
Ich habe dieses Mal sehr früh mit dem Schreiben meiner monatlichen CulturMag-Kolumne angefangen, weil ich den ganzen Oktober in Hamburg und Minden mit Proben für das Theaterstück „SCHTONK!“ beschäftigt war. Sieben Tage die Woche – unbezahlt, da erst die Vorstellungen bezahlt gewesen wären. Die Vorstellungen einer Tournee, die vom 25.10. bis Weihnachten gedauert hätte.

Ich habe nachts in meinen Hotelzimmern an dem Text meiner CulturMag-Kolumne gearbeitet und habe ihn auch tatsächlich zu Ende geschrieben. Aber inzwischen ist so viel passiert, dass ich ihn nicht einfach so stehenlassen kann:
Ich hatte großes Glück mit dem Ensemble und dem Team der Produktion. Die Stimmung bei den Proben war so gut, wie das unter den gegebenen Umständen möglich war, und wir alle waren froh und dankbar, endlich wieder Theater machen zu dürfen. Trotzdem war die Anspannung aller Beteiligten spürbar, die Unsicherheit, die dabei entsteht, auf eine Premiere hinzuarbeiten, von der niemand sagen kann, ob sie stattfinden wird. Viel Zeit und Energie musste bei den Proben darauf verwendet werden, die Inszenierung „Corona-kompatibel“ zu gestalten. Und auch hinter der Bühne haben sich alle diszipliniert an die Abstands- und Hygieneregeln gehalten. In einem Beruf, der so körperlich ist wie der unsere, eine schwierige Aufgabe.
Bei den Endproben in Minden habe ich dann mitbekommen, wie viel Aufwand und Sorgfalt das dortige Stadttheater darauf verwendet, ein einwandfreies Hygienekonzept zu bieten. Die Premiere fand vor rund 100 Zuschauern statt – alle mit Mundschutz, auch auf den Plätzen – in dem großen Zuschauerraum musste man richtig nach ihnen suchen, so weit verstreut saßen sie da. Aber der Applaus am Schluss dauerte minutenlang und schien nicht von 200, sondern von 2000 Händen zu kommen.

An dieser Premiere und der anschliessend geplanten Tournee waren selbstverständlich nicht nur wir Schauspieler, der Regisseur, seine Assistentin und eine Dramaturgin beteiligt. Schon lange vor der ersten Probe hat eine Kostümbildnerin Kostüme entworfen und genäht, ein Bühnenbildner hat sich ein Bühnenbild ausgedacht, das für viel Geld in einer Werkstatt von dafür ausgebildeten Menschen gebaut wurde. Es gibt Requisiteure, Maskenbildnerinnen, Ankleiderinnen, Inspizienten, LKW-Fahrer, die das ganze Zeug von Ort zu Ort karren, Bühnenarbeiter, die es aufbauen, Disponenten, die dafür sorgen, dass die ganze Logistik klappt, Menschen, die Hotelzimmer, Flüge und Züge buchen, Tour-Busfahrer, Reiseleiter, Licht- und Tontechniker und viele mehr. Die meisten von ihnen haben eine Familie zu ernähren, und wir alle haben eine Steuernummer und tun unseren Job im besten Fall gern, aber auf jeden Fall, um davon zu leben.

