Obsessionen, Ohnmacht, Paranoia: Kriminalfilme und ausgesprochen schwarze Noirs

Es ist ein Filmbuch für den Olymp: Ines Bayers exzellent illustrierte große Studie „Anthony Mann. Kino der Verwundung“, die erste deutsche Monographie über diesen ebenso großen wie zu wenig bekannten Regisseur. – CrimeMag-Besprechung von Alf Mayer hier. Wir freuen uns, Ihnen einen Textauszug präsentieren zu können: zwei Mal ein Film noir.
Film noir, schreibt Jeanine Basinger, sei wie ein Virus: Es falle über gesunde Genres her und hinterlasse sie krank, verdüstert, ohne Hoffnung. (27) Die Symptome der Erkrankung lauten: Obsessionen (Wahn, Zwänge, Leidenschaft), Ohnmacht (den Mächtigeren und dem Lauf der Dinge gegenüber), Paranoia (Argwohn und Alarmbereitschaft, bei den Figuren genauso wie beim Publikum).

Wie alle Films noirs neigen auch Anthony Manns schwarze Filme zum Flirt mit anderen Genres: zur Kombination mit der Komödie -DR. BROADWAY) [1942, Paramount], TWO O’CLOCK COURAGE [1945, RKO] -, zur Kreuzung mit dem Historienfilm – REIGN OF TERROR [1949, Eagle-Lion] -, zur Anverwandlung des Polizeifilms – RAILROADED! [1947, PRC/Eagle-Lion], T-MEN [1947, Eagle-Lion], BORDER INCIDENT [1949, MGM] – und des Melodrams sowieso – STRANGERS IN THE NIGHT [1944, Republic], RAW DEAL [1948, Eagle- Lion], SIDE STREET [1949, MGM].
Film noir verstanden als Genre sei, so Norbert Grob, »definiert durch Stil: Choreographie, Atmosphäre, Blick. […] Film noir ist mehr Ausdruck als Inhalt.«(28) Die filmische Handhabung des Stoffs gewinnt über Handlungsmuster und Motive stets die Oberhand.
In drei von Manns Films noirs (und einem wirklichen Genre-Bastard, SERENADE [1956, Warner Bros.]) wirkt die Obsession als Triebkraft. In vieren steht die Ohnmacht im Mittelpunkt: DESPERATE [1947, RKO], RAILROADED!, RAW DEAL und SIDE STREET. Vier weitere sind bestimmt von Paranoia – als Ausgangspunkt der Narration, als Effekt der Inszenierung: T-MEN und BORDER INCIDENT, REIGN OF TERROR und THE TALL TARGET [1951, MGM].

Obsessionen: STRANGERS IN THE NIGHT
Meistens ist es im Film noir gerade das Heilsame, oft die Liebe, die mutiert und sich gegen ihren Träger wendet. In STRANGERS IN THE NIGHT (1944, für Republic) ist die Mutation bereits lange geschehen, als die Filmhandlung beginnt. Eine alte, verhärmte Dame (Helene Thimig) in einem großen, schwarzromantischen Haus hütet ein Geheimnis, das zunächst so schrecklich gar nicht ist; im Fluss der Ereignisse aber wird es bald monströse Auswüchse entwickeln. Dass etwas nicht stimmt mit dieser Frau, macht der Film ohne Umschweife klar. (Er hat es eilig: 56 Minuten nur dauert der Film, es ist der kürzeste im Mann’schen Œuvre.) Das Haus, das uns bei Nacht gezeigt wird, sitzt prekär auf einer Klippe, unten schlägt das Meer gegen den Fels. Haus und Felsen sind als Matte Painting ausgeführt, und es gibt irritierende Fehler darin: Die Perspektive scheint verschoben, die Proportionen stimmen nicht, das Sträßchen, das sich nach oben windet, weicht von den physikalischen Erfahrungen des Alltags ab. Ein nervöses Musikthema flirrt über die Szene. Vor dem Haus steht ein Schild mit der Aufschrift »Danger«; wir ahnen, dass sich die Warnung nicht nur auf die Bruchkante des Kliffs bezieht.

