Geschrieben am 1. Dezember 2019 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2019

Constanze Matthes zum diesjährigen Buchmessen-Gastland

Norwegen, Frankfurt og Signe

Ein etwas anderer Blick auf die Buchmesse – von Constanze Matthes

Wenn ich über Norwegen und die diesjährige Frankfurter Buchmesse schreibe, komme ich nicht herum, über die Fotos zu erzählen, die in meiner Wohnung an einer Wand hängen und vor denen ich oft stehe, um die Gesichter der Personen zu betrachten. Es sind Bilder in unterschiedlicher Größe und mit verschiedenen Rahmen, aber stets in Schwarz-Weiß. Einige zeigen Signe. Eine Frau, über die ich mehr und mehr nachdenke, deren Leben ein Teil von mir geworden ist, wie auch ihr Heimatland ein Teil von mir ist.

Foto: Constanze Matthes

Ich habe sehr lange überlegt, ob ich davon berichten sollte. Allzu persönlich wäre ein solcher Beitrag, allzu viele Lücken hätte dieser, weil ich vieles über sie nicht weiß. Denn Signe habe ich nicht gekannt, sie lebt aber in den Erinnerungen meiner Familie weiter. Signe ist meine Großmutter. Geboren auf der nordnorwegischen Insel Senja, starb sie in der DDR, wenige Jahre vor meiner Geburt. An der Seite eines deutschen Soldaten, meinem Großvater, verließ sie ihre Heimat, die sie in den folgenden Jahren nie mehr wieder sehen sollte. Denn sie bekam die notwendige Ausreisegenehmigung nicht. Ihr größter Wunsch blieb unerfüllt, durch das Unrecht des Staates. Eine Tragödie von vielen in meiner Familie. Es ist bekannt, dass norwegische Frauen, die eine Beziehung zu den deutschen Soldaten aufnahmen, verfemt waren. Ein Kapitel norwegischer Geschichte, das seit einigen Jahren aufgearbeitet wird. 2018 entschuldigte sich die norwegische Regierung offiziell für die schlechte Behandlung dieser Frauen. Edvard Hoem hat darüber in seinem Roman „Die Geschichte von Mutter und Vater“ geschrieben.  

Zu meinen Kindheitserinnerungen zählt der Besuch des Friedhofs in einem kleinen sächsischen Ort nahe der Elbe, auf dem meine Großmutter und mein Großvater ihre letzte Ruhe fanden. Auf dem Grabstein stand eine Inschrift in mir damals noch unbekannter Sprache, die ich hoffe nun richtig aus einem Nebel der Erinnerung aufzuschreiben: Vi aldri glømme deg! Wir werden Dich niemals vergessen. Diese Wörter waren damals etwas Fremdes für mich. Wie auch die Geschichte meiner Großmutter in den Jahren der DDR mir nie vollständig erzählt wurde. Es waren immer nur kleine Bruchstücke, die ich erhielt, als ich begann zu fragen. Was macht ein solches teils undeutliches, ja unscharfes Kapitel Familiengeschichte mit den kommenden Generationen?

Runde – © Wiki-Commons

In meinen Fall rückte ich Stück für Stück diesem Land näher. Es begann mit einem ersten Besuch kurz nach der Wende, hoch im Norden, wo der andere Teil der Familie lebt. Nach meinem Abitur entschied ich mich, als Au-pair auf der kleinen Insel Runde nahe Ålesund – bekannt für seine reiche Vogelwelt – zu arbeiten. Zuvor hatte ich in der Tageszeitung eine Stellenanzeige gelesen. Ich bewarb mich – heimlich, ohne das Wissen meiner Eltern. Diese zehn Monate waren eine sehr prägende Zeiten für mich. Ich lernte die Sprache meiner Großmutter, die Mentalität, das Essen (allen voran Brunost, der braune Ziegenkäse), das Wetter kennen, diese besondere Nähe zwischen Land und Meer, die man nur auf Inseln erfährt, schätzen und lieben. Meine Magisterarbeit im Fach Germanistik schrieb ich über Knut Hamsun, den bekanntesten und zugleich umstrittensten Schriftsteller, der 1917 den Literaturnobelpreis erhielt. Es folgten weitere Reisen, zuletzt mit der Hurtigruten entlang der Küste von Bergen nach Kirkenes und zurück – im Winter. Einmal das Nordlicht zu sehen, ein unvergessliche Erfahrung, die in den Körper und die Seele geht. Und jedes Jahr muss ich mich entscheiden – reise ich in die andere Welt hinaus oder besuche ich meine Seelenheimat. Und jedes Mal, wenn ich sie wieder verlasse, trifft mich eine Wehmut und Traurigkeit, fühle ich mich innerlich zerrissen.