Zwei Tage nach der Premiere sitze ich im völlig überfüllten ICE nach Berlin (so dicht hätte man die Leute im Zuschauerraum nicht einmal setzen können, wenn es voll besetzt gewesen wäre). Jetzt ist klar: kein Theater im November. Ob es im Dezember weitergeht, weiß noch niemand.
Ich habe schon im Sommer vier Monate Festanstellung und drei Inszenierungen durch die Maßnahmen verloren – die einzige Möglichkeit einer finanziellen Unterstützung vonseiten des Staates wäre Hartz 4 gewesen. Aber damals bin ich noch nicht in ein Loch gefallen. Der Gedanke: „Da müssen wir jetzt durch, und zwar gemeinsam!“, war größer. Ich fand die Maßnahmen der Regierung richtig und um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, ich stehe immer noch hinter den Abstands- und Hygieneregeln, auch hinter der Mundschutz-Pflicht. Aber inzwischen weiß man mehr als im Frühling, und dass dieses Wissen nicht angewendet wird, um differenzierte Entscheidungen zu treffen, sondern politischer Aktionismus auf Kosten von Branchen ohne Lobby betrieben wird, macht mich wütend und hilflos. Die Veranstaltungsbranche hat in den letzten Monaten weder Kosten noch Mühen gescheut, vorbildliche Hygienekonzepte zu realisieren. Die Kulturschaffenden (abgesehen von einigen verstrahlten G-Promis) haben immer und immer wieder für Solidarität und verantwortungsvolles Verhalten, letztlich also für die Maßnahmen der Regierung geworben. Und das, obwohl gerade sie diese Maßnahmen besonders hart treffen.
Auf der Großdemonstration der Veranstaltungswirtschaft vom 28.10. in Berlin war Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier ein Rede-Slot eingeräumt. Er hat es noch nicht einmal für nötig empfunden, abzusagen. Der WIRTSCHAFTS-Minister bei der Veranstaltung eines der größten Wirtschaftszweige des Landes. Mit 1,5 Millionen Beschäftigten und 130 Milliarden (!!!) jährlichem Umsatz. Aber was will man von einem Mann erwarten, der von Künstlern abwertend als „jemand, der zu Hause in seinem Kleiderschrank seine Trompete aufbewahrt“ spricht und eine Unterstützung dieser Menschen unnötig findet.
Unfreiwillig trifft Herr Altmaier sogar den Kern der Sache: Wir, die freischaffenden Künstler mit der Trompete im Kleiderschrank, können uns eben schlicht kein Büro für unsere Trompete leisten, weil wir schon immer mehr oder weniger von der Hand in den Mund leben. Es geht auch den meisten von uns tatsächlich nicht ums Kohle machen (wobei: warum soll daran eigentlich ausgerechnet in unserer Branche etwas Verwerfliches sein?) Aber: Es ist verlogen, uns das jetzt vorzuwerfen. Zur Kunst gehören eben nicht nur die Künstler, sondern auch die Rezipienten. Und keine, auch nicht die kultivierteste Gesellschaft, ist so uneigennützig, etwas zu finanzieren, das nur der Selbstverwirklichung von Trompetenspielern dient. Die meisten von uns wurden, finanziert vom Staat und damit von Euren Steuergeldern, ausgebildet. Warum? Um uns unser Hobby zu finanzieren? Ich lebe seit über 20 Jahren davon, dass Menschen Eintrittskarten für meine Stücke und Filme kaufen, sich meine Stimme anhören. Warum? Weil sie Mitleid mit mir haben?
Die meisten von uns wollen gar kein Büro für ihre Trompete. Aber wenn ein Büro die Voraussetzung dafür ist, von unserem Beruf leben zu können, bezahlt uns so, dass wir uns ein Büro leisten können!
Darüber, warum die rigorose Schließung von Theatern, Kinos usw. nicht nur unfair, sondern auch nicht zielführend ist, wurde in den letzten Tagen viel Kluges geschrieben und gesagt. Stellvertretend für viele andere Stimmen möchte ich die klaren Worte des Musikers Till Brönner empfehlen:
Ich bin zum ersten Mal seit Beginn der Pandemie sprachlos und zu erschöpft für geistreiche Worte. Das hat einerseits mit meinem kleinen persönlichen Schicksal zu tun, mit dem Schock der abgesagten Tour, mit der Angst vor meiner beruflichen und finanziellen Zukunft, mit der Hilflosigkeit und Traurigkeit, nichts beitragen zu können, da ich ja nicht auftreten darf.
Noch mehr Angst macht mir jedoch der Geist, besser gesagt der Ungeist, der hinter alldem steht. Aber eben: Ich bin zu müde, das auszuformulieren. Zu müde, zu flatterig im Kopf, zu verunsichert und zu fragmentiert, zu unkonzentriert, zu unkreativ. Es stimmt nämlich ganz einfach nicht, dass Existenzängste kreativ machen. Fuck you, Spitzweg mit deinem bescheuerten armen Poeten! Fuck you! Ich weiß wenig, was unkreativer und unfreier im Denken macht. Wenn zu den Existenzängsten dann noch das Gefühl kommt, man sei nicht nur nicht systemrelevant, sondern in der Gesellschaft, in der man lebt eigentlich unerwünscht, wird es nicht besser.
Das einzige, was ich noch sagen möchte, ist an meine Künstlerkolleg*innen gerichtet: Bitte lasst uns aus dem, was wir die letzten Monate gelernt haben, etwas machen! Sprich: Bitte lasst uns nicht wieder panisch irgendwas aus unseren Wohnzimmern streamen! Machen wir den Slogan „Ohne Kunst und Kultur wird’s still“ erlebbar! Ich verstehe jeden, der mit digitalen Angeboten Geld verdienen kann, aber lasst uns zumindest die kostenlosen Angebote, Lesungen, Konzerte … aus dem Netz nehmen. Lasst uns unsere Energie darauf verwenden, uns untereinander zu vernetzen, zu unterstützen, uns gemeinsam Gedanken darüber zu machen, wie auch wir zu einer starken Lobby und einer unüberhörbaren Stimme kommen!
Amen.

Iris Boss lebt und arbeitet in Berlin. Dort studierte sie Schauspiel und verließ die Universität der Künste mit einem Diplom mit Auszeichnung. 2001 und 2002 wurde sie mit einem Stipendium für Schauspielnachwuchs der Ernst Göhner Stiftung ausgezeichnet. Seitdem ist sie auf allen Feldern des Schauspielerberufs tätig. Neben der Arbeit auf der Bühne ( u.a. Volksbühne Berlin, Junges Theater Göttingen, Konzertdirektion Landgraf), steht sie für Film- und Fernsehproduktionen vor der Kamera, ist in Hörspielen ( u.a. RBB ) zu hören, tritt mit Lesungen auf und arbeitet als Moderatorin und Synchronsprecherin. In ihrem Blog „bossbloggt“ schreibt sie über ihre Beobachtungen und Gedanken auf langen Theatertourneen durch die deutschsprachige Provinz und in ihrem Berliner Alltag.
Iris Boss bei CulturMag.