Geschrieben am 1. Juli 2020 von für Crimemag, CrimeMag Juli 2020

Digitale Lehre – ein Plädoyer aus der Praxis

Digitale Paradiese und analoge Steinzeit – oder doch eher umgekehrt?

Ein Essay von Markus Pohlmeyer

Analog und-oder digital? Weder sollte die Rückkehr zu einer analogen Lehre als anti-modern abqualifiziert werden noch wäre digitale Lehre als die (Er)Lösung schlechthin zu preisen. Vorab: Digitale Lehre bleibt das Gebot der Stunde, wenn weiter die Gesundheit der Lehrenden und Studierenden in der Corona-Krise[1] geschützt werden muss. Digitale Lehre wird so zu einem wichtigen Hilfsmittel, damit Universität nicht gänzlich verschwindet. 

Im Folgenden kann ich nur aus meiner Perspektive schreiben, begrenzt und irrtumsanfällig. Meine Erfahrungen zeigten aber: Unser kleines Fach der Katholischen Theologie lebt intensiv von Dialog und Nähe. Die kleinen Gruppengrößen ermöglichen eine gute Betreuungssituation. Und keine/r kann sich in einem Seminar verstecken; und auch ich bekomme (charmant und oft sehr, sehr ehrlich) gespiegelt, wenn ich da vorne in unbekannte Galaxien abdrifte, die noch nie zuvor ein Student, eine Studentin entdeckt hat. (Meine Aufgabe ist es dann, das entsprechende Raumschiff für mein Seminar zu bauen.) Oder ich wandle hochvorbereitet in einen Kurs … und muss feststellen: die Basis fehlt. Also die Notbremse ziehen. Und neu anfangen. Diese Freiheit und Flexibilität muss sein. 

Nach einer gewissen Beobachtungszeit wünsche ich mir einen echten Dialog über die Vor- und Nachteile von digitaler Lehre, und nicht nur irgendwelche (ideologiekonformen) Quantifizierungen und Statistiken – am besten, und d.h. im schlimmsten Falle, mit der Vorstellung, man könne doch Lehrpersonal einsparen, wenn genügend digitale Konserven zur Verfügung stünden. Welche Konzepte von Lernen und Bildung wären das? Und wie würde z.B. Fremdsprachenunterricht unter diesen neuen Bedingungen gelingen können? Ach so, das Fremde:

„Denn was Bildung eigentlich tut, hat nicht in erster Linie mit Beruf und Leistung und Erfolg zu tun. Es ist viel fundamentaler, einfacher und menschlicher: Bildung lehrt uns sehen. Sie bricht die Enge unserer Routine und Beschränktheit auf, sie erweitert unser Einfühlungsvermögen und unsere moralische Phantasie.“[2]

Um es vorweg zu sagen: ich plädiere für eine Mischform, für eine Kombination der Stärken beider Formate und für einen kritischen Umgang mit den jeweiligen Schwächen. Ja, ich mag meine Tafel: keinen Akku laden; kein Update blockiert; oh, das Kabel passt nicht; und der Beamer ist kaputt. Auch wenn meine Tafelbilder bisweilen von einem anfänglich klaren römischen Stil wegrutschen hin zu etwas Jackson Pollock-Mäßigem. Es lebe die Kinästhetik! Eine Digitale Lehre setzt ferner eine entsprechende Ausrüstung und Fortbildung von Seiten der Arbeitgeber und Ausbildungsstätten voraus (und nicht ein zynisches Macht-mal-und-kauft-euch-selbst-das-Zeug.)[3] Hinzukommen zudem Mehrfachbelastungen – je nach Berufs-, Familien- und Wohnsituation. Auch Studenten und Studentinnen sollte um der Fairness und Gleichbehandlung willen entsprechend medial ausgestattet werden, dabei auch konkret finanzielle Hilfen bekommen, um an den universitären Veranstaltungen und Prüfungen angemessen partizipieren zu können. (Das wären sehr gute Investitionen in die Zukunft.)  

Vieles in einem analogen Unterricht entzieht sich einer Quantifizierbarkeit: das Ausbilden einer Lehrpersönlichkeit, das Informelle, das Unvorhergesehene, die spontane Nicht-Planbarkeit eines Seminarverlaufes, wo am Ende eine Wow-Erkenntnis oder ein Aha-Erlebnis stehen können, Humor, Ironie, Fröhlichkeit, aber auch Platz für Trauer und Scheitern, kurz: Wir sind Menschen, in all unserer Körperlichkeit – von der Stimme bis zur Non-verbalen-Kommunikation. Wir sind Persönlichkeiten: In einem Seminar begegnen und reiben sich diese viele unterschiedlichen Persönlichkeiten, aber auf einem gemeinsamen Weg. Wir sind unsere Geschichten: Wir müssen erzählen können, über uns und über wissenschaftliche Inhalte, die begeistern, umtreiben, faszinieren und herausfordern, um andere in diese Geschichten zu verstricken, als Angebot (zum erweiterten Sehen) und in aller kritischen Freiheit. (Warum sind gerade große Werke der Philosophie, wie z.B. von Platon oder Cicero, in dialogischer Form gehalten?) Dazu auch der Physiker und Nobelpreisträger R. P. Feynman:

