Un Flic
– Am 8. November wird [[Alain Delon]] – als Fabio Montale in der Verfilmung von [[Jean-Claude Izzo]]s Marseille Trilogie zu sehen – 76 Jahre alt. „Der eiskalte Engel“ spielte in Jean-Pierre Melvilles letzten Film „Un Flic“ als Polizist die Kehrseite des von Melville stilisierten Gangsters. Frank Göhre hat sich „Un Flic“ – zurzeit nur als Optimum Home Entertainment DVD in Französisch mit englischen Untertiteln – zum wiederholten Mal angesehen.
Der Wagen fährt die Champs-Élysées hinunter.
Es ist Nacht.
Das hat man oft in französischen Filmen.
Die Nacht bricht an. Nacht der Erfüllung. Die Nacht der Gehetzten. Die Nacht der Liebe. Die Nacht gehört uns. Die Nacht hat dunkle Schatten. Nacht über Paris. Wenn es Nacht wir in Paris.
Ein Filmkritiker betitelte seinen Essay über den französischen Unterweltfilm mit Westerner der Nacht.
Eine Nacht in Paris.
Der Kommissar sitzt am Steuer des Wagens.
Der Kommissar heißt Edouard Coleman. Es ist Alain Delon.
Alain Delon war von Anfang an anrüchig, lese ich in seiner Biografie.
Ein faszinierender Mann, gewiss, aber unsympathisch. Heißt es weiter.
Er hat [[Romy Schneider]] verführt. Unsere Sissy.
Er äußert sich gern provokant konservativ bis reaktionär.
Er vertrat die Auffassung, dass Frauen sich nicht die Rechte der Männer anzumaßen haben.
Er hat aus seiner Bisexualität nie einen Hehl gemacht.
Der italienische Regisseur [[Luchino Visconti]]war einer seiner Lover.
[[Burt Lancaster]] auch.
Ich liebe es, dass man mich liebt, sagte Delon einmal. So wie ich liebe, wenn ich liebe.
Liebt ein Kommissar? Ein Bulle?
Alain Delon in der Rolle des Kommissars Edouard Coleman sitzt am Steuer seines Wagens und fährt die Champs-Élysées hinunter.
Es ist Nacht in Paris.
Nuit sur la cité sollte der Film ursprünglich heißen. Nacht über der Stadt.
Ins Kino kam er unter dem Titel Un Flic. Der Chef.
Alain Delon in der Rolle des Edouard Coleman ist der Chef.
Le Samourai als Bulle.
Rollentausch.
Die Austauschbarkeit von Gangster und Polizei.
Die Gauner haben immer Sympathie für die Polizisten, und die Polizisten haben immer Sympathie für die Gauner. Sie üben dasselbe Gewerbe aus. Die einen existieren nur in Bezug auf die anderen.
Sagte [[Jean-Pierre Melville]].
Jean-Pierre Melville ist der Regisseur des Films.
Un Flic ist sein letzter Film. Er kam 1973 in die deutschen Kinos.
Am 2. August 1973 ist Jean-Pierre Melville in Paris
gestorben.
In Un Flic zeigt er ein kaltes Paris.
Eiseskälte und Unwirtlichkeit moderner Stadtzentren.
Stahl und Beton.
Hochhäuser, Appartementfassaden. Gläserne Wolkenkratzer.
Kaufhauswände.
Alles in Grau-, Blau- und Grüntönen.
Silber, das sich mit Weiß vermischt.
Klinikatmosphäre.
Alain Delons Gesicht ist ausdruckslos.
Sein neben ihm sitzender Kollege reicht ihm den Telefonhörer.
Ja? – Und woher? – Wir fahren sofort hin. Ich rufe zurück.
Sagt Delon.
Vorher haben wir ihn aus dem Off gehört: Jeden
Nachmittag beginne ich meine Rundfahrt. Immer zur
gleichen Zeit fahre ich die Champs-Élysées hinunter.