Der Bedeutungsexzess geht im Inneren des Hauses weiter. Hilda Blake wirft tiefschwarze Schatten, die das Bild noch dominieren, wenn sie aus dem Kader läuft. Das noir’sche Virus hat ihren Körper schon befallen: Sie geht mit Krücken und hält den Kopf leicht schief. Der junge Mann (William Terry), der anreist, um Hildas Tochter zu besuchen, muss zuerst noch ein Zugunglück überstehen (gib acht!, scheint das zu sagen, die Welt entgleist). Johnny Meadows aber kehrt nicht um. Er will das Mädchen treffen, das er bisher nur aus Briefen kennt. – Johnny wird am Ende feststellen, dass es ›sein‹ Mädchen mit dem Namen Rosemary nicht gibt. Rosemary ist Hildas Kopfgeburt, herbeigewünscht, herbeigedichtet und materialisiert als Ölgemälde, das zentral in Hildas Wohnzimmer hängt.

»Can you feel her presence yet?«, fragt Hilda, als sie Johnny ins Zimmer ihrer fiktiven Tochter führt, den Kleiderschrank öffnet, ihn auf den Parfumduft aufmerksam macht. Johnny wurde als Soldat schwer im Gefecht verletzt; im Lazarett fern der Heimat konnte er sich seinen Lebenswillen nur aufgrund der Briefe bewahren, die Rosemary ihm schrieb. Ohne je mit ihr gesprochen, ohne sie je gesehen zu haben, hat er sich mit ihr verlobt. Aus dem Lazarett entlassen, führt sein erster Weg ihn nun zum Haus am Kliff. Das lebensgroße Gemälde, das dessen Räume wie eine zweite LAURA (1944; R: Otto Preminger) dominiert, beginnt auch ihn langsam in den Bann zu ziehen.

Das Porträt: Es eröffnet einen ganzen Kosmos möglicher Reflexionen über Absenz und Präsenz, Wunsch und Wirklichkeit, Ratio und Aberratio, Fakt und Interpretation, Trug und Wirklichkeit, Identität und Ideal, die Belebung des Unbelebten, die Macht der Imagination. Das Porträt ist damit das vielleicht nächstliegende Anschauungsbeispiel für die »Kontradiktion zwischen Sein und Schein«, die das Wesen des Films noirs nach Grob bestimmt.(29) Filme wie LAURA und STRANGERS IN THE NIGHT müssen ein im Grunde unerhörtes Kunststück vollbringen: die Bannkraft des Bildes zu behaupten, ohne das Bild selbst nah zeigen zu können. Sofort wäre die Gewöhnlichkeit der abgebildeten Frauen (es sind immer Frauen) offenbar. Anthony Mann löste das Problem mit dem einzig denkbaren Trick: Nicht auf das Bild ist die Kamera gerichtet, sondern, aus der Perspektive der Gemalten, auf die Betrachter davor. So werden die Leinwand des Gemäldes im Film und die Leinwand im Kino für Momente deckungsgleich. Statt auf die Gemälde schauen also diese Gesichter mit ihrem verzückten Blick auf uns zurück.
Hilda lebt mit Rosemary in einem Schattenreich; sie ehrt die Tochter, indem sie das Licht herunterdreht. »Draw the shades. Make the room as dark as you can«, weist sie ihre Haushaltshilfe an, bevor Johnny das Bild zum ersten Mal betrachten darf. Hilda weiß oder ahnt wohl, dass der Zugang zu Rosemarys Zwischenreich nur über die Dunkelheit erfolgen kann.

