„Ich will nur gute Geschichten schreiben“
Wem trotz dem turbo-melancholischen Kenneth Branagh die ganze Wallanderei und das Gemankelle inzwischen allzu sehr auf den Senkel geht, von Schweden aber nicht lassen will, kann hier Håkan Nesser besser kennenlernen. Im Gespräch mit seiner Kollegin Henrike Heiland.
Henrike Heiland: Ich würde mit dir gerne über deine Detektive reden. Es fällt ja auf, dass weder Van Veeteren noch Barbarotti in deine Romane strukturell so eingebunden sind, wie es sonst bei Krimis die Regel ist. Van Veeteren verschwindet nach ein paar Büchern als Hauptfigur aus seiner eigenen Reihe und überlässt anderen das Feld. Und dein neuer Ermittler, Gunnar Barbarotti, taucht in seinem allerersten Fall erst nach der Hälfte des Buchs auf.
Håkan Nesser: Ja, stell dir vor!
H. H.: Das war toll! Einfach, weil es so ganz anders war, als bei den üblichen Ermittlerkrimis. Wie kam es dazu?
H. Nesser: Van Veeteren war der Star in den ersten vier, fünf Büchern, dann waren die anderen aus seinem Team dran. Er hat sich einfach zurückgezogen. Nach der Van Veeteren-Serie hatte ich gar nicht die Absicht, wieder mit einer Krimiserie anzufangen. Ich schrieb ein paar einzelne Romane, und dann fing ich mit Mensch ohne Hund an, ohne geplant zu haben, einen Polizisten darin vorkommen zu lassen. Aber ich kam nach der Hälfte nicht mehr weiter und stellte fest: Ich brauche jemanden, der sich dieser Sache annimmt, der einmal von außen draufschaut – ich brauche einen Ermittler! Und so tauchte plötzlich Barbarotti auf.
H. H.: Und die Verlage schreiben auf das Buch: Der erste Fall für Inspektor Barbarotti, und nummerieren von nun an durch, wie bei Van Veeteren.
H. Nesser: Es wird tatsächlich ungefähr fünf Bücher mit Barbarotti geben, in denen er jeweils früher oder später auftaucht. Nicht erst im letzten Kapitel, keine Sorge. Eine ganz andere Geschichte zum Beispiel ist ja wieder ein ganz klassischer Krimi. Aber wenn es nun fünf Barbarotti-Bücher gibt, dann ist mir egal, ob sie richtige Krimis sind oder nicht. Ich will einfach nur gute Geschichten schreiben.
H. H.: Wie fühlst du dich denn dann mit dem Label Krimiautor?
H. Nesser: Manchmal wird man so bezeichnet, manchmal nicht, das ist mir egal. Ich lebe jetzt seit zwei Jahren in New York, da sind sie ganz besessen davon, alles in Schubladen zu sortieren. Sie fragen dich: Was für eine Art Schriftsteller bist du? Und ich sage: Ich bin ein guter! (lacht)
H. H.: Und du gehst dann in die Buchhandlung und suchst vergebens nach dem Regal mit der Aufschrift: „Gute Schriftsteller“.
H. Nesser: Ja! Genau! Das Problem bei mir ist ja, dass ich Bücher geschrieben habe, die man zu den Romanen sortiert, und andere, die zu den Krimis gehören. Wo gehöre dann ich hin? Es gibt die Schriftsteller und es gibt die Krimiautoren. Das sind für viele Leute total unterschiedliche Sachen, aber nicht für mich. Mir ist das egal, ich will nur gute Geschichten schreiben.
H. H.: Was bedeutet dir die Detektivfigur für deine Bücher?
H. Nesser: Es ist prima, dass ich ihn über mehrere Bücher kennenlernen kann. Seine eigenen Probleme könnte man in nur einem Buch beschreiben, wären da nicht immer die Morde. Aber so kann ich ihn über einen langen Zeitraum entwickeln und ihn langsam kennenlernen. Ich suche mir Charaktere aus, die ich erforschen kann. Schließlich muss ich ja eine Weile mit ihnen leben.
Gott? Gott!
