Geschrieben am 14. April 2018 von für Crimemag, CrimeMag April 2018

Essay: Markus Pohlmeyer über Stephen Hawking

haw3Nachdenken über Stephen Hawking und andere kosmische Träume(r) – Ein Essay.

„Wissenschaft ist das Beste, was wir haben! Sie ist die gemeinschaftliche Suche nach wahren, verlässlichen Erkenntnissen über die Welt einschließlich unserer selbst.“[1]

In einem Plädoyer für Wissenschaft und ihr angemessene Vermittlungsformen in Schule und Medien verweist Stephen Hawking (+ 2018) auf die Tatsache eines unaufhaltsamen technisch-wissenschaftlichen Fortschritts: „In einer demokratischen Gesellschaft heißt das, die Öffentlichkeit braucht wissenschaftliche Grundkenntnisse, die es ihr erlauben, fundierte Entscheidungen zu treffen, um sie nicht Fachleuten überlassen zu müssen.“[2] Oder Populisten, Demagogen, religiösen Fanatikern usw. Hawking redet gewiss nicht gegen Fachleute (sondern für Grundkenntnisse!); er ist selbst einer von ihnen, herausragend und begeisternd, dem es immer wieder gelang, in (populär)wissenschaftlichen Publikationen ein breites Publikum für die Geheimnisse und Wunder des Kosmos zu begeistern. Und er hat nie aufgegeben – trotz seiner schweren Krankheit![3] Moderne Computertechnik war ihm ein große Hilfe. Das Wunder sind nicht Götter, Dämonen oder Engel, das Wunder sind: Kunst und Naturwissenschaft. „Nicht anders als der unendliche Schildkrötenturm[4], auf dem die flache Erde ruht, ist auch die Superstringtheorie ein solches Weltbild. Wenn diese auch sehr viel mathematischer und genauer ist als der Schildkrötenturm, so sind sie beide doch nur Theorien des Universums. Beide sind sie durch Beobachtung nicht zu belegen […]. So haben wir die Aufgabe der Wissenschaft neu definiert: Es geht um die Entdeckung von Gesetzen, die es uns ermöglichen, Ereignisse innerhalb der Grenzen vorherzusagen, die uns die Unschärferelation setzt.“[5]

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Hawking wie Kierkegaard warnen uns davor, unsere Verantwortung an andere zu delegieren! Gewiss geht es keinesfalls darum, in allen Bereichen Spezialist werden zu können – das ist heute schlicht illusorisch (Berühmt sind ja jene Dicta, Goethe oder Leibniz wären die letzten Universalgenies gewesen.) und es wäre eine riesige Überforderung! Wenn uns Demokratie am Herzen und Verstand liegt, dann sind wir aber alle in der Pflicht, uns um unseres Gemeinwesens willen so-gut-es-geht zu informieren. Darum auch Platons und Ciceros ständiges Werben für die Philosophie als ein Gestaltungsmoment des Lebens, nämlich eines gerechten, reflektierten Miteinander-Leben-Könnens in der Polis oder Res Publica. Und was ist mit unserer allzu knappen Zeit? Vielleicht hätten wir sie mehr als ausreichend: „In Deutschland liegt die Mediennutzung von Neuntklässlern bei knapp 7,5 Stunden täglich, wie eine große Befragung von 43 5000 Schülern ergab. Das Nutzen von Handys und MP3-Playern ist dabei noch nicht mitberücksichtigt.“[6]

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Hawking begeisterte mich ähnlich wie Carl Sagan; dessen Fernsehserie „Unser Kosmos“ (1983) – mit einem Millionenpublikum – war für mich kleinen Schüler eine denkerische und ästhetische Offenbarung. Was Sagan erzählte – wie ein Dante, der durch das neue (uralte) Bauwerk des Universums führt –, wurde durch fantastische Bilder und Darstellungen (nach den damaligen Möglichkeiten) sichtbar, anschaulich. Stoff für Träume! Hier hörte ich auch zum ersten Mal von einem vedischen Schöpfungshymnus. Das klang in meinen Ohren exotisch: vedisch? Hymnus? Hinduismus? Uff … Ich hatte kaum die Konsequenzen aus der Relativitätstheorie in den Folgen davor verstanden … Und dann sollte dieses Universum, eines Gottes Traum, auch noch zyklisch sein? Und nur eines von vielen? Wow! Ein Gedicht, uralt, dessen Fragenkaskaden, woher denn die Welt komme, nie zu einem Ende gelangen. In der sechsten Strophe werden die Götter selbst zu einem Teil des Schöpfungsprozesses haw4deklariert/degradiert, d.h.: von ihnen können wir also keine Auskunft erhalten! –, bis sich doch endlich ein Wächter der Schöpfung zeigt, der es wisse!, nur um diese Sicherheit noch einmal weiter zu hinterfragen: „[…] oder ob er es nicht weiß?“[7] Hier endet der Hymnus; und unser Fragen scheint sich ins Unendliche fortzusetzen. Oder liegt hier schon der Keim eines wissenschaftlichen Zweifelns, in poetischer Form, das den Mut hat, sich mit schnellen, einfachen Antworten (aus der Religion) nicht zufriedengeben zu wollen?