„Ich glaube jedoch […], daß der beste Lehrerfolg erzielt wird, wenn eine direkte, persönliche Beziehung zwischen dem Studenten und einem guten Lehrer besteht – ein Zustand, bei dem der Student die Ideen diskutiert, über die Dinge nachdenkt und darüber spricht. Es ist unmöglich, sehr viel zu lernen, wenn man nur in einer Vorlesung sitzt oder selbst wenn man einfach gestellte Aufgaben löst.“[4]

Was ist Universität ihrem Wesen nach? universitas: „1208 verwendete Papst Innozenz III. diese Bezeichnung in einem Privileg, das ‚allen Gelehrten der Heiligen Schrift, der Dekrete und der Freien Künste’ (‚universis doctoribus sacre pagine, decretorum et liberalium artium’) zu Paris die Anerkennung als ‚universitas’ (‚Gemeinschaft’) zugestand.“[5]Und ich bekam in den letzten Wochen den Eindruck, genau das vermissen unsere Studenten und Studentinnen, dieses Gemeinschaftsgefühl im privaten Miteinander wie auch im wissenschaftlichen Austausch. Studium: bei allen Schwierigkeiten und Herausforderungen eine wunderbare Lebensphase.

Und die aktuell noch schwierigeren Bibliothekssituationen (wie auch die bisweilen nicht sehr großen finanziellen Möglichkeiten von Studenten und Studentinnen – gerade, wenn sie ihre Minijobs verloren haben) lassen die imaginativen Multiversen des Erlebnisses ‚Buch‘ noch mehr zusammenschrumpfen. Real ist, was im Internet steht? Ungeprüft wahr? (Muss ja wichtig, richtig sein, weil’s im Internet steht – oder?) Willkommen in Echokammern und digitalen Blasen?[6] Bitte, es geht mir nicht um einen Abschied vom Internet, sondern um einen kritischen Umgang damit. (Ich brauche hier nicht extra auf Hass-Kommentare und Populismus hinzuweisen.)

Natürlich wäre eine Turbodigitalisierung[7] gleichfalls ein lohnendes Thema für trans- und posthumanistischen Meditationen. (PS: Eines meiner Forschungsgebiete ist Science Fiction und Religion. Und ich genieße es, für CulturMag schreiben zu dürfen.) Oder geht es doch wieder um Machbarkeitsphantasien, um den durch Corona drohenden Kontroll- und Planbarkeitsverlust zu kompensieren? Die Angst vor unserer Vergänglichkeit kaschieren durch mediale Spielereien, wo wir in virtuellen Königreichen per Mausklick Kontingenz und Zufall austricksen? Die Frage bleibt: Rückt jetzt nicht noch mehr die technisch-mediale Zurüstung in den Vordergrund – anstelle der Themen, Diskurse und Diskussionen? (Das erinnert mich an viele jüngere Science Fiction-Filme, in denen das tricktechnisch Machbare den Plot und die schauspielerische Leistung zu überrollen droht.)

Einen Seminarraum zu betreten, das ist immer noch etwas Besonderes: wir versammeln uns an einem bestimmten Ort zu einer Zeit, die dafür reserviert wurde. Nun erlebe ich im privaten Bereich oft Folgendes: Der eine Laptop hat sich dazu durchgerungen, zu funktionieren (der andere nicht), und möchte unbedingt, dass ich Mails beantworte. Dann schreien gleichzeitig das Festnetz und mein Handy und im Hintergrund piepst gebieterisch der Trockner. Ein Akku bettelt um Strom, die neuen Updates b(l)ock(ier)en, Druckerpatrone leeeer (Umpf). Ist alles nötig, aber zu seiner Zeit. Wenn ich lesen und schreiben möchte, muss ich im wahrsten Sinne des Wortes abschalten: die Technikwelt möglichst reduzieren, da ich um meine begrenzten Multitasking-Fähigkeiten weiß. Und ich möchte auch Bücher und Themen würdigen können – oder auch klassische Musikstücke oder phantastische Hörbücher; sie verdienen diese, meine Aufmerksamkeit. Und ich muss auch mir meine Zeit zugestehen, um zu verstehen. Das kann manchmal sogar Jahre dauern. Es geht nicht um irgendein Nebenbei, das ich mir einfach reinziehe. Sonst wird irgendwann alles nur noch nebenbei. 

