
Zwei Fremde im Kaufhaus
Eine Annäherung von Sonja Hartl
Patricia Highsmith bezeichne ich gerne als die Autorin, die Kollegen immer anführen, wenn sie sagen, sie würden sehr wohl auch Genre und Frauen lesen. Vielleicht ist sie auch deshalb die „feuilletontauglichste“ Kriminalschriftstellerin – und dass sich daran nichts ändert, wird Anfang nächsten Jahres anlässlich ihres 100. Geburtstages zu sehen sein. Patricia Highsmith ist aber zudem die Bezugsgröße für psychologische Spannungsromane jeglicher Art. Hält ihr Werk, was ihr Nimbus verspricht? Diese Frage ist Ausgangspunkt meiner Annäherung an Patricia Highsmith in den kommenden Monaten, in denen ich mich durch ihr schriftstellerisches Werk lesen werde.

Zwei Fremde begegnen einander und verlieben sich – diese Ausgangssituation verbindet Patricia Highsmiths ersten beiden Romane „Zwei Fremde im Zug“ und „Carol oder Salz und sein Preis“. Im ersten Fall wird es tödlich ausgehen, im zweiten gibt es ein Happy End. Und die Wege zu diesen Enden ist sehr verschieden.
Zwei Mörder
„Zwei Fremde im Zug“ ist Patricia Highsmiths Debütroman, noch bekannter geworden durch die Verfilmung von Alfred Hitchcock, die aber in wesentlichen Elementen von dem Roman abweicht. Zwei Männer begegnen sich zufällig im Zug. Der Architekt Guy Haines ist auf dem Weg in seine Heimat, weil er sich endlich von seiner ersten Ehefrau Miriam scheiden lassen will. Charles Bruno verreist nach Santa Fe, dort will er seine Mutter treffen. Auf der Reise erzählt vor allem Bruno von dem Hass, den er für seinen Stiefvater empfindet und schlägt schließlich ein Komplott vor: Er tötet Miriam, dafür ermordet Haines seinen Stiefvater. Niemand wisse, dass sie einander kennen, sie hätten perfekte Alibis. Diese Taten könnten der perfekte Mord sein.

Haines nimmt Bruno nicht vollends ernst, sie schließen keinen Pakt in diesem Zug. Doch als Miriam ermordet wird, ahnt Haines, dass Bruno dahintersteckt. Wenig später erhält er einen Brief, in dem ihn Bruno an seinen Teil der Abmachung erinnert. Haines will damit nichts zu tun haben, er will, dass Bruno aus seinem Leben verschwindet. Doch er schweigt und verdrängt. Damit verstrickt er sich immer tiefer in eine Spirale aus Schuld und (Selbst)-Zerstörung.
„Jeder kann einen Mord begehen. Das hängt nur von den Umständen ab, hat rein gar nichts mit Temperament oder Veranlagung zu tun. Man kommt an einen bestimmten Punkt, und dann braucht es nur den sprichwörtlichen Tropfen, der das Faß zum Überlaufen bringt. Bei jedem.“

Das ist die Prämisse des Romans, die Patricia Highsmith durchspielt. Zwei Motive sind zentral: Haines‘ Auseinandersetzung mit der Schuld, die er empfindet – gar nicht so sehr, weil Miriam tot ist, sondern weil er weiß, wer sie ermordet hat. Er schweigt, er versucht, Bruno zu ignorieren. Aber Bruno findet immer wieder Wege in Haines‘ Leben. Das führt zum zweiten Motiv: Obsession. Bruno ist besessen von der Idee, seinen Plan auszuführen. Und er ist besessen von der Vorstellung, dass er mit Haines gemeinsam in dieser Situation steckt. Fraglos ist er verliebt in Haines. Nicht, dass er sich das in voller Konsequenz eingestehen würde. Zwar erkennt er mehrfach, dass er etwas für Haines empfindet. Aber er glaubt sich unfähig zu lieben. Tatsächlich scheint eine gesunde Beziehung zu irgendeinem Menschen für ihn nicht möglich zu sein, darauf deutet schon sein enges und sexualisiertes Verhältnis zu seiner Mutter hin.
Die Beziehung zwischen Haines und Bruno ist toxisch. Während es Haines durchaus gelingt, eine heteronormative Fassade aufrechtzuerhalten, ja, er regelrecht danach strebt, in der Gesellschaft aufzusteigen und Anerkennung zu finden, die ihm die Familie seiner zukünftigen Ehefrau einbringen würde, ist Bruno in sich verloren. Er ist selbstzerstörerisch, gefährlich und drängt sich regelrecht in Haines‘ Leben. Er will ihn nicht in Ruhe lassen; zugleich verändert er dessen Leben unabänderlich. Allerdings hätte Haines mehrfach Gelegenheit gehabt, dieses Eindringen aufzudecken und damit zu unterbinden. Sicherlich sieht er sich selbst als Opfer, tatsächlich aber verpasst er die Gelegenheit, die Wahrheit zu sagen – und begeht später einen Mord. Damit ist er alles andere als unschuldig.