STRANGERS IN THE NIGHT ist auch stilistisch ein echter schwarzer Film. Reggie Lanning führte die Kamera, ein Republic-Veteran mit hoher Effizienz: Vierzehn weitere Filme neben STRANGERS finden sich für das Jahr 1944 in seiner Filmographie. Lannings Kamera ist agil und elegant; mit ihm inszenierte Mann zum ersten Mal wirklich in die Tiefe. So »lush and expressive« wie später bei John Alton sei der Effekt, meint Robert Smith.(30) Das Schattenspiel variiert von subtil bis expressiv: Hilda wirkt zunehmend dämonisch, und wo sie hingeht, da nimmt sie ihre Schatten mit – die Haustür, gerade noch im Sonnenschein, schrumpft ins Zwielicht zurück, wenn Hilda sie öffnet.
Was STRANGERS IN THE NIGHT so perfide macht, ist die schleichende Erkenntnis, dass Hilda nicht im Wahn agiert. Sie hat die Schöpfung ihrer Tochter geplant und sorgsam darauf hingewirkt, ihre Umgebung von Rosemarys Existenz zu überzeugen. Ein Leben lang musste sie lügen, sagt Hilda; den Wohnort wechseln, wenn die Verdächtigungen zu drückend wurden. Helene Thimig (die Witwe von Max Reinhardt, der im Jahr zuvor gestorben war) spielt Hilda als harte, zielstrebige Frau. Ihre würdevollsten Augenblicke hat sie, wenn sie sich in den Anblick des Gemäldes versenkt. Die unheilvolle Verbindung mit dem Bild kann durch rationales Zureden nicht gebrochen werden, wie Johnny und die junge Ärztin Leslie, die ihm zur Seite steht (Virginia Grey), am Schluss erfahren. Rosemary muss tätig werden: Das Gemälde fällt von der Wand herab, als Hilda, die nicht mehr weiter weiß, um Hilfe fleht. Unter dem Bild liegt Hilda tot am Boden.

Die Obsessionen, die Dämonen in STRANGERS IN THE NIGHT erwachsen aus den individuellen Wünschen und Ängsten der Figuren. Dennoch werden sie beständig rückgekoppelt an eine amerikanische Gegenwart, in der die Frauen plötzlich das Rückgrat der Gesellschaft bilden (Leslie als Ärztin) und in der sich die Männer im Krieg befinden, aus dem sie, wie Johnny, nur nach Hause kommen, wenn sie verwundet sind. Die Korrelation zwischen den Defekten des Individuums und denen der Nation ist diffus, mehr Ahnung als Feststellung. Johnnys Kriegsverletzung (oder Verletzlichkeit?) aber erhält mehr Aufmerksamkeit, als nötig wäre; so bricht er etwa beim ersten Anblick von Rosemarys Bild zusammen. Eine Rückblende zeigt, wie Johnny – im Lazarett – Rosemarys Namen und Adresse als Exlibris in einem Buch entdeckt: Es ist „A Shropshire Lad“, ein Gedichtzyklus des Briten Alfred Edward Housman, der immer dann besonders populär war, wenn viel gestorben wurde – im Zweiten Burenkrieg, in den Weltkriegen.(31) Alle Gedichte kreisen um den Tod, der willkürlich seine jungen (männlichen) Opfer holt, um Weltenschmerz, Vergeblichkeit, Vergänglichkeit: eine Stimmung, die anfällig macht für die Grenzüberschreitung ins Wohlig-Delirante, die Johnny ohne großen Widerstand vollzieht.
STRANGERS IN THE NIGHT ist ein kleiner, bescheidener Film; nicht typischer ›B‹ als Manns Filme zuvor, aber doch verblüffender, unerhörter, hemmungsloser. Andrew Sarris hat geschrieben: »[A] disproportionate number of fondly remembered B pictures fall into the general category of the film noir. Somehow even mediocrity can become majestic when it is coupled with death[.]«(32) Mit dem Film noir hatte Anthony Mann ein Terrain gefunden, das seinen Interessen, Fantasien, Sorgen, Überzeugungen – seiner Weltsicht – entsprach.

In einen raw deal verwickelt zu sein: Das bedeutet, sich abzustrampeln und ausgetrickst, sich hinzugeben und betrogen zu werden; das heißt, am Ende mit leeren Händen dazustehen, weil man alles verwettet hat. Es bedeutet, sich bestenfalls vom Boden aufzurappeln und verwundert um- zuschauen, wenn alles vorüber ist. Es heißt, das lächerlich Wenigste für den größtmöglichen Einsatz zu erhalten.

