Geschrieben am 27. Juni 2009 von für Comic, Crimemag

Jon J Muth: M.

M – Ein Comic sucht seinen Roman

Jon J Muth hat Fritz Langs Filmklassiker von 1931, M – Eine Stadt sucht einen Mörder, in eine graphic novel transformiert. Das ist eine kühne Idee und verspricht schöne Effekte für die Wahrnehmung beider Künste. Thomas Wörtche hat sich das Projekt genauer angesehen.

Fritz Lang (gest. 1976) habe, so erzählt Frieda Grafe, während seiner ersten Jahre in den USA regelmäßig Comics gelesen, um die amerikanische Psyche verstehen zu lernen. Vermutlich hat der amerikanische Kinderbuchautor und -illustrator, Comic-Zeichner und -Szenarist Jon J. Muth (geb. 1960) seinerseits eine Menge deutscher Filme irgendwo zwischen Caligari und Hitler angeschaut, um ein Feeling für die Machart des frühen Mediums Kino zu bekommen. Bevor Muth sich 1993 an einer Comic-Variante von Dracula (in Anlehnung an Murnaus Symphonie des Grauens als A Symphony in Moonlight) versucht hat, überraschte er 1990 mit einer vierteiligen Comic-Verarbeitung von Langs erstem deutschen Tonfilm: M – Eine Stadt sucht einen Mörder.

Cross Cult hat diese vier Episoden nun zu einem Prachtband versammelt, sorgfältig produziert und mit einem langen Essay von Georg Seeßlen, einem Nachwort von Muth selbst und mit einem weiteren umfänglichen Nachwort von Jochen Ecke ausgestattet. Diese Sorgfalt ist vorbildlich; so respektvoll und pfleglich sollte man mit Kunstwerken umgehen.

Auslegungsbedarf

Muths Projekt selbst ist in der Tat auch erklärungs- und auslegungsbedürftig. Denn die Fritz-Lang-Bearbeitung funktioniert so, dass Muth in der Storyline hauptsächlich dem Film vom 1931 folgt, manchmal ganz dicht, manchmal mit Abweichungen und einzelnen Interpolationen. Ästhetisch dominant ist dabei die Technik: Muth benutzt nicht etwa Film-Stills der Vorlage, sondern lässt einzelne Passagen und Figuren von lebenden Menschen nachspielen, fotografiert sie ab, übermalt, verwischt und verfremdet diese Bilder dann zu den einzelnen Panels des Comics. Runtergetuschter Fotorealismus, der sich entlang einer narrativen Filmstruktur hangelt, könnte man sagen. Gehalten in unzählig feinen Abstufungen von Grau- bis Sepia-Werten, punktiert nur ganz gezielt durch ein paar hochsignifikante Farbeffekte. Auch wenn man die Technik der verwischten, übertuschten, verfremdeten Fotos schon von Alberto Breccias Perramus-Projekt kannte, so war doch Muths Konzept Anfang der 1990er-Jahre aufsehenerregend. Auch die kühle geometrische Anordnung der Panels zu Seiten, die ruhige „Kameraführung“, die eher expressionistische denn neu-sachliche Licht/Schatten-Behandlung, all das trägt zu einem ersten, ästhetisch bestechenden optischen Eindruck bei. Einzelbilder, wie das einer Straßenhure vor einer fahl leuchtenden Laterne, oder ein nettes (wenn auch im Kontext nächtlicher Großstädte schon fast obligatorisches, ja beinahe inflationäres) Hopper’sches Nighthawks-Zitat, haben jederzeit als singuläre ästhetische Objekte Bestand.

Die Universalstadt?

Diese Faszination hält zumindest solange an, bis man anfängt, ein paar Fragen zu stellen wie etwa: Warum entkontextualisiert Muth Ort und Zeit der Handlung von Langs Film? Der Comic spielt in einer Art universalen Großstadt, die definitiv nicht Berlin, nicht London, nicht New York oder Cincinatti (das Muth tatsächlich als Hintergrund diente) ist, aber von allen (und anderen mehr) vage erkennbare grafische Elemente aufweist. Auf der anderen Seite ist die Geschichte durch ein paar Plotelemente deutlich an Germany before the war (wie’s bei Randy Newman heißt) gebunden: Durch das Lied von Haarmann, der mit dem Hackebeilchen kommt, durch die Berliner „Ringvereine“ (und nicht „Ringorganisation“, wie’s einmal in einem Dialog heißt), die als Verbrecherorganisation präzise verortbar sind. Wiederum auf der anderen Seite gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass Muth seine Großstadt zu einer Art Gotham machen möchte, zu einem mythischen Welttheater oder sonst dergleichen. Die Signifikanz einer solchen Entkontextualisierung bleibt rätselhaft.

Ähnlich rätselhaft wie der Kunstgriff (oder: der Gag?), die aus der Filmgeschichte bekannten Gesichter (schließlich ist M einer der großen Klassiker der Filmhistorie, den man durchaus als global bekannt voraussetzen darf) von Peter Lorre, Gustav Gründgens & Co. durch Gesichter aus Muths persönlicher Umgebung zu ersetzen. Der Comic M von 1990 stellt also zunächst den Film M von 1931 nach, als ob’s die Schlacht von Waterloo wäre. „Reenactment“ ist eine genuin filmische Erzählstrategie, und dass der Comic hier eine filmische Strategie wählt, um einen Film in festen Bildern mit größerer Unmittelbarkeit zu „rekonstruieren“, als ob der Film selbst ein historisches Faktum wäre, ist eine hübsche Pointe.