Sobald es Abend wird, beginnt meine Arbeit. Aber viel später erst, wenn die ganze Stadt schläft, komme ich dazu, mich meiner eigentliche Aufgabe zu widmen.
Poesie, würde ich sagen.
Dieser Ton.
Und dazu die Bilder.
Die Champs-Élysées.
Die Lichter der Großstadt.
Eine Absteige. Eine junge, tote Frau. Ein wunderschönes Gesicht. Eine Maske.
Dann ein älterer Homosexueller.
Rückfalltäter, sind wir das nicht alle? fragte er.
Und der miese, kleine Stricher weiß, dass er von dieser Schwuchtel nichts zu befürchten hat.
Delon spricht von Anstand: Finden Sie das anständig?
Meine Vision von Gangstern und Polizisten ist
ausschließlich imaginär, ohne Bezug zur Realität.
Sagte Melville.
Und: Wenn ich beschließe, dass Alain Delon Polizeikommissar sein wird, dann gehe ich von der Vorstellung eines als Kommissar gekleideten Alain Delon aus, der sich in einem banalen Polizeiauto auf der Champs-Élysées befindet … Und der Rest kommt von selbst. Ein großer Schauspieler, ein Star, ist immer der Mitautor eines Films.
Alain hilft mir mehr als ich
sagen kann. Er ist für einen Autor inspirierend.
Er ist der letzte Star, den ich kenne.
Er hat sich sogar jener Verpflichtung unterworfen, die zu den Stars der 30er Jahre gehört, nämlich der, einen
Skandal auszuhalten. Schlagzeilen.
Delon als Auftraggeber eines Killers?
Er hat die Biografie von Bernard Violet verbieten lassen.
Als Bulle schlägt er bei den Verhören. Nachdem er seine Cartier-Armbanduhr abgenommen hat.
Er macht einen Transvestiten fertig.
Erbarmungslos.
Zweierlei Empfindungen ruft der Anblick eines Menschen in einem Polizisten wach: Tiefstes Misstrauen und
Verachtung.
In Un Flic trifft Alain Delon in der Rolle des Kommissar Edouard Coleman auf Cathy.
Ich brauchte nicht die Leinwand und die später von Chanel in aller Welt publizierten Fotos von ihr, um zu erkennen, dass ihre zierliche Nase, ihr intensiver, doch irgendwie abweisender Gesichtsausdruck, ihr Mund mit den leicht geschwungenen Lippen, die von so klassischer Perfektion waren, dass sie ihre leidenschaftliche Sexualität verbargen, der Inbegriff romantischer Schönheit waren.
Schrieb Roger Vadim über sie.
Über Catherine Deneuve.
Die letzte Königin, wie Jörg Fauser sie nannte.
Ein kühle Blondine.
Aber im Bett, verriet Vadim, leidenschaftlich wie keine andere.
Obszön klingt durch.
Hitchcock hätte seine Freude an ihr gehabt. Er hätte sie
gequält. Gedemütigt.
Vorstellbar, dass er sie im Fond einer Taxe gefilmt hätte.
Wie sie ihrem Partner zwischen die Beine greift.
Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet.
Lässt Melville Delon zu ihr sagen.
Wie haben sie mich gefunden?
Das ist mein Beruf.
Ein Kommissar, der mit der Gangsterbraut zwei Stunden in einem Hotelzimmer verbringt.
Sie nimmt ihm die Waffe ab und wirft sie aufs Bett.
Die Pistole symbolisiert den Schwanz des Mannes.
Und den Tod.
Tod als Definition einer Beziehung.
Catherine Deneuve in der Rolle der Cathy liebt Alain Delon in der Rolle des Kommissars in einem fensterlosen Raum.
In extremer Aufsicht aufgenommen.
Eine Einstellung, die die klaustrophobische Atmosphäre noch verstärkt.
Ein Mann und eine Frau im Bett, Frauen, die sich ausziehen – das ist kaum mehr zu ertragen.