H. H.: Du hast irgendwann mal gesagt, Gunnar Barbarotti sei so etwas wie dein jüngerer Bruder …
H. Nesser: Ja, das kam, weil irgendwer – wahrscheinlich sogar ich – mal gesagt hat, Van Veeteren sei so eine Art Vaterfigur. Van Veeteren sollte für mich immer ein Geheimnis bleiben. Ich konnte ihn nie richtig verstehen. Er war zehn Jahre älter als ich, er war weiser als ich, er wusste viel mehr über das Leben als ich, und Barbarotti ist gut 10 Jahre jünger als ich, und den hab’ ich viel besser im Griff als Van Veeteren.
H. H.: Und deshalb stellt er dieselben Fragen an Gott, die du stellen würdest?
H. Nesser: Oh ja, sicher! Ich habe es in das erste Buch gepackt, da hat er dieses Spiel mit Gott, über das er herausfinden will, ob es Gott wirklich gibt. [Anm.: Wenn Gott ein Gebet von Barbarotti erhört, bekommt er Punkte. Wenn nicht, gibt es Punktabzug. Nach einer bestimmten Zeit wird abgerechnet: Ist Gott im Minus, steht für Barbarotti fest, dass es ihn nicht gibt.] Aber in den nächsten Büchern wird das Verhältnis der beiden deutlich ernsthafter. Barbarottis Beziehung zu Gott wird sich entwickeln. Ich weiß noch nicht, wie es im fünften Buch sein wird, weil ich das noch nicht geschrieben habe …
H. H.: Also weißt du noch nicht, wer von den beiden die Wette gewinnt?
H. Nesser: Doch, doch, aber das verrate ich nicht.
H. H.: Ich bin mir gar nicht so sicher, ob Eine ganz andere Geschichte wirklich ein klassischer Krimi ist. Schließlich deckt am Ende nicht Barbarotti den Fall auf, sondern eigentlich eine Randfigur. Barbarotti ist eben nicht der typische Ermittler, er ist in seinen beiden „Fällen“ sehr passiv …
H. Nesser: Aber Eine ganz andere Geschichte ist eine Art Whodunnit, weil man als Leser wissen will, wer dieser Typ ist, der die Leute umbringt. Das nächste Buch hingegen wird kein Whodunnit. Man weiß von Anfang an, worum es geht, und man liest es trotzdem weiter, aber es geht einem nicht darum, wer der Mörder ist.
H. H.: Warum spielen deine Geschichten diesmal in Schweden?
H. Nesser: Ich konnte mir doch nicht schon wieder ein Land ausdenken.
H. H.: Doch. Oder dasselbe wie bei Van Veeteren nehmen und es „Nesserland“ nennen.
H. Nesser: Das ginge.
H. H.: Ist es einfacher für dich, aus der Distanz zu schreiben? Erst hast du ein Land erfunden, und jetzt, da du nicht mehr in Schweden wohnst und die Distanz zu deinem Land hast, schreibst du darüber.
H. Nesser: Ja, das ist sicher ein Grund. Es ist ja auch viel einfacher, über etwas zu schreiben, das vor 25 Jahren war. Ja, nicht dort sein macht es einfacher. Als Journalist schreibst du über etwas, das hier und jetzt ist, und morgen ist es in der Zeitung. Wenn du ein Buch schreibst, dann will das in zwei Jahren noch mal jemand lesen, also darf es nicht so fest verankert sein. Und dann ist es oft gut, wenn man die Distanz hat. Im Moment allerdings wohne ich ja in New York, und ich schreibe auch ein Buch über New York … (erklärt ausführlich, wie toll New York ist)
Krimis no end …
H. H.: Ich merk schon, du magst nicht so recht über Krimis reden.
H. Nesser: Ähm …
H. H.: Aber wir müssen über Krimis reden.
H. Nesser: Ich lese fast nie Krimis! Ich weiß fast nichts über Krimis! Es kommt vor, dass ich Bücher schreibe, die auch mal als Krimis bezeichnet werden, aber ich lese meistens ganz normale Romane. Romane, Romane, und ganz selten mal einen Krimi. Ich bin da gar kein Experte.
