Öffentlich-rechtlich ‒ volksnah
Auch wenn man dem gemeinsamen Wohlfühl-Tatort-Gucken in Kneipen skeptisch gegenüberstehen mag, was sich der rbb für die Premiere des neuen Berliner Tatorts ausgedacht hat, darf durchaus als gelungen erachtet werden. Nadja Israel war mit dabei.
Hunderte (wenn nicht Tausende und …) machten es sich am herrlichen Spätsommersonntag, dem 25. August gemütlich, um die Premiere von „Gegen den Kopf“– auf der Open Air Wiese am Gleisdreieck in Berlin zu sehen. Öffentlich-rechtlich und volksnah ging es zu. Knut Elstermann von RadioEins führte durch den Abend, und die Verantwortlichen und Schauspieler nahmen ganz entspannt und ohne Attitüde ein Bad in der Menge. Wer wollte, hatte im Anschluss, an der Bar von Kiki Blofeld, auch noch Zeit und Platz Fragen zu einem gelungenen Tatort zu stellen.
„Gute Unterhaltung und dass sein Film ein wenig nachwirkt“, hatte sich Stephan Wagner für seinen Tatort gewünscht. Verdient hätte er es. Unbedingt einschalten: „Tatort – Gegen den Kopf“ 8.9.2013, 20.15 Uhr (ARD).
„Gegen den Kopf“
Der 38-jährige Mark Haessler (Enno Kalisch) wird auf dem U-Bahnhof Schönleinstr., in Berlin-Kreuzberg tot aufgefunden. Brutal zusammengeschlagen von zwei flüchtigen Jugendlichen an einem öffentlichen Ort voller Menschen, die nicht ins Geschehen eingreifen ‒ Hilfe unterlassen.
Öffentlicher Druck und Medienhysterie ‒ die sonst so eingespielten Hauptkommissaren aus Berlin, Till Ritter und Felix Stark, bekommen von der Chefin der Mordkommission ein nerdiges Techno-Team von Spezialisten an die Seite gestellt, um zügig zu Ergebnissen zu gelangen. An Zeugen und Beweismaterial des fatalen Vorfalls herrscht kein Mangel und bald sind die mutmaßlichen Täter identifiziert: Konstantin Auerbach (Jannik Schümann) und sein Freund Achim Wozniak (Edin Hasanovic) belasten sich gegenseitig. Wer war der Haupttäter? War es das verwöhnte und vernachlässigte Unternehmerkind aus dem Berliner Westend, „Konz“, oder doch der bereits vorbestrafte Berufsschüler Achim Wozniak?
Police Procedural
Wagner, unisono für Drehbuch und Regie verantwortlich, hält sich an die Spielregeln des klassischen Police Procedurals und der Zuschauer wird Zeuge enervierender Ermittlungen unter Hochdruck. Man darf durchaus Mitleid haben mit den Beamten, die im Dschungel deutscher Bürokratie agieren und unter dem juristisches Gezerre um Befugnisse und Dienstwege leiden. Eine ungewöhnliche Erzählstruktur, tolle Bilder, gute Musik, schnelle Schnitte, häufiger Perspektivenwechsel, und hervorragende Schauspieler (sehr gut: Schürmann und Hasanovic) hauchen der Darstellung detailgetreuer Polizeiarbeit das Leben ein.
„Recht auf das eigene Bild – oder wie das heißt.“ (Achim Wozniak)
Datenschutz und Gewalt im öffentlichen Raum – relevante Themen im aktuellen Wahlkampf. Die Berliner TatortmacherInnen bleiben ihrem Kurs treu, soziale und politisch relevante Themen in ihre Fallgeschichten einzubauen. Ein Glück bleiben wir dieses Mal verschont vom häufig so moralischen Zeigefinger der Berliner. Kleinteilige Polizeiarbeit bohrt sich tief in die Privatsphäre der Opfer, Täter und Zeugen, lässt aber auch die Ermittler nicht kalt. Der Aufklärungsdruck billigt keine Privatsphäre und keinen Aufschub. Tempo ist angesagt. Mobilfunknetze, Verkehr- und Sicherheitskameras sowie private Computer ergeben ein effizientes Netz der Überwachungsmöglichkeiten, das ausgewertet werden will. Eine perfekte Technik die alles dokumentiert, nichts vergisst und der traditionellen Verhörarbeit und ewig fehlbaren Zeugenaussagen gegenüber steht.
„So wurde noch kein Tatort erzählt“ (Dominic Raacke)
Und doch wird dieses kleine Lehrstück über das digitale Paralleluniversum, über Provider, GPS-Anfragen und Cloud-Verschiebungen nicht langweilig. In „Gegen den Kopf“, geht man frei nach Pierre Boileau und Thomas Narcejac von den Personen aus, „die sich in der kritischen Lage befanden“ ‒ den Zeugen. In vielen, angenehm politisch unkorrekten Verhörszenen darf und soll man sich selbst wohl die Frage stellen: Wie würde ich mich verhalten? Mal vergnüglich, meist bedrückend spiegelt sich dort die ganze Bandbreite an verhinderter Zivilcourage. Dabei umschifft Stephan Wagner souverän Klischees und moralische Verurteilung.
Zufallsbrutalität à la Anthony Burgess
Die minutiös auf Fakten und Technik basierte Rekonstruktion der Tat entlarvt schlussendlich den wahren Täter, bietet aber eigentlich nur einen Rahmen für das Finale: den letztlich unerklärbaren und überaus verstörenden Gewaltausbruch. Ja ‒ der gemütliche Tatort-Gucker bekommt eine Art Lösung präsentiert, allerdings eine ungewohnt unbequeme: „Es gibt keinen Grund“ (der Täter).
Nadja Irsael
TATORT: Gegen den Kopf. RBB/Reihe/Krimi.
EA: 8.9.2013, 20.15 Uhr (ARD). Mit Dominic Raacke, Boris Aljinovic, Jannik Schümann, Edin Hasanovic, Claudius von Stolzmann, Tristan Seith, Ruth Reinecke, Christina Hecke, Simon Licht und Enno Kalisch. Drehbuch & Regie: Stephan Wagner. Redaktion: Josephine Schröder-Zebralla (rbb). Kamera: Thomas Benesch. Szenenbild: Zazie Knepper. Schnitt: Gunnar Wanne-Eickel. Produktionsfirma: carte blanche Film. Fotos: © Nadja Israel.