Geschrieben am 2. Februar 2020 von für Crimemag, CrimeMag Februar 2020

Frank Göhre: Die untergründigen Jahre

Statt einer Rezension

Zur kollektiven Autobiografie ‚alternativer‘ Autoren aus den 1970ern und danach…

Wir sind der 15jährige Schüler als junger Dichter, 
wir sind der von konkreter Poesie begeisterte Abiturient,  
wir sind der Internats-Zögling, der Ballett-Eleve und der jugendliche Anarchist, der seine Wohnadresse in Ho-Chi-Minh-Pfad umbenannt hat.
Wir sind der Kunstkarten-Betrachter, die 13jährige Brillenschlange, 
der Programmierer bei Krupp, der Lehramtsanwärter, der Jura-Student 
und noch so einige andere.

Wir sind geboren und aufgewachsen in den Großen Städten und 
in der Provinz, auf dem flachen Land und in Weinbaugebieten.  Wir haben mehr Epochen an uns selbst erfahren als je  eine Generation vor uns. Wir haben noch das handwerklich-agrarische Zeitalter in seinen letzten Ausläufern mitbekommen, wurden in einer industriellen Welt groß und leben heute in der digitalen von Internet und social media (Manfred Bosch).

            Wir sind die Generation der jetzt über 70jährigen und wollten nie eine Neuauflage unserer Eltern sein. Wir hoffen, dass wir für unsere Kinder und Enkelkinder etwas anderes sind. 

Wir waren lese- und Erlebnishungrig. Wir haben Hemingway und Henry Miller gelesen, Camus und Sartre, Genet und Malaparte. Wir haben die Autoren der amerikanischen Beat-Genration gelesen und die Songs von Bob Dylan, Jim Morrison und Frank Zappa übersetzt. Wir waren in New York, San Francisco und LA und haben Hunderte von Underground Publikationen mit nach Hause gebracht. 

Wir waren in Indien und Nordafrika. Wir waren on the road in Europa und anderswo, tranken algerischen Fusel, kifften Schwarzen Afghane und schliefen am Strand und auf den  Dächern von Thophane. 

            Wir, das sind Manfred Ach, Wolfgang Bittner und Manfred Bosch, Michael Braun und Manfred Chobot, Daniel Dubbe, Heiner Egge, Peter Engel und Heiner Feldhoff, Ronald Glomb, Frank Göhre, Harald Gröhler und Friedemann Hahn, Manfred Hausin, Martin Jürgens, Benno Käsmayr und Michael Kellner, Barbara Maria Kloos, Fitzgerald Kusz, Helmut Loeven und Detlef Michelers, Alfred Miersch und Peter Salomon, Gerd Scherm und Christoph Schubert-Weller, Tiny Stricker, Ralf Thenior und Jürgen Theobaldy.

            Wir sind unterschiedliche Wege gegangen und sind uns längst nicht bei allem einig. Was uns aber verbindet ist die Liebe zur Literatur, die Lust und die Leidenschaft des Schreibens und des Produzierens. Wir haben Lyrik und Prosa geschrieben, im Straßenslang und in Mundart, Essays und Berichte, Pamphlet und Kampfschrift. Wir haben öffentlich gelesen, bei Demos und Blockaden, in Kellerlokalen und mit Jazz-Begleitung auf dem Markt. 

Wir haben unsere Publikationen selbst hergestellt, auf DIN-A4 Matrizen getippt oder mit Letraset und Comic-Bildchen als Druckvorlage gestaltet, 50 Blatt für 6 Mark (Benno Käsmayr). Es gab von Boa Vista bis Analle, von Saure Trauben bis zum Literarischen Arbeitsjournal, Gießkanne, Erker, Sprachlos Gasolin, Loose Blätter, Nebelhorn usw. (Heiner Egge) alles aus jedem Landstrich der Republik, zwischengelagert und vertrieben von Bibys Wintjes Literarischem Informationszentrum in Bottrop. Darüber kamen wir miteinander in Kontakt, tauschten uns aus, informierten uns – handschriftlich und zum Nachttarif auch telefonisch. Jeder war bei jedem willkommen, für eine Nacht oder auch mehr. Selbst Fremde wurde nicht abgewiesen. Es reichte zu sagen, die oder den (Szenetyp, Literat) kenne ich persönlich. 

            Wir waren die alternative Literaturszene, Großstadt-Freaks und Landkommunarden, Poeten und Anarchos, knall-links und mit Drogen gepuscht, rebellierend gegen das etablierte Verlagswesen, bestens vernetzt und mit wenig Kohle. Wir waren wild und wendig, wir waren clever und hatten auch Witz („Hütet Euch vor Henryk Broder, denn er trinkt nur Coca Cola!“ Jens Hagen).

Wir waren euphorisch, engagiert, dogmatisch und mitunter aber auch naiv.  

Aber wir  hatten alles in allem eine gute, eine verdammt gute Zeit. 

  • Die untergründigen Jahre. Die kollektive Autobiografie ‚alternativer‘ Autoren aus den 1970ern und danach… Band 1. Herausgegeben von Peter Engel und Günther Emig. Günther Emigs Literatur-Betrieb, 2020. 485 Seiten, 20 Euro.

Frank Göhre bei CulturMag/ CrimeMag. Im März 2020 erscheint bei CulturBooks sein neuer Roman Verdammte Liebe Amsterdam.

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