RAW DEAL (1947/48, für Eagle-Lion) ist der poetischste unter Anthony Manns Films noirs; vielleicht gar der poetischste Film seines gesamten Œuvres. Es geschieht fast nichts (auf der Ebene der Handlung) und doch überaus viel (auf der Ebene der Blicke, Berührungen, Stimmungen). Alles ist klar und doch nichts deutlich. Die Einfachheit der Story, die es schon in DESPERATE (1947) gab, spitzt RAW DEAL noch weiter zu: Mann kondensierte jetzt neben der Handlung auch die Zeit; was in DESPERATE ein halbes Jahr war, sind in RAW DEAL drei Nächte und die Stunden dazwischen. Dramaturgisch beschreibt RAW DEAL eine Linie: Die Narration folgt einer Reise, die einen Startpunkt hat (ein Gefängnis in Washington State), ein projektiertes Ziel (Panama) und ein tatsächliches Ziel (San Francisco). Die Topographie aber bleibt ohne Bedeutung, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es ein Fortkommen nicht gibt.

»Zu den wichtigsten Topoi des Film noir gehört«, so Norbert Grob, »dass eigentlich alles, was passiert, längst entschieden ist. Dass, wenn wir Zuschauer in die Geschichte hineinkommen, die Würfel längst gefallen sind.«(72) Die Rückblende ist das wichtigste Stilmittel zur Erreichung dieses Effekts; Anthony Mann verwendete sie nur einmal, 1945 in THE GREAT FLAMMARION und danach nicht wieder, auch nicht in diesem Film. Trotzdem verbreitet RAW DEAL ein Gefühl des Bereits-Gelebten, Schon-Durchlittenen, Längst-Vergangenen (und noch lange nicht Vergessenen), das schön und traurig ist zugleich. Eine klug eingesetzte Voice-over ist dafür verantwortlich, die Voice-over einer Frau, die im Präsens erzählt, aber die Vergangenheit meint (»a present tense bathed in a penumbra of the always already spoken and experienced«).(73) Sie spricht auf eine schleppende, zögerliche, manchmal monotone Art, so als wolle sie das, was kommen muss, noch eine Weile aufschieben. Sie verrät nicht im Voraus, was passieren wird, aber sie macht klar, dass es nichts Gutes ist. Eine »Mixtur aus griechischem Chor und poetischem Rap«(74) ist diese Voice-over, die die Geschehnisse kommentiert und ordnet, sie aber auch mit einer eigenen, eigenartigen Stimmung versieht. Ein ätherisch- schwebendes Musikthema, von einem Theremin gespielt, potenziert noch den Effekt.
Die Voice-over gehört zu Pat, einer Frau, die ihr Leben mit Ganoven verbrachte, die die Tücken des Daseins zu durchschauen und die Flüchtigkeit des Glücks zu kennen scheint. Claire Trevor spielt diese Pat, nach Michael Renov »iconographically identifiable as the welltravelled female of DEAD END (1937), STAGECOACH (1939), MURDER, MY SWEET (1944) and KEY LARGO (1948)«.(75) Auf Ebene des Bildes ist Pat den anderen Figuren gleichgestellt. Auf Ebene der Voice-over aber ist sie dem Präsentischen enthoben und von dem, was geschieht, distanziert. Am Ende des Films wird Pat abseits stehen, während ihr Geliebter in den Armen einer anderen stirbt, als »the narrative hinge, the knowing voice, the observer rather than the participant«.(76)
Der Plot von RAW DEAL ist schnell erzählt: Pat teilt ihrem Geliebten Joe (Dennis O’Keefe), der im Gefängnis sitzt, den Zeitpunkt des für ihn geplanten Ausbruchs mit: Noch am selben Abend soll es sein. Der Ausbruch gelingt, Pat fährt das Fluchtauto, die beiden wollen in drei Tagen in San Francisco sein und zuvor einen früheren Komplizen treffen, der Joes Beuteanteil aus einem gemeinsamen Überfall verwahrt. Die tausend Meilen nach San Francisco halten Hindernisse bereit; rasch schon sitzt eine zweite Frau im Auto, die Anwaltsgehilfin Ann (Marsha Hunt), die stets ein ungewöhnliches Interesse für Joe, ihren Klienten, zeigte. Die Attraktion zwischen den beiden erweist sich als das Zentrum des Films, und am Ende muss Joe die Frau aus der Gewalt seines vermeintlichen Kumpanen retten. Joe findet dabei den Tod.
»[A] bleak, woeful, fiercely beautiful cry of film noir despair« sei RAW DEAL, meint Max Alvarez; »a manifestation of bleak destiny«, schreibt Robert Smith.(77) In keinem Film zuvor war Anthony Mann so sehr an jener Macht interessiert, die den freien Willen verhöhnt und die man göttlich, teuflisch oder schicksalhaft nennen mag. Was Paul Schrader als »perhaps the overriding noir theme« hervorhebt, trifft auf Joe voll zu: »a passion for the past and present, but also a fear of the future. The noir hero dreads to look ahead, but instead tries to survive by the day, and if unsuccessful at that, he retreats to the past.«(78) Joes Bestimmung, offenbar: auf dem Bürgersteig der Corkscrew Alley zu sterben, jener zwielichtigen Straße in San Francisco, in der er aufgewachsen ist. Man weiß nicht recht, ob dies für Joe nicht sogar ein Happy End bedeutet. Pats Voice-over spricht zum Schluss: »Here’s my Joe in her arms. A kind of – happiness on his face. In my heart I know that this is right for Joe. This is what he wanted.«
Der Blick auf die Welt in RAW DEAL ist ungeschönt und pessimistisch. Joes Hoffnung auf die Freiheit da draußen – endlich wieder atmen möchte er, frische, freie Luft, sagt er zu Beginn im Gefängnis zu Pat – hat sich als schal erwiesen: »Der Ausbruch aus dem Gefängnis ist der Beginn einer Hetzjagd in den Tod« (Hannes Böhringer).(79) So wird RAW DEAL zum Poem über die Freiheit, besser: über die Chimäre der Freiheit; denn es ist nichts von Substanz, was Joe sich ersehnt, und offenbar auch nichts von Dauer, wenn es so anstandslos eingetauscht werden kann gegen die letzte Umarmung einer Frau. Nicht einmal schön und erhaben präsentiert sich die Freiheit in RAW DEAL: Der Moment, in dem Joe und Pat einem autarken Leben am nächsten sind, zeigt sie in einer engen, schäbigen, düsteren Schiffskabine, die ihre Körper zu erdrücken scheint.