Ganz ähnlich ist es mir ergangen, als ich nach drei Tagen auf der Frankfurter Buchmesse zum letzten Mal den Norwegen-Pavillon betrat und schließlich verließ. Dabei habe ich mir den Raum für den Auftritt des Gastlandes ganz anders vorgestellt. Mit viel Holz und irgendwie gemütlicher. Vielmehr sah ich einen weiten, hellen, grenzenlosen Raum mit Spiegeln zu beiden Seiten und mehreren Stationen, mit großformatigen Fotografien eines nordischen Waldes des Fotografen Per Berntsen und einer großen Bühne nebst Zuschauerraum, dahinter gab es mehrere lange Bücherborde und ein großes, verfallenes Boot, Wittgenstein’s Boot, eine Installation der Künstlerin Marianne Heske. Wann immer es mir der Terminkalender zwischen Verlagsbesuchen und Bloggertreffen ermöglichte, zog es mich zum Norwegen-Pavillon, in dem ich Gespräche und Lesungen verfolgte. Ich hätte einen riesigen Koffer mit meinen Büchern norwegischer Autoren mitnehmen können, um sie mir signieren zu lassen.

Viele waren nach Frankfurt genommen, sowohl berühmte Schriftsteller als auch Autoren, die es in Deutschland noch zu entdecken gilt. Ich hörte Jon Fosse, Karl Ove Knausgård, Erik Fosnes Hansen, Roy Jacobsen, Lars Saabye Christensen, Monica Kristensen, Erling Kagge, Lars Mytting, Agnes Ravatn, Hanne Ørstavik, Are Kalvø, Jørn Lier Horst und Bjørn Ousland über ihre Bücher und ihr Schreiben erzählen, Tomas Espedal sah ich beim Mittag auf der Agora, Ketil Bjørnstad am Bücherstand vor dem Pavillon, Johan Harstad im Pavillon und Simon Stranger lief mir ebenfalls über den Weg. Ich freute mich, wenn ich die norwegische Sprache hörte – von den Autoren, wenn sie Passagen ihrer Werke lasen, oder inmitten des Trubels von den Besuchern, die aus Norwegen nach Frankfurt gekommen waren. Ein Blick auf Kronprinzessin Mette-Marit und Kronprinz Haakon blieb mir leider verwehrt, es sei denn, sie saßen in jenen Autos mit getönten Scheiben, die am Mittwoch von einer Polizeieskorte begleitet wurden. Wie das skandinavische Land sich, seine vielfältige Kultur und die reiche Literaturszene vor und während der Buchmesse auf stets professionelle, sympathische und leidenschaftliche Art und Weise präsentiert hat, setzt wohl Maßstäbe für die nächsten Jahre. Neben Norla (Norwegian Literature Abroad) als Organisator des Gastland-Auftritts sollte auch den Übersetzern Respekt gebühren: 2018 und 2019 erschienen mehr als 500 Bücher in deutscher Übertragung. 

Und was geschieht nun, nachdem heute am letzten Messetag Norwegen als Gastland den Staffelstab an Kanada weitergegeben hat? Auf mich wartet ein großer Stapel an Romanen norwegischer Autoren, die ich lesen und besprechen möchte. Ich habe die Lektüre dieser Bücher einige Zeit vor mir hergeschoben. Also ob ich das Beste aufheben, ja in gewisser Weise hamstern möchte; dabei hoffe ich sehr, dass auch in den kommenden Jahren die norwegische Literatur hierzulande präsent sein wird und die jetzige Begeisterung für deren Vielfalt anhalten wird. Und ich werde ganz sicher das Land bald wieder besuchen, werde mir Konzerte und Ausstellungen mit norwegischen Musikern Künstlern nicht entgehen lassen und möchte meine Au-Pair-Gasteltern und die mittlerweile erwachsenen Kinder wiedersehen. Womöglich gibt es auch wieder ein Familientreffen – auf Senja in Gibostad. Und wer weiß, vielleicht schließt sich eines Tages der Kreis.

Constanze Matthes

Constanze Matthes: 1977 in Großenhain/Sachsen geboren, seit der Kindheit verrückt nach Büchern und Geschichten, entdeckte in der Jugend das Schreiben. Studium der Germanistik, Kommunikations- und Medienwissenschaften sowie Theaterwissenschaft in Leipzig, dabei ein Auslandsaufenthalt in Norwegen und seitdem in dieses land verliebt. Erste journalistische Erfahrung als freie Journalistin für die Sächsische Zeitung gesammelt, heute unter anderem für das Naumburger Tageblatt/Mitteldeutsche Zeitung tätig. Auf ihrem Blog „Zeichen & Zeiten“ schreibt sie über Bücher, die sie ans Herz legt. Sie lebt und arbeitet in Naumburg/Saale. Constanze Matthes bei CrimeMag. Bei Twitter.

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