H. H.: Irgendwie begegne ich dauernd Krimiautoren, die sagen, dass sie eigentlich gar nichts von Krimis verstehen.
H. Nesser: Gewöhn dich dran! Alle Krimiautoren wollen richtige Autoren sein. Das ist so eine Krankheit.
H. H.: Aber was stimmt denn nicht mit Krimis?
H. Nesser: Damit ist alles in Ordnung! Aber als ich in den 90ern mit dem Schreiben anfing, hörte ich dauernd andere Autoren sagen: Na ja, ich hab jetzt mal das Genre und die Struktur eines Krimis gewählt, um etwas Wichtiges zu erzählen. Über die Gesellschaft oder sonst was. Die meisten Krimiautoren sagen, dass sie gar keine Krimiautoren sind, sondern in Wirklichkeit etwas Echtes machen. Sie sind eigentlich Sozialkritiker. Ich meine, in den USA liebt jeder den linken Krimiautor, weil die Sozialkritik ja immer von links kommt, und das Verbrechen ist dann immer das Zeichen dafür, dass mit der Gesellschaft etwas nicht stimmt. Das ist, wie ich finde, die klassische Formel für Krimis.
H. H.: Der Krimi bietet dem Ermittler in der Tat die Möglichkeit, mit allen Gesellschaftsschichten Kontakt aufzunehmen und ein Problem von allen Seiten zu beleuchten. Nun, jedenfalls ist es doch wohl wirklich so, dass man sich für Kriminalliteratur ununterbrochen zu entschuldigen scheint.
H. Nesser: Ja, auch als Leser. Es kommt oft genug vor, dass bei Signierstunden eine ältere Dame aufkreuzt, die mir erklärt, dass sie normalerweise keine Krimis liest und mein Buch ihr erster Krimi sei. Natürlich lügen diese Leute, sie wollen einfach nicht zugeben, dass sie Krimis mögen. Weil es sich nicht gehört. Oder so. Dabei gibt es wirklich hervorragende Sachen. Barbara Vine zum Beispiel. Vielleicht ist es einfach das Problem, dass man als Krimiautor so gut verkauft. Ich verkaufe sehr viele Bücher in Schweden und in Deutschland, und ein Poet, der ernst genommen werden will, verkauft nichts. Und das nervt natürlich total.
Autoren und Leser
H. H.: Irgendjemand sagte mal, dass es eine bestimmte Sorte Autoren gibt, die unheimlich beleidigt sind, wenn sie mehr als 500 Bücher verkaufen, weil es ja wohl nicht angehen kann, dass so viele Menschen sie verstehen.
H. Nesser: Oh, das ist super!
H. H.: Und von Verlagen hört man immer mal wieder, dass die „normalen“ Autoren gar nicht plotten können. Man ist immer ganz froh, wenn mal ein Genreautor mit einer Geschichte kommt. Genreautoren können wenigstens plotten, heißt es.
H. Nesser: Worum es eigentlich gehen sollte, ist ja, eine gute Geschichte zu schreiben, ob das nun ein klassischer Krimi ist oder was anderes. Richtig zu plotten ist sehr wichtig. Als Leser will man ja wissen, was mit den Figuren passieren wird. Er will ihr Geheimnis lüften.
H. H.: Deshalb nimmst du in Mensch ohne Hund eine ganz andere Struktur her und erzählst erst mal die Geschichte der Familie, damit man ihre Geheimnisse erfährt?
H. Nesser: Ja, das war so eine Idee von mir. Ich wusste bei dem Buch wirklich nicht, wie es ausgehen würde, ich habe es chronologisch geschrieben, und ich fand den Prozess total spannend. Bei Eine ganz andere Geschichte wusste ich natürlich als erstes den Schluss.