Zur herben Poesie von RAW DEAL, die im Tonfall weniger zu Schiller und Rilke tendiert denn zu Hemingway und Brecht, trägt die Kameraarbeit von John Alton entscheidend bei. RAW DEAL war die zweite Zusammenarbeit zwischen Alton und Mann nach T-MEN im Jahr zuvor. Jede Einstellung in RAW DEAL enthält einen besonderen Touch, zeugt von besonderer Sorgfalt, einem besonderen Blick auf die Figuren und Dinge. Einige Einstellungen stechen heraus: Pat in der Schiffskabine, ihr Gesicht im Profil scharf neben eine Wanduhr gesetzt, die die Zeit herunterzählt: die Minuten, die bleiben, um Ann zu retten; die Sekunden, die Pat mit Joe noch hat. Oder die Szene, in der Joe das Zimmer der schlafenden Ann durchs Fenster betritt: durch die halbtransparenten Vorhänge sich drängend, dann als Silhouette gegen das helle Rechteck gestellt, groß und mächtig und bedrohlich. John Alton hat sein Sachbuch über die Hollywood’sche Kunst der Ausleuchtung und Kameraführung „Painting With Light“ genannt. Wer Altons Gemälde sucht, findet sie in Bildern wie diesen, wie Tableaus zwischen das Bewegtbild gestellt.
Mit Alton wurde Manns Regie präziser. Die angedeuteten Schatten von Gitterstäben reichen aus, um als Unterlegung der Titel alles bereits zu sagen. Ein Funkeln im Auge einer Frau (eine Träne? ein freudiger Glanz?) genügt, um eine Großaufnahme zu verzaubern. Die Konzentration auf den Moment, auf das Detail, das Vertrauen in die kleine Geste begann für Mann mit RAW DEAL.

