Todesstrafe im Serienformat
– Über die Tradition und die Möglichkeiten, ein prekäres Thema umzusetzen … Von Anna Veronica Wutschel
Entscheidet der Staat im Namen der Gerechtigkeit in letzter Instanz über Tod und Leben, erregt dies immer wieder die Gemüter. Gilt doch die Todesstrafe für viele als inhuman, sodass vor allem in dem westlichen Industriestaat USA, der immerhin zu den fünf Nationen weltweit gehört, in denen die meisten Exekutionen stattfinden, diesbezüglich öffentlich und unerbittlich heftig diskutiert wird. Doch obwohl gerade in den letzten Monaten, da die Europäer die für die Hinrichtungen üblichen Barbiturate nicht mehr lieferten, einige der todbringenden Giftcocktails bei den Verurteilten zu langen Todeskämpfen und zu barbarischem Morden führten, scheint, davon unbeeindruckt, immer noch eine beachtliche Mehrheit der Amerikaner von Hinrichtungen im Namen des Volkes als probates Strafmaß überzeugt. Und das, obgleich selbst Todesstrafenbefürworter zuweilen einräumen müssen, dass eklatante Verfahrensfehler wie auch Rassismus innerhalb der polizeilichen Ermittlungsbehörden wie auch im Justizbetrieb gar nicht so selten zu verheerenden Fehlurteilen führen. Studien belegen, dass bis zu 4 % der zum Tode Verurteilten zu Unrecht im Todestrakt sitzen.
Kein Wunder, dass dieses Thema in seiner vielschichtigen Brisanz von Beginn der Filmgeschichte Stoff für großes Kino lieferte. „Die 12 Geschworenen“, „Dead Man Walking“, „The Green Mile“ sind nur drei Titel einer langen Liste von Filmen, die jedoch fast jedem Zuschauer, auch wenn er kein begeisterter Cineast sein sollte, geläufig sind. Letzterer wird indes unweigerlich an „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ von Fritz Lang (siehe dazu Jon J Muths Graphik Novel bei CrimeMag) denken. Und dieses epochale Werk ist vor allem, neben seiner Serienmörder-Thriller-Handlung, eine tief greifende Sozialstudie, die durch filmische Kunstmittel, durch die Virtuosität der Inszenierung eine ganze Gesellschaft seziert.
Sicherlich, niemand will die von Oscar-Preisträger Ray McKinnon erschaffene Serie „Rectify“ mit dem Fritz-Lang-Klassiker vergleichen, doch darf es auch nicht als unzulässig gelten, das Gesehene in eine Tradition einzubinden. Schließlich, betrachtet man den aktuell anhaltenden Serienboom, war es lediglich eine Frage der Zeit, bis das Thema Todesstrafe in das Serienformat übernommen wird.
Danach …
„Rectify“ nun beginnt mit einem feinen Kunstgriff und stellt weder das Verbrechen selbst noch die Gerichtsverhandlung in den Mittelpunkt des Geschehens. Stattdessen lernen wir Daniel Holden (Aden Young), den vermeintlichen Mörder eines jungen Mädchens, kennen, als er gerade aus dem Todestrakt entlassen wird. 19 Jahre, praktisch die Hälfte seines Lebens, wartete er dort auf seine Hinrichtung, denn er wurde als 18-Jähriger schuldig befunden seine damalige Freundin Hanna Dean sexuell missbraucht und ermordet zu haben. Völlig verstört, high vom Pilzkonsum, wurde er neben der Leiche gefunden und gestand später die Tat. Nun hat jedoch neu ausgewertetes DNA-Material ergeben, dass damals nicht Daniels Spermaspuren, sondern die eines anderen Mannes an der Leiche gesichert wurden. Dies ist zunächst lediglich ein Verfahrensfehler, der Daniel nicht per definitionem von der Tat selbst freispricht, aber umgehend dazu führt, dass er aus dem Todestrakt entlassen werden muss.
Die erste Staffel der Serie verfolgt nun in sechs Episoden die ersten sechs Tage von Daniels neuem Leben in Freiheit, die sich in jeder Hinsicht als unvorhersehbare und komplexe Begegnung mit der Gesellschaft gestalten. Noch im Gefängnis trifft Daniel auf vorurteilsfreie, menschliche Hilfsbereitschaft, wenn ihm der Wärter nicht nur ein Getränk nach Wahl anbietet, ohne dass er darum bittet, sondern ihm auch noch die Krawatte knotet, wie er es macht, wenn er sonntags in die Kirche geht.
Doch bereits Daniels Familie, die ihn direkt darauf in Empfang nimmt, begegnet ihm mit größtem, allzu verständlichem Gefühlswirrwarr. Während seine impulsive kleine Schwester Amantha (Abigail Spencer) Daniel am liebsten mit Liebe überschütten würde und ihm in der neuen Freiheit fast wie ein Wärter aus nicht unberechtigter Sorge nachstellt, reagiert seine Mutter Janet (J. Smith Cameron) zwar herzlich, scheint aber innerlich wie paralysiert. Seine religiöse, konservativ unsichere, junge Schwägerin Tawney (Adelaide Clemens), zu der sich Daniel bald hingezogen fühlen wird, ist sich ihrer Empfindungen gänzlich ungewiss. Vor allem da ihr Mann Ted Jr. (famos unsympathisch: Clayne Crawford), Daniels Stiefbruder, der das Familienunternehmen gern übernehmen möchte, über die Rückkehr des verlorenen Sohns in den Schoß der Familie nicht wirklich glücklich ist.