Sagte Melville.
Melville zeigt keinen Liebesakt.
Er überlässt das unserer Phantasie.
Es reicht, die Deneuve zu sehen. Ihr silbergold glänzendes Haar. Ihren Blick.
Die Lippen eine winzige Spur geöffnet. Ihr sacht rosa
mattiertes Antlitz vor dunklem Hintergrund.
Rein und teuflisch zugleich.
Kurz zuvor hat sie einem schwer verwundeten Gangster Luft in die Vene gepumpt. Im Krankenhaus. Als Schwester
verkleidet.
Ein Todesengel auch sie.
Ich zwinge meine Schauspieler dazu, vor der Kamera das gleiche schweigsame, lakonische und vom underplay geprägte Verhalten zu praktizieren, das ich im Leben angenommen habe.
Sagte Melville.
Er begann gegen elf Uhr abends zu eben.
Er ging immer erst morgens gegen fünf oder sechs Uhr schlafen.
Die Morgendämmerung von Pigalle, das ist der Zeitpunkt, zu
dem ich frühstücke.
Der Film Un Flic endet frühmorgens.
Er hinterlässt keine Epigonen, weil Vollkommenheit und Einmaligkeit unersetzbar sind. Lese ich.
Delon fährt wieder die Champs-Élysées hinunter.
Sein Gesicht ist wie versteinert.
Er hat Simon erschossen. Den Gangsterboss.
Catherine Deneuve in der Rolle der Cathy hat Simon geliebt.
Sie war sein Komplizin.
Sie war aber auch die Geliebte des Kommissars.
Der Kommissar und der Gangster waren Freunde.
Ich habe in meinen Gangsterfilmen immer wieder versucht, den Polizisten stark dem Gangster und den Gangster stark dem Polizisten anzugleichen. Sie sind meist ähnlich gekleidet und oft fragt sich der Zuschauer, welches wohl der Polizist und welches der Gangster ist – man kann und soll sich darüber täuschen.
Sagte Melville.
Coleman und Simon trinken Whisky on the rocks.
Beide lieben Cathy.
Catharine Deneuve erwidert ihre Liebe.
Un Flic ist ein Film.
Ein Film über Freundschaft und Verrat.
Die Freundschaft ist eine heilige Sache. Der Verrat ist, viel mehr als die Liebe, eine der fundamentalsten Antriebskräfte des Menschen. Sagte Melville.
Verrat führt zum Tod.
Simon verlässt frühmorgens das Hotel. Er wird von Alain Delon erschossen.
Haben Sie nicht doch etwas zu schnell geschossen?
Cathy hat die Szene verfolgt.
Der Kommissar schaut zu ihr herüber.
Und dann zu dem toten Simon.
Das ist das Ende.
Ein neuer Tag hat begonnen.
Wieder das Autotelefon. Wieder das Ja? – Und wo? – Wir fahren sofort hin. Ich rufe zurück.
Und wieder die Fahrt über die Champs-Élysées.
Alain Delon blickt in die Kamera.
Ausdruckslos. Aber auch von einer unendlichen Traurigkeit erfüllt.
Die Musik ist von Michel Colombier.
Sie ist dezent melancholisch.
Stärker in Erinnerung bleiben die Geräusche.
Der prasselnde Regen. Das monotone Surren der Scheibenwischer.
Der Wind. Das Krachen der Schüsse. Das Klirren den
Eiswürfel im Glas.
Die Tonaufnahme ist oft die Musik meiner Filme.
Sagte Melville.
Paris bei Nacht.
Ein Film. Ein Film noir.
Ein Film von Jean-Pierre Melville (eigentlich: Jean-Pierre Grumbach) mit Alain Delon und Catherine Deneuve, gedreht in Paris und in den Studios Boulogne. In Farbe. Ausgebleichte
Farben.
Fahles Licht.
Morgengrauen. Abenddämmerung.
Nacht.
Frank Göhre