Das wiederkehrende bildliche Motiv, die zentrale visuelle Methode sind in RAW DEAL die Gitter, Netze und Drähte, die künstlich Distanz schaffen, Räume durchtrennen, Nähe verhindern. Sogar der Himmel, dem die Kamera einmal für einen kurzen Moment ihre ganze Aufmerksamkeit schenkt, ist kreuz und quer zerschnitten von den schwarzen, feinen Linien der Stromleitungen. Pats Spitzenschleier wiederholt das Muster, das die Gefängnisgitter zuvor auf Joes Gesicht gezeichnet hatten, und steht zwischen den beiden auch im letzten Augenblick, den sie miteinander haben. Verschleiert: So sind alle Blicke in RAW DEAL, diejenigen, die die Figuren untereinander wechseln, und die, die Mann von außen auf die Geschehnisse wirft. Durch die Position der Kamera und die Wahl des Bildausschnitts kommentiert Anthony Mann die Beziehungen zwischen den Figuren, macht Sehnsüchte und Ängste sichtbar, deutet voraus.

Was Norbert Grob zur Nacht-Ästhetik des Films noirs im Allgemeinen schreibt, gilt für RAW DEAL besonders: »Die nächtlichen Bilder sind überdeutlich gezeichnet, also betont künstlich belassen, als pure Fantasien.«(80) In den nächtlichen Bildern von RAW DEAL ist viel Fantastisches, viel Träumerisches und Erträumtes zu erkennen. Joe und Ann im Wald, bei Mondlicht, mit Blättermustern überdeckt: ein Sehnsuchtstraum. Ein Reiter in der Ferne, als Silhouette gegen die Dämmerung fotografiert: eine Einbildung vielleicht (und das erste Western-Bild in einem Mann’schen Film). Joe in der Konfrontation mit einer Übermacht an einer Straßenecke, von einem Lichtkegel unerbittlich aus der Dunkelheit gehoben: ein Alpdruck. Es liege etwas Onirisches in diesen nächtlichen Bildern, schreibt Arlette Mille, in dieser »paradiesisch erscheinenden Helligkeit, die mit den Schatten zuvor kontrastiert und mit dem Nebel, der San Francisco umhüllt«.(81)