Zwei Liebende
„Zwei Fremde im Zug“ und Alfred Hitchcocks Verfilmung sind maßgeblich verantwortlich dafür, dass Patricia Highsmith in den USA vor allem als „mystery writer“ wahrgenommen wurde, während sie in Europa nicht unbedingt als Genre-Schriftstellerin rezipiert wurde. Diese Rezeption wäre anders verlaufen, wäre damals bereits bekannt gewesen, dass Patricia Highsmith die Autorin von „Salz und sein Preis“ („The Price of Salt“) ist. 1952 unter dem Namen Carol Morgan publiziert, wurde erst mit einer Taschenbuch-Neuauflage 1990 unter dem Titel „Carol“ bekannt, dass Patricia Highsmith diesen Roman geschrieben hat. Er ist eine wunderschöne Coming-of-Age-Liebesgeschichte.

Erzählt wird aus der Perspektive der einsamen 19-jährigen Therese Bilvet, die seit zwei Jahren in New York lebt und versucht, mit Jobs das nötige Geld zusammenzubekommen, um in die Gewerkschaft der Bühnenbildner aufgenommen zu werden. Sie hat eine lose Beziehung mit Richard, der Maler werden will, aber vermutlich in dem väterlichen Betrieb landen wird. Momentan jobbt sie in einem Kaufhaus. Dort begegnet ihr eines Tages Carol Aird, eine wunderschöne Frau in ihren 30ern. Therese verliebt sich in sie, ohne dieses Gefühl benennen zu können.
„War das Liebe oder nicht? Wie absurd, dass sie nicht einmal das wußte! Sie hatte von Mädchen gehört, die sich ineinander verlieben, und sie wusste, was für Leute das waren und wie sie aussahen. Weder sie noch Carol sahen so aus.“

Therese Vorstellung ist geprägt von der Annahme, in einer lesbischen Beziehung müsse zumindest eine Partnerin maskulin sein. Therese und Carol sind aber beide im konventionellen Sinne feminin: sie tragen Röcke, Schuhe mit hohen Absätzen, schminken und frisieren sich. Deshalb fällt es Therese schwer, ihre Gefühle mit ihren kategorischen Vorstellungen zu vereinbaren. Es ist eher ein Ringen denn ein Hadern, denn sie erkennt, dass ihre Gefühle für Carol besonders sind.
Carol ist nur aus Thereses Perspektive zu erleben, es gibt nur Inneneinsichten in Thereses Charkater und Gefühlsleben. Dadurch wird dieser Roman auch zu einer Coming-of-Age-Geschichte. Therese lernt, zu sich selbst zu stehen, sich selbst und ihren Wahrnehmungen zu vertrauen. Durch ihre Vertrautheit mit Carol verändert sich ihre Beziehung zu ihrem Freund Richard. Deutet sie Unzufriedenheit nur an, tut er es als eine ihrer Launen ab. Aber „sie spürte, daß er sich mehr denn je an sie klammerte, entschlossener als je zuvor, sie nicht loszulassen. Es erschreckte sie. Sie konnte sich vorstellen, wie solche Entschlossenheit in Haß und Gewalt umschlug“.

Letztlich trennt sich Therese von Richard, sie geht mit Carol auf eine Reise – mittlerweile ein typisches Coming-of-Age-Motiv –, die sie zu sich selbst führen wird. Es wird ein Happy End geben. Vielleicht muss man 2020 noch einmal betonen, wie mutig es war, 1952 einen Roman zu schreiben, in dem die queeren Protagonistinnen sich nicht selbst töten oder zurück zu ihren Männern gehen. Vielmehr deutet das Ende an, dass es für sie – zumindest in New York und im künstlerischen Bereich – möglich ist, eine Gemeinschaft zu finden.
Homosexualität ist das auffällige verbindende Thema von „Zwei Fremde im Zug“ und „Carol“. Hier spielt Highsmiths bereits vielfach erörterte Auseinandersetzung mit einer eigenen Sexualität sicherlich eine Rolle. Sehr bemerkenswert ist zudem, dass in beiden Romanen die gesellschaftliche Klasse thematisiert wird. Haines und Theresa kommen aus einfachen Verhältnissen. Haines strebt offen nach sozialem Aufstieg, ob er Anne ihretwegen oder aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung und der Verbindungen ihrer Familie liebt, wird nicht ganz klar. Theresa nimmt hingegen Carols Reichtum vor allem staunend war – aber sie erkennt auch, dass Carol dadurch möglicherweise weniger frei ist als sie. Klasse wird in Romanen eher selten aufgegriffen – aber in Patricia Highsmith‘ Werk scheint es einige Ansatzpunkte zu geben.
- Patricia Highsmith: Zwei Fremde im Zug (Strangers on a train, 1950). Übersetzt von Melanie Walz. Diogenes Verlag, Zürich 2003. 464 Seiten, 13 Euro.
- Patricia Highsmith: Carol oder Salz und sein Preis (The price of salt, 1952). Übersetzt von Melanie Walz. Diogenes Verlag, Zürich 2015. 464 Seiten, 13 Euro.