihrer Trilogie stellt: wie könnte eigentlich in unserer kaputten Welt eine neue, Sinn und Gemeinschaft stiftende Religion entstehen und aussehen?

Despentes ist wie The Prodigy auf ungestrecktem Koks in einem tiefergelegten Lambo mit 900 PS. Nach eruptiver Vollgas-Literatur wie ihrem Debut Fick mich! Oder ihrem feministischen King Kong Theorie überrascht sie bei der Subutex-Trilogie mit weiter aufgefächerten Klangpaletten. Sogar mit Stille, Wärme und differenzierten Zwischentönen. Und mit einem gewagten Blick in die nächsten Jahrhunderte. Was aber nicht heißt, das hier nicht trotzdem die Post abgeht. Guter Stoff eben.
Christopher Werth
- Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 1-3. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2018 – 2019.
- Als mp3-Hörbuch erschienen bei DAV, ungekürzte Version von 10 Stunden und 57 Minuten, gelesen von Johann von Bülow.
PS: Bei Spotify gibt es eine Playlist mit allen Songs, die Subutex in der Trilogie auflegt. Und: Man kann sich die Bücher überdurchschnittlich gut und atmosphärisch dicht von Johann von Bülow vorlesen lassen.
Die Texte von Christopher Werth bei CulturMag hier.
Virginie Despentens, auf CrimeMag besprochen und diskutiert, hier.