»Lights out«, heißt es auf einem Schild am Gefängnistor in der allerersten Einstellung des Films, und das ist programmatisch gemeint. Zur Rolle des Lichts im Film noir hat Paul Schrader geschrieben: »One always has the suspicion that if the lights were all suddenly flipped on the characters would shriek and shrink from the scene like Count Dracula at sunrise.«(82) Die Furcht vor dem Licht ist in RAW DEAL tatsächlich inszeniert. Als Pat vor dem Gefängnis auf Joes Ausbruch wartet, rauscht ein Auto ihr entgegen, die Scheinwerfer gleißend hell. Wie eine Attacke auf Pats Person ist das inszeniert.
RAW DEAL ist ein Film, der wie DESPERATE und T-MEN zuvor (und praktisch alle Mann’schen Filme danach) das Physische betont. Ein Dreikampf zwischen Joe und zwei Gegenspielern in der Werkstatt eines Tierpräparators ist hart geführt und harsch gefilmt. In seiner Dauer und Unerbittlichkeit ist der Kampf mit jenen vergleichbar, die Mann in seinen Western später inszenierte. Joe und seine Gegner taumeln von einer Ecke des Raums in die andere, Werkzeuge werden zu Waffen, die Enden eines Hirschgeweihs zur Gefahr fürs Augenlicht. Das Ringen in RAW DEAL wirkt dynamischer, dabei ebenso intensiv und körperlich beklemmend wie 1950 in DEVILS’S DOORWAY (im Saloon – siehe auch Max Annas große Besprechung bei uns) oder 1958 in MAN OF THE WEST (auf freiem Feld).
Mit RAW DEAL hatte die Production Code Administration erhebliche Probleme. Die ihm vorliegende Drehbuchfassung sei, schrieb Joseph I. Breen Sr., »completely and utterly unacceptable under the provisions of the Production Code, and a motion picture developed from this screenplay could not be approved by us. The unacceptability of this story stems from its overall low moral tone. It is a sordid story of crime, immorality, brutality, gruesomeness, illicit sex and sex perversion, without the slightest suggestion of any compensating moral values whatsoever.«(83)
Damit ist RAW DEAL sehr gut auf den Punkt gebracht.
Auszug mit freundlicher Genehmigung von Autorin und Verlag aus:
- Ines Bayer: Anthony Mann. Kino der Verwundung. Band 30 der Reihe „Deep Focus“. Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2019. Viele Schwarzweißabbildungen in hervorragender Qualität sowie 16 Farbseiten. 304 Seiten, 36 Euro. – CrimeMag-Besprechung von Alf Mayer hier.
Anmerkungen:
27 Vgl. Basinger 2007, S. 61.
28 Grob 2008a, S. 22f.
29 Ebd., S. 21.
30 Smith 1976, S. 20.
31 Vgl. Housman 1922 (zuerst 1896).
32 Sarris 1999, S. 141.
xxxx
71 Miller 1978, S. 28.
72 Grob 2008a, S. 31.
73 Renov 1984, S. 20.
74 Schifferle 2008, S. 140.
75 Renov 1984, S. 20.
77 Alvarez 2014, S. 122; Smith 1976, S. 10.
78 Schrader 1972, S. 11.
79 Böhringer 1998, S. 107.
80 Grob 2008a, S. 30.
81 Mille 1989, S. 50 (Orig.: »cette sensation de luminosité paradisiaque contrastant […] avec les ombres qui les ont précédées ou les brumes qui enveloppent San Francisco dans la dernière séquence, imprégnée d’un authentique onirisme«).
82 Schrader 1972, S. 11.
83 Joseph I. Breen, Brief an David Stephenson (Eagle-LionFilms) vom 10.11.1947. USC, Cinematic Arts Library,Edward Small Collection, RAW DEAL, Box 9.
Literatur:
Alvarez, Max: The Crime Films of Anthony Mann. Jackson 2014.
Basinger, Jeanine: Anthony Mann. New and Expanded Edition. Middletown 2007.
Böhringer, Hannes: Auf dem Rücken Amerikas. Eine Mythologie der neuen Welt im Western und Gangsterfilm. Berlin 1998.
Grob, Norbert (Hg.): Filmgenres – Film noir. Stuttgart 2008 [= Grob 2008a].
Housman, Alfred Edward: A Shropshire Lad. London 1922 [zuerst erschienen 1896].
Mille, Arlette: Noir lyrisme. Les films policiers d’Anthony Mann. In: Positif, Nr. 341-342 (1989), S. 49-50.
Miller, Don: Eagle-Lion. The Violent Years. In: Focus on Film, Nr. 31 (November 1978), S. 27-38
Renov, Michael: Raw Deal. The Woman in the Text. In: Wide Angle, Nr. 6/2 (1984), S. 18-22.
Sarris, Andrew: Beatitudes of B Pictures. In: Adair 1999, S.139-145
Schifferle, Hans: Flucht ohne Ausweg / Raw Deal. In: Grob 2008a, S. 138-142.
Schrader, Paul: Notes on Film Noir. In: Film Comment, Nr. 1 (Frühjahr 1972), S. 8-13.
Smith, Robert E.: Mann in the Dark. The Films Noirs of Anthony Mann. In: Bright Lights, Nr. 2/1 (Herbst 1976), S. 8-14 und S. 30.