Ein Mörder ist ein Mörder ist ein Mörder

Aber auch mehr? Denn was sollte „Unmittelbarkeit“ in einem solchen künstlerischen Ko-Text? Fritz Langs Behandlung seiner Themen „Serienmörder“, „Kindermörder“, „Mörderjagd“, „Gruppendynamik“ etc. ist ja schon Kino per se, d.h., die Organisation von bewegtem Bild und Ton mit sehr selektiven und höchst artifiziell arrangierten Realitätspartikeln. Das genaue Gegenteil dessen also, was ein historisch interessiertes „Reenactment“ zu leisten wünscht (wissenschaftstheoretisch ist es sowieso reiner Unfug, mittels Nachempfinden vergangene Realität „erfahrbar“ zu machen – ohne die sprach- und mentalitätsgeschichtlichen Differenzen zu bedenken, aber das nur nebenbei … „Reenactment“ ist ein Format moderner Massenmedien, nichts sonst).

Ähnlich ratlos kann man bei dem unterkomplexen Plot sein. Langs Film griff in der Agonie der Weimarer Republik zentral, wenn auch hochvermittelt, in eine Menge konkreter gesellschaftlicher Diskurse seiner Zeit ein. Ästhetische, moralische, ordnungspolitische, auf vielen Ebenen.

Muth universalisiert und entkontextualisiert. Wir schreiben eben nicht mehr 1931. Dass Staatsmacht und organisierte Kriminalität analog strukturiert sein können, hatte Hammett sogar schon 1929 in den USA, Brechts Dreigroschenoper (aus der sich Lang und seine Drehbuchautorin Thea von Harbou für M weidlich bedient haben) schon 1928 vorgeführt. Dass ein Kindermörder und -schänder Ziel des Volkszorn und Objekt von Lynchgelüsten ist, nun ja, in der Weimarer Republik standen solche Themen der „moral panic“ immer in Zusammenhang mit strafrechtlichen und ordnungspolitischen Diskussionen, die bekanntlich auf nichts Gutes hinausliefen. In Muths Version ist diese Komponente gar nicht erst virulent (glücklicherweise sogar?).

Bestie Mensch

Der reine action-hafte Thrill, ob und wie der Mörder Beckert zu fassen sei, kann bei Muth nicht ernsthaft eine Rolle gespielt haben. Und dass dann die Selbstbezichtigung „der Bestie“ als Mensch auch bei Muth pathetisch reproduziert wird – vor dem abrupten und jähen (kompromisslerischen) Ende, bei dem die Polizei letztlich doch regulierend eingreift und eine hämische Moral aufgesetzt wird (man sieht drei trauernde Mütter, darunter steht: „Man muss halt auf die Kleinen besser aufpassen“), auch das kann 1990 auch kaum irgendeinen „Sinn“ haben, der irgendwie darstellbar wäre.

Auch hier lohnt ein Blick auf die Kontexte: Die Serialkiller-Welle lief allmählich an, noch war das Schweigen der Lämmer nicht in den Kinos, noch war der Serialkiller als „Pop-Ikone“ noch nicht so deutlich herauspräpariert wie heute. Aber Muths M-Variation versicherte sich schon der Absicherung des Topos „Serialkiller“ im hochkulturellen Feld. Lang ist Cineasten-Stoff vom Feinsten. Das ist schon okay so. Comic und Film, Foto und Zeichnung sind multifaktoriell aufeinander bezogen. Das macht aber aus dem Film keinen Comic und den Comic nicht zum Film. Das postmoderne Experiment scheitert an der eigenen Artigkeit. Denn Muth folgt brav Fritz Langs Marschrichtung. Dessen timing, dessen Narration, dessen prinzipiellem Arrangement des Plots etc. Muth ist Langs Musterschüler, der sich ein paar nicht weiter aufregende eigene Seitenwege (Entkontextualisierung etc.) leistet, die aber nirgendwo hinführen, weil sie nichts riskieren. Keinen Exzess, keinen Choque, keine Bösartigkeit, keine Komik, keine Originalität. Und die deswegen schon gar nicht am hochkulturellen Status der ganzen Angelegenheit rütteln. So wie das zum Beispiel Matias Faldbakken (in dem arg geschmacklosen Roman Unfun) mit der Halluzination tut, Das Herz der Finsternis als in Paris spielendes Splattermovie neu zu lesen, zu inszenieren und zu transformieren.

Jon J. Muth hat allerdings brav einen brillanten Film in einen ordentlichen Comic mit ein paar Schauwerten transformiert.

Thomas Wörtche

Jon J Muth: M. (M, 2008) Graphic Novel. Nach dem Film ,,M – Eine Stadt sucht einen Mörder“.
Mit einem Essay von Georg Seeßlen, mit Nachworten des Autors und von Jochen Ecke.
Ludwigsburg: Cross Cult 2009. 208 Seiten. 25,00 Euro.