Faszinierend auch Carlo Rovellis Sätze, die zeigen, wie in klarer, einfacher Sprache Tiefes, Wichtiges und sehr Irritierendes vermittelt werden kann: „Albert [Einstein; Anm. MP] las Kant und hörte zum Zeitvertreib Vorlesungen an der Universität von Pavia. Rein zum Vergnügen, ohne immatrikuliert zu sein und ohne Examina abzulegen. So wird man ein ernsthafter Wissenschaftler.“[8] Das wünsche ich so sehr unseren heutigen modularisiert-regulierten Studenten und Studentinnen unter der omnipräsenten Totaldiktatur des Ökonomischen, eben diese Freiheit, Welt und Wissenschaft wieder entdecken zu wollen, und zwar selbst, als je unverwechselbares Ich! Weiter, was bleibt von unserer alltäglichen, so vertraut flachen Erde übrig? Nehmen wir Elektronen: „Die «Quantensprünge» von einer Umlaufbahn zur anderen sind ihre einzige Form von Realität: Ein Elektron ist eine Gesamtheit von Sprüngen von icheiner Wechselwirkung zu einer anderen. Wenn niemand es stört, befindet es sich an keinem genauen Ort. Es befindet sich an gar keinem Ort.“[9] Das scheint mehr als unheimlich für unsere Primatenweltsicht und ein Wunder zugleich, dass wir so etwas beschreiben/berechnen können. Was ist Sprache, was Denken? „Es gibt nicht das «Ich» und «die Neuronen meines Gehirns». Es handelt sich um ein und dasselbe. Ein Lebewesen ist ein Prozess, komplex, aber fest integriert.“[10]

Rovelli, weit davon entfernt, naturwissenschaftliche Dogmen zu verkünden, lädt zu einer Reise ein: von der Relativitätstheorie über Loops bis zum Ich. Dies ist eine Geschichte von Geschichten, die sich korrigieren, ergänzen und vor allem: offen sind für neue Geschichten über diesen Kosmos, der – in aller Bescheidenheit und Beschränktheit, mit aller Tragik und Größe des Menschlichen – Ich sagen kann: jene Odyssee auf den Meeren zu den Sternen ist auch eine Odyssee auf den Meeren der Seele und zu den Sternen der Phantasie.

Mein Dank an Stephen Hawking, an einen großen Erzähler kosmischer Geschichten: Stoff zum Weiterträumen, zum Weiterforschen ermutigend!

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg

[1] M. Spitzer: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen, München 2012, 13.
[2] S. W. Hawking: Öffentliche Einstellungen zur Wissenschaft, in: Ders.: Ist alles vorherbestimmt? Sechs Essays, übers. v. H. Kober, Hamburg 1996, 105-112, hier 107.
[3] Meine Erfahrung mit ALS, in Hawking  (s. Anm. 2), 113-123.
[4] Eine Lieblingsanekdote von Hawking. Der unendliche Schildkrötenturm bricht aber unter der Aporie des infiniten Regresses (z.B. nach Aristoteles) logisch in sich zusammen.
[5] S. Hawking: Die illustrierte Kurze Geschichte der Zeit, übers. v. H. Kober, Hamburg 2000, 228 und 231.
[6] Spitzer: Demenz (s. Anm. 1), 11.
[7] Gedichte aus dem Rig-Veda, übers. v. P. Thieme, Stuttgart 1983, 67. (X, 129)
[8] C. Rovelli: Sieben kurze Lektionen über Physik, übers. v. S. Vagt, 3. Aufl., Hamburg 2016, 11.
[9] Rovelli: Lektionen (s. Anm. 8), 25.
[10] Rovelli: Lektionen (s. Anm. 8), 84.

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