Digital ist nicht gleich modern; modern ist, wie wir damit umgehen – und da kann analog auch ganz schön modern sein. Und ein gutes Gegenmittel gegen Corona? Forschung – und das hat doch etwas mit Universitäten zu tun (zumindest, bevor sie meiner Meinung nach durch den Bologna-Prozess zerstört, ökonomisiert, quantifiziert, modularisiert wurden). Forschung: Das ist die einsame Leistung wie auch die gelingende (internationale) Vernetzung; das ist Monolog, der zum Dialog führt (und auch umgekehrt); das ist Aufbruch und Wagnis – auch mit der Gefahr des Scheiterns und des Irrtums. Na wenn schon, korrigieren, neu anfangen …; und vor allem Freiheit von jeglichen Ideologien. Diese Freiheit gilt es, ständig zu verteidigen, sonst würden wir immer noch auf einer Scheibe leben, hielten die Sterne für Lagerfeuer, Atome für lustige Kugeln, hätten keine Demokratien und keine … digitale Lehre. 

Epilog

Eine kleine Geschichte – eine Science Fiction-Geschichte, das klingt fast schon überholt – von Isaac Asimov, die so beginnt: „Margie schrieb es am Abend sogar in ihr Tagebuch. Auf die Seite mit der Titelzeile 17. Mai 2157 schrieb sie: ‚Heute hat Tommy ein richtiges Buch gefunden!‘“[8] Eine kleine Geschichte, die so endet: „Sie dachte an die alten Schulen zu der Zeit, als der Großvater ihres Großvaters ein kleiner Junge gewesen war. Alle Kinder aus der Nachbarschaft kamen dort lachend und schreiend im Schulhof zusammen, saßen miteinander im Klassenzimmer und gingen nach dem Unterricht zusammen nach Hause. Sie lernten dieselben Aufgaben, damit sie einander bei der Hausarbeit helfen und darüber sprechen konnten. Und die Lehrer waren Leute … Auf dem Bildschirm des mechanischen Lehrers erschienen die Worte: ‚Wenn wir die Brüche ½ und ¼ addieren wollen …‘ Margie mußte daran denken, wie glücklich die Kinder in den alten Tagen gewesen sein mußten. Wie schön sie es gehabt hatten.“[9]

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg.
Seine Texte bei CulturMag.


[1] Siehe dazu N. Mukerji – A. Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit, 2. Aufl., Stuttgart 2020, z.B. 41 f.: „Wie lassen sich die Urteilsfehler der Behörden und der Politik in Deutschland erklären? Wer diese Frage seriös und ohne Rückgriff auf Verschwörungstheorien beantworten will, kommt an der folgenden explanatorischen Heuristik, die als ‚Hanlons Rasiermesser‘ bekannt ist, nicht vorbei: ‚Schreibe niemals der Bösartigkeit zu, was durch Dummheit angemessen erklärt wird.‘ ‚Dummheit‘ meint hier nicht etwa einen niedrigen Intelligenzquotienten oder mangelndes Wissen, sondern verbreitete Denkfehler, die in der psychologischen Forschung mittlerweile ausführlich dokumentiert sind.“   

[2] J. Roß: Bildung als „Ausdehnung unserer Sympathien“, in Forschung & Lehre 6/20, 481. Stichwort „Sympathie“ – die Fähigkeit des Mit-Leidens: siehe bitte dazu beispielsweise die sprachlos machende Schilderung der Pest in Athen (die auch katastrophale moralische Auswirkungen zeigen sollte) von Thukydides: Der Peloponnesische Krieg. Auswahl, übers. v. H. Vretska – W. Rinner. Nachwort v. H. Flashar, Stuttgart 2005. 

[3] Und auch datenschutzrechtliche Fragen müssen geklärt werden.

[4] R. P. Feynman: Vorlesungen über Physik, Bd. I, hg. v. R. P. Feynman, R. B. Leighton, M. Sands, übers. v. H. Köhler u. E. Schröder. 3. Aufl., München – Wien 1997, 4.

[5] H.-A. Koch: Die Universität. Geschichte einer europäischen Institution, Darmstadt 2008, 27.

[6] Siehe dazu R. Jaster – D. Lanius: Die Wahrheit schafft sich ab. Wie Fake News Politik machen, Stuttgart 2019.

[7] Gewissermaßen als Kontrapunkt: G. Zurstiege: Taktiken der Entnetzung. Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter, Berlin 2019.

[8] I. Asimov: Die Schule (1954), in: Ders.: Meine Freunde die Roboter. Erzählungen, Mit einem Vorwort v. G. Bear, (versch. Übersetzer), 3. Aufl., München 2006, 420-424, hier 420. 

[9] Asimov: Schule (s. Anm. 8), 423 f. 

Tags :