H. H.: Und hast mit den Tagebuchaufzeichnungen des Mörders begonnen.
H. Nesser: Ja. Das Spannende ist die Perspektive des Lesers, weil er immer mehr weiß als Barbarotti. Das geht bis zu einem bestimmten Punkt kurz vor Ende, dann ist man mit Barbarotti auf einer Höhe und will wissen, wie es nun ausgeht. Diese Struktur fand ich interessant. Und die Lösung am Ende ist gut, das weiß ich, weil sie noch mal einen Twist hat. Keiner meiner Leser hat bisher gesagt: Ha, ich wusste, dass es so ausgeht. Während ich schreibe, bin ich gleichzeitig der Leser. Ich schreibe so, wie ich es als Leser gerne hätte. Ich denke, dass man immer als Autor das Buch auch gleichzeitig beim Schreiben so erfahren sollte wie ein Leser. Die Qualität eines Buchs ist von der Leseerfahrung bestimmt.
H. H.: Du schreibst also, was du selbst gern lesen möchtest.
H. Nesser: Ganz genau.
H. H.: Und nicht das, was der Markt vielleicht erwarten könnte.
H. Nesser: Nein. Nur, was ich gerade gerne lesen würde.
H. H.: Es geht dir um Authentizität.
H. Nesser: Unbedingt! Ich schreibe doch nicht etwas, von dem ich denke: Diesen Scheiß mag ich nicht, aber vielleicht mögen es andere Leute. Wo bringt einen das denn hin?
H. H.: Manchen bringt es auf die Bestsellerliste.
H. Nesser: (lacht) Ich weiß! Aber das hast du gesagt, nicht ich! Ich denke, man muss sich selbst treu sein. Ich habe 21 Bücher geschrieben, ich habe bei jedem einzelnen mein Bestes gegeben, und ich würde diese Bücher auch gerne lesen, wenn ich sie nicht selbst geschrieben hätte. Ja, doch, da bin ich mir ganz sicher.
H. H.: Wer ist denn dein Lieblingsautor?
H. Nesser: Ach, normalerweise sag’ ich da immer Ian McEwan. Er hat einige großartige Bücher geschrieben.
H. H.: Was ist mit Krimiautoren? Du hast eben Barbara Vine erwähnt, also Ruth Rendell. Magst du auch den Klassiker wie bei P. D. James?
H. Nesser: Oh, ja, das sind sehr klassische Krimis, aber die letzten fünf, die waren mehr so …
H. H.: Ja. Ich weiß.
H. Nesser: … sie wiederholt sich da nur, und das ist mir dann alles wieder zu klassisch. Ruth Rendell finde ich auch ganz gut, aber was sie unter ihrem Pseudonym Barbara Vine schreibt, finde ich persönlich sehr viel besser. Ian Rankin soll ja ganz gut sein, aber ich tu mich immer sehr schwer, diese Ermittlerkrimis zu lesen. Außerdem, davon gibt es so viele, man muss so gut sein, um aus der Masse herauszuragen. Dennis Lehane ist gut. Er ist sehr anders, ich denke, er setzt sich gerade aus dem Genre ab.
Schwedenhappen
H. H.: In Deutschland liebt man nicht nur Krimis, sondern ganz besonders schwedische
Krimis …
H. Nesser: Ich habe keine Ahnung, wie das kommt. Ich sage immer, das ist ein deutsches Problem, wenn ihr nicht so viele schwedische Krimis lesen würdet, gäbe es die alle gar nicht. Man muss sich da mal fragen, warum die Deutschen Schweden so toll finden. Ich denke, vielleicht weil Schweden so ähnlich ist wie Deutschland, aber es hat gleichzeitig einen exotischen Touch. Man findet sich zurecht, aber dann ist es auch wieder anders: viel mehr Platz, Berge und Seen. Das Idealbild, wo viele Deutsche ihren Urlaub verbringen wollen. Auf neun von zehn Schwedenkrimis ist so ein kleines Urlaubshäuschen auf dem Cover, und das schreit: Schweden, Schweden, Schweden! Nicht Ikea, nicht die Flagge, sondern das Häuschen. Vielleicht wurzelt das auch alles in Astrid Lindgrens Kinderbüchern. Ich geb’ dem ganzen noch zwei, drei Jahre, dann ist das durch.
H. H.: Aber du profitierst davon.
H. Nesser: Ja! Aber ich sag dir was, ich würde ganz genau dieselben Bücher schreiben, die ich jetzt schreibe, auch ohne diese Schwedenhysterie.
Autorenfoto © Paul Brissman