Small town America
Einerseits ist er sich nicht sicher, ob Daniel nicht eventuell doch der Täter sein könnte, andererseits sorgt er sich, aus nachvollziehbaren Gründen, um geschäftliche Einbußen. Denn in der Kleinstadt Paulie im Bundesstaat Georgia will nicht nur der inzwischen zum Senator gewählte einstige Staatsanwalt, der Daniel damals hinter Gitter brachte, diesen umgehend dort wieder sehen. Schließlich möchte er demnächst wiedergewählt werden und ein dunkler Fleck, wie die Provokation eines Fehlurteils auf der reinen Weste, macht sich, politisch gesehen, niemals gut. Und auch die Polizei ist nicht glücklich, dass man ihre damaligen Ermittlungen mehr oder weniger indirekt in Frage stellt. Vor allem aber haben die Hinterbliebenen der ermordeten Hanna das Leid nach all den Jahren längst nicht verarbeitet, so dass die neuesten Entwicklungen die alten Wunden wieder aufreißen. Die Bewohner Paulies sind neugierig, bestürzt, empört, überfordert, die Gerüchteküche in der Stadt brodelt.
Rekonstruktion
„Rectify“ beginnt komplex und viel versprechend. In den ersten beiden Folgen eröffnet sich eine Vielzahl intelligent verlegter Handlungsstränge. Die Frage nach dem Hergang der Tat wie auch nach der Schuld scheinen ebenso spannend wie die, ob die Ermittlungsbehörden damals der Wahrheit entsprechend ermittelt haben, ob Erkenntnisse nicht einfach vertuscht wurden und auch weiterhin lieber verschwiegen werden sollen. Der andere weit verzweigte Strang ist die Geschichte von Daniel selbst, der sich nach langen Jahren, in denen er sein Leben abgeschrieben hatte, nun in einer neuen Realität zurechtfinden muss. Bei der Rekonstruktion des eigenen Ichs in einer ihm nahezu unbekannten Welt wird jede Begegnung mit einem Menschen, mit einem Objekt, jeder Moment der Empfindung zu einer nicht kalkulierbaren Herausforderung.
Analytisch betrachtet, verspricht „Rectify“ großartige Unterhaltung auf feinstem Niveau. McKinnon gibt sich hierbei sehr bemüht, der Introspektion seines (Anti-)Helden filmisch in poetischen Bildern, in langen, stillen, sehr durchkomponierten Sequenzen beizukommen. Zu diesem fast kontemplativen Erzählstil gesellen sich kurios kreative Traumsequenzen und Rückblenden, die das Leben der Häftlinge in winzigen, klinisch weißen Zellen darstellen. Überlebensstrategien in feindlicher Umgebung werden hier fein aufgezeichnet, wobei die Freiheit in diesem Fall ebenso verführerisch wie verwirrend und gefährlich erscheint. Daniel, der sich in den letzten Jahrzehnten seine Lebenserfahrung vornehmlich aus Büchern erlesen hat, ist ebenso überwältigt wie überfordert. Eben diese clever gebauten Betrachtungen von Realität, von einem Individuum im Ausnahmezustand, machen “Rectify” zu einer interessanten, anspruchsvollen Serie.
Kontrollierte Stasis
Was die LA-Times jedoch als hypnotisierend beschreibt, verharrt im Verlauf der ersten Staffel in einem dicht gesponnenen Kokon des Leidens, in einer distanzierten Stasis, die sich in nichts eröffnet, die sich zu nichts entwickelt. Aden Youngs Darstellung des emotionalen Schockzustandes seiner Figur beschränkt sich fast ausschließlich auf eine versteinerte Mimik sowie langsame und sehr eckige Bewegungsabläufe, was lediglich den kompakten Unterbau von Stillstand verstärkt. Gerade hier aber könnte künstlerisch das Spannungsmoment liegen, in der Friktion von Bewegung, von Handlungsfluss an dem Verharren, wenn Geschehen auf Stagnation stößt, das Alltägliche sich mit dem Überwältigenden überschneidet. Doch die Inszenierung von „Rectify“ wirkt trotz aller eingeführten Möglichkeiten letztlich fast ideenlos und verläuft sich ins Leere. Seit Anfang November bereits strahlt Sky die zweite Staffel aus und der Zuschauer ist tatsächlich gespannt, ob die so clever angelegte Story nun doch noch erzählt wird.
Anna Veronica Wutschel
Rectify. 3 DVDs. Studio: Edel Motion. Laufzeit: 261 Minuten. Darsteller: Aden Young, Abigail Spencer, Clayne Crawford u. a. Regie: Keith Gordon, Nicole Kassell, Jim McKay u. a. Erscheinungstermin: 17.10.2014. Sprache: Deutsch, Englisch. Audio: Dolby Digital 5.1. Preis: 24,99 Euro. Den Blog von Anna Veronica Wutschel finden Sie hier.