Geschrieben am 1. September 2020 von für Crimemag, CrimeMag September 2020

Constanze Matthes zu Téa Obreht „Herzland“

Buch der Stimmungen

Western verbinden wohl viele von uns mit Pferden. Wilde Mustangs oder die kräftigen und ausdauernden Reit- und Lastentiere der Indianer und Siedler. Einen ganz anderen und überaus markanten und zähen Vierbeiner rückt die US-amerikanische Autorin Téa Obreht in den Fokus ihres neuen Romans. Mit „Herzland“ hat sie zugleich für das Genre des Western ein besonderes Buch geschrieben, das auf wirklichen Begebenheiten basiert. Mit diesem erinnert sie an das einstige Camel Corps, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die US-Armee als Nachschubverband zum Einsatz kam. 

„Herzland“ führt also zurück in die Zeit, als die Besiedlung des riesigen und weiten amerikanischen Kontinents weiter voranschreitet – mit Menschen und eben auch Tieren aus anderen Ländern und Kontinenten. So liegen Luries familiäre Wurzeln im Osmanischen Reich. Er ist ein Waisenkind. Als Ganove und Mitglied der gefürchteten Matti-Gang ist er nach deren Ende weiter auf der Flucht, verfolgt von dem umtriebigen Marshall John Berger. Eines Tages stößt er auf eine Lasten-Karawane aus Kamelen und auf Jolly, der in den folgenden Jahren zu einem treuen Gefährten wird. Gemeinsam mit ihren Tieren und weiteren Männern ziehen sie von Camp zu Camp von Bundesstaat zu Bundesstaat. Von neugierigen wie ängstlichen Blicken der Siedler begleitet. Schließlich trennen sich ihre Wege. Lurie, der von Jolly den Namen Misafir erhalten hat, verlässt mit seinem Kamel Burke die Gruppe. Ohne jemals ein Zuhause zu finden. 

In einem zweiten Handlungsstrang wird von Nora und ihrer Familie, die eine Farm in Arizona nahe der Kleinstadt Amargo führt, erzählt. Noras Mann Emmett besitzt eine Zeitung mit Druckerei. Das Leben der Larks ist von Unsicherheit, Entbehrungen, Gefahren und Schicksalsschlägen gezeichnet. Das lebenswichtige Wasser ist durch Trockenheit und Dürre knapp. In dem Grenzgebiet kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Siedlern und Ureinwohnern. Als sich Emmett auf die Suche nach einem Wasserhändler macht, schließlich die beiden älteren Söhne Rob und Dolan folgen, bleibt Nora mit dem jüngsten Spross Tobey, dem phlegmatischen Dienstmädchen Josie und Emmetts betagter Mutter zurück. Als in das Wasserhaus der Familie eingebrochen wird, gehen die letzten Vorräte verloren. Wer ist der Täter? Und was hat es mit dem Ungeheuer auf sich, von dem Tobey immer voller Angst spricht?

US-Originalausgabe 2019

„Herzland“ ist keiner dieser typischen allseits spannungsgeladenen und gewaltvollen Western, auch wenn die Protagonisten Gefahren trotzen müssen, ums Überleben ringen und es die eine oder andere blutige Szene, meist jedoch in Rückblicken geschildert, gibt. Streckenweise erinnert der Fortgang der Handlung an die Bewegung einer Karawane. Was nicht heißt, dass dieser Roman ohne eine Flut an überschlagenden Ereignissen unscheinbar ist. Ganz im Gegenteil. Obreht stellt Figuren in den Mittelpunkt, die vielmehr Sonderlinge, aber auch Helden sein können, die in einem Geschichtsbuch erwähnt werden. Noras Familie lebt abseits der Stadt, ihr Mann setzt die Zeitung ein, um für den Verbleib des County-Sitzes in Amargo zu kämpfen, der an die Stadt Ash River fallen soll. Misafir ist schon per se durch seine Herkunft, seine unrühmliche Vergangenheit und den besonderen vierbeinigen Begleiter ein Außenseiter. Mit diesem Blick auf ganz spezielle Figuren erinnert der Roman auch ein wenig an das wundervolle Buch „Tage ohne Ende“des irischen Schriftstellers Sebastian Barry.

„Herzland“ kann deshalb vor allem als ein meisterhaftes Buch der Stimmungen gelesen werden. Obreht, die in Belgrad geboren wurde, mit ihrem Roman „Die Tigerfrau“ 2011 debütierte und für den renommierten National Book Award nominiert war, entwirft ein facettenreiches wie komplexes Bild des einstigen Amerika, aus dem sich das heutige entwickeln konnte. Schon damals entstanden Machtstrukturen. Der einflussreiche Viehbaron Merrion Grace und dem ihm dienenden Sheriff Harlan, dem Nora vertraut und der sie später herb enttäuschen soll, stehen dafür stellvertretend für all jene, die die Entwicklung einer Region zu ihren Gunsten beeinflussen – ohne Rücksicht auf das Wohl und die Einstellung der anderen. Hinzu kommt der Argwohn gegenüber dem Fremden. Nora misstraut einer alten Indianerfrau, die Siedler den auf sie bizarr wirkenden Kamelen.

Den auch sprachlich glänzenden Roman prägt darüber hinaus ein ganz besonderer, sehr melancholischer Ton, bedingt durch ein ganz besonderes Thema. „Herzland“ ist ein auch an den magischen Realismus erinnerndes Buch, das Tod, Abschied und Vergänglichkeit in den Vordergrund rückt. Nora führt Gespräche mit ihrer früh verstorbenen kleinen Tochter. Josie fungiert als Medium. Lurie sieht die Toten und übernimmt deren schlechte Eigenschaften. Wie sein einstiger Kumpan Hodge verfällt er der Klemptomanie. In „Herzland“ gibt es kein Happy End. Noras schlimmste Befürchtungen erfüllen sich. Am Ende führen beide Geschichten auf grandiose wie herzzerreißende Weise zusammen. Von Lurie/Misafir, der seinem treuen Kamel alle seine Erlebnisse und Gedanken erzählt, nimmt man unter Schmerzen Abschied.

Constanze Matthes – ihre Texte bei uns hier. Blog „Zeichen & Zeiten“. 

Téa Obreht: Herzland (Inland, 2019). Aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. Hardcover, 512 Seiten, 24 Euro.

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