
Das Leben, angehalten
Ein Essay von Markus Pohlmeyer
I
„Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne.“[1]
II
Was löste die Lektüre des Romans „Das Tor“ [2] bei mir aus? 1. Ich musste an viele absurde, leidensvolle, lebenszeitvernichtende Erfahrungen mit Institutionen denken. Institutionen, die zum einen zweifellos entlastend und notwendig für das Leben in komplexen Gesellschaften sind, zum anderen aber auch immer wieder durch Psychopathen, Diktatoren, Schreibtischtäter etc. missbraucht werden können (Verbrechen, getarnt durch den Schein der Legalität). 2. Ich dachte an Kafkas „Vor dem Gesetz“: Die Erfahrung, nie eingelassen zu werden, das Leben vergebens zu verwarten, bis zur bitteren Erkenntnis am Schluss (siehe bitte unter III). 3. An konkrete Räume, die zu Nicht-Räumen werden. Paradox, irgendwie. 4. An „Ausnahmezustand“ von Giorgio Agamben.

Der Prätext dieses Romans wäre bei Kafka zu finden: „Gesucht wird: ein Bild, das Nähe und Ferne vereint, die abgründige Ferne dessen, was uns das Nächste scheint, und die provozierende Gegenwart des unerreichbaren, doch beinahe erreichbaren Fernen. Ein dialektisches Bild also, ein Denkbild. Kafka hat dieses Bild gefunden und intensiv genutzt, ein Bild von äußerster Schlichtheit und vermeintlicher Harmlosigkeit: Es ist die Tür und deren edler Abkömmling, das Tor.“[3] Worum geht es im dystopischen Post-Text? „Ein nicht näher benanntes Land im Nahen Osten: Seit den sogenannten ‚Schändlichen Ereignissen‘ wird die Bevölkerung massiv von der Regierung unterdrückt. […] Für alles brauchen die Bürger die Genehmigung des Staates, für die sie sich vor einem großen Tor anstellen müssen.“[4] Im Zentrum des Romans steht Yahya und sein Freundeskreis. Bei den sog. ‚Schändlichen Ereignissen‘ verletzt, benötigt er dringend eine Operation; denn die Kugel in seinem Körper könnte ein Beweis dafür sein, dass Regierungstruppen auf die Demonstranten/Revolutionäre geschossen haben. Nur dass es diese Ereignisse eigentlich nie so gegeben habe; oder dass sie von Ausländern initiiert worden seien; oder dass es sich nur um ein gigantisches Filmset gehandelt habe. (Er wäre lohnend, in der deutschen Übersetzung die Funktion der Konjunktive zu untersuchen, pardon: es ist lohnend.)
„Sie waren eines Morgens aufgewacht, und da hatte es sich vor ihnen manifestiert, ganz unvermittelt und ohne Vorwarnung […]. Dann wurde ein offizielles Statement herausgegeben, in dem die Kompetenzen und Befugnisse des Tors klargestellt wurden, die alles umfassten, was man sich nur vorstellen konnte.“[5] Die Schlange wird immer länger; verschlossen das Tor bleibt. Die Menschen – in ihren verschiedenen, teils dramatischen Lebenssituationen (z.B. kranke Kinder) und in Krisen (Fehlverhalten gegenüber dem Staat oder Suche um Absicherung der materiellen Existenz) – brauchen für immer mehr eine Bescheinigung des Tores, die aber irgendwie nie erteilt wird. So entsteht eine Art Freiluftgefängnis, ein Schwebezustand: die Wartenden richten sich fast häuslich an ihren jeweiligen Warteplätzen ein. Gerüchte wogen hin und her. Das Zentrum ihres Lebens ist schleichend, aber unaufhaltsam in das unsichtbare Lager vor dem Tor verlegt worden. Allgegenwärtig die Angst. Überwachung der Handys (die zudem auch noch als Geschenke verteilt werden). Eine im Dienste des Systems stehende Religion. Zerstörung von Meinungsfreiheit, Propaganda, Fake News[6] etc. Bürger und Bürgerinnen befinden sich von nun an im Ausnahmezustand. Das Tor kann alle Abweichler in diese Schwebe verdammen, eine Art Anhalten des Lebens, das es auszuhalten gilt, um die gewohnte Normalität fortführen zu dürfen und das gleichzeitig eben diese Fortführung des normalen Lebens dispensiert. Das Tor avanciert so zum architektonisch sichtbaren, konkret lokalisierbaren, aber auch allgegenwärtig-unsichtbaren Mittelpunkt des Daseins aller. In einem gewissen Sinne ist es totalitär bzw. das System, für welches das Tor allegorisch und buchstäblich-manifestiert steht.
Später gibt es einen Beschluss, der „[…] auf die Passanten ausgeweitet werden würde, sodass sie nur noch in Richtung Tor gehen könnten, aber nicht zurück.“[7] Und gegen Ende des Romans: „Als die Warteschlange immer länger wurde und sich in weit entfernte, fast menschenleere Gebiete ausweitete, wurde vom Tor ein Dekret erlassen, in dem die Errichtung einer Mauer um die Wartenden angekündigt wurde. Zu ihrem Schutz, wie es hieß, denn einige Leute hätten erwiesenermaßen versucht, die Lage auszunutzen und das Gefühl für Sicherheit und das Vertrauen der Menschen zu erschüttern und rechtschaffene Bürger zu indoktrinieren.“[8] Jetzt läge ein Verweis zur ehemaligen DDR nahe. Und mich beschlich nach dem Schluss des Romans die Ahnung, dass in dieser fiktiven Welt irgendwann die gesamte Bevölkerung vor diesem Tor stehen würde, und nicht nur wie bei Kafka exemplarisch ein Einzelner.
Amani, Yahyas Freundin, versucht – eine verzweifelte Tat –, in einem Militärkrankenhaus an die (verschwundenen) Röntgenbilder von ihrem Freund zu gelangen. Entdeckt und gefangen genommen, wird sie einer merkwürdigen Folter unterworfen, einer Art Annihilation, Zu-Nichts-Machung: „Nichts … Absolut nichts. Nein, man hatte ihr die Augen nicht verbunden, aber sie sah nichts, alles war schwarz. Sie streckte die Hände ein Stück nach vorn, hörte kein Geräusch, fand nichts, was sie mit den Händen hätte berühren können. Keine Mauern … Keine Pfeiler … Kein Gitter … Nichts.“[9] „Sie wünschte sich, geschlagen zu werden. Sie sagte, sie sei bereit für die Folter. […] Vielleicht war sie wirklich nichts, vielleicht hatte sie niemals existiert … Sie würde hier zerfließen … sich ganz langsam auflösen, bis sie am Ende war und zu nichts würde … Das war der Beginn des materiellen Verschwindens.“[10] Die seelischen Folgen dieser Nichts-Erfahrung werden schlimmer sein als die körperlichen: „Es wurde behauptet, dass über einen langen Zeitraum auf dem großen Platz ein gigantisches Filmprojekt durchgeführt worden war, und um den Dreh so natürlich wie möglich zu gestalten, habe man auf Wunsch der beteiligten Produktionsländer Kameras und Filmausrüstung vor den Menschen verborgen. […] Dieses Projekt sei der Grund gewesen, warum manche Menschen geglaubt hätten, es hätte Kugeln, Bomben, Gas und Rauch gegeben, dabei hatte es sich lediglich um den Einsatz von Spezialeffekten gehandelt. […] Amani war erleichtert […] und versuchte Yahya davon zu überzeugen, dass die Kugel, die seinen Körper durchbohrt und sich in seinem Becken festgesetzt hatte, fiktiv sei.“[11] Yahya sollte die rettende Operation nicht erhalten, sondern wird letztlich versterben, wie aus einer Aktennotiz zu erschließen: „‘Yahya Gad al-Rabb Said verbrachte hundertvierzehn Nächte seines Lebens in der Warteschlange.‘“[12]

Ausnahmezustand wäre hier: auch die Kontrolle über Realität und Fiktion, über eine sachgemäße Aufarbeitung historischer Ereignisse einerseits und Geschichtsfälschung andererseits. Das Tor zwingt die Bevölkerung in eine endlose Warteschleife. Der Alltag verschwindet, der Ausnahmezustand wird alltäglich. „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“[13] Von diesem berühmten Zitat ausgehend, entwickelt Giorgio Agamben seine Untersuchung: „Außerhalb der Rechtsordnung zu stehen und doch zu ihr zu gehören: das ist die topologische Struktur des Ausnahmezustands, und insofern der Souverän, der über die Ausnahme entscheidet, in seinem Sein durch diese Struktur logisch bestimmt ist, kann er auch durch das Oxymoron einer Ekstase-Zugehörigkeit charakterisiert werden.“[14] Aber wer der Souverän in diesem Roman sei, scheint nicht ganz klar; es ist eher eine Entzogenheit, deren Präsenz sich durch das Tor vermittelt: Amani „[…] war absolut nicht davon überzeugt, dass die Unabhängigkeit, die sie angeblich selbst lebte, in Wahrheit nichts anderes war als eine Vereinbarung, Teil eines Systems, das das Netz der Beziehungen und Gegensätze vervollständigte. Das Tor selbst war der ureigentliche Teil dieses Netzwerkes, obwohl es den Anschein hatte, als hielte es die Fäden von außen in der Hand.“[15] Das passt genau zu Agambens Charakterisierung einer „Ekstase-Zugehörigkeit“.
III
„‘Alle streben doch nach dem Gesetz‘, sagt der Mann, ‚wieso kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?‘ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er ihn an: ‚Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‘“[16]
- Basma Abdel Aziz: Das Tor. Aus d. Arabischen von Larissa Bender. Heyne Verlag, München 2020.Klappenbroschur, 288 Seiten, 14,99 Euro.
- Giorgio Agamben: Ausnahmezustand – Homo sacer II.1 (Stato di eccezione, 2003). Aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll. Edition Suhrkamp, Frankfurt/ Berlin 2004. 128 Seiten, 12 Euro.
Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Seine Texte bei uns auf CulturMag hier.
[1] F. Kafka: Vor dem Gesetz, in: Ders.: Sämtliche Werke, m. e. Nachwort v. P. Höfle, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2013, 853.
[2] Auf die literarische Qualität kann ich hier nicht eingehen, weil mir auch ein Vergleich mit dem arabischen Original kaum möglich ist.
[3] R. Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt am Main 2008, 110.
[4] Klappentext von Basma Abdel Aziz: Das Tor. Roman, aus d. Arabischen übers. v. L. Bender, München 2020.
[5] Das Tor (s. Anm. 4), 43 f.
[6] Siehe dazu auch (sehr empfehlenswert) R. Jaster – D. Lanius: Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen, Stuttgart 2019.
[7] Das Tor (s. Anm. 4), 95.
[8] Das Tor (s. Anm. 4), 276.
[9] Das Tor (s. Anm. 4), 202.
[10] Das Tor (s. Anm. 4), 204.
[11] Das Tor (s. Anm. 4), 277 f.
[12] Das Tor (s. Anm. 4), 283.
[13] C. Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 8. Aufl., Berlin 2004 (1. Aufl.: 1922), 13.
[14] G. Agamben: Ausnahmezustand (Homo sacer II.I), übers. v. U. Müller-Schöll, Frankfurt am Main 2004, 45.
[15] Das Tor (s. Anm. 4), 234 f.
[16] Kafka: Gesetz (s. Anm. 1), 854. Siehe dazu auch R. Stach: Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, Frankfurt am Main 2008, 136: „Die Legende VOR DEM GESETZ, das Kernstück des PROCESS-Romans, wurde im Herbst 1915 in der zionistischen Selbstwehr erstmals